§ 59 Grundlagen der Rechtsquellenlehre

Literatur: Dirk Ehlers/Hermann Pünder, Rechtsquellen und Rechtsnormen der Verwaltung, in: dies., AllgVwR, 16. Aufl. 2022, § 2; Markus Kaltenborn, Gibt es einen numerus clausus der Rechtsquellen?, RTh 34, 2003, 459-486; Niklas Luhmann, Die juristische Rechtsquellenlehre aus soziologischer Sicht, FS René König 1973, 387-399; ders., RdG S. 523 ff; Fritz Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, HStR V, § 100; Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929; Matthias Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, GVwR I, § 7.

I.        Von der Rechtsgeltung zur Rechtsquelle

Hinter dem Begriff der Rechtsquelle schimmert die Metapher durch und verleitet dazu, eine bunte Quellenlandschaft anzunehmen. Alf Ross hat es in seiner klassischen Monografie von 1929 unternommen, diese Gemengelage zu klären, indem er zwischen dem faktischen, dem juristischen und dem ethischen Problem der Rechtsgeltung unterschied (S. 290 ff.). Damit hat er im Ergebnis den Begriff der Rechtsquelle durch den Geltungsbegriff ersetzt. Luhmann hilft einmal wieder mit einer schönen Formulierung (RdG S. 524):

»Der Begriff der Rechtsquelle erlaubt eine einfache Identifikation des geltenden Rechts und erspart jede weitere Frage nach der Natur des Rechts, dem Wesen des Rechts oder auch den Kriterien der Abgrenzung von Recht und Sitte, Recht und Moral.«

So ist es heute. Aber es lag einmal genau andersherum. Der Begriff der Rechtsquelle diente zur Qualifizierung von Normen als Recht nach ihrer »Natur« oder ihrem »Wesen«. Nun ist klargestellt, dass die Geltung einer Norm als Recht nicht von ihrer faktischen Geltung abhängt, auch nicht von Tradition, Gewohnheit oder Autoritäten und ebenso nicht von ihrer ethisch-moralischen Rechtfertigung. Damit ist die Qualifizierungsfunktion des Rechtsquellenbegriffs auf den Begriff der Rechtsgeltung übergegangen. Es kommt nur noch darauf an, ob und wie eine Norm sich in den Säulenbau des Rechts einfügt. Insofern ist der Rechtsquellenbegriff streng genommen überflüssig. Dennoch halten wir an ihm fest. Er bleibt hilfreich, wenn und soweit er, im Gegensatz zur abstrakten Geltungstheorie, konkret die Suche nach den verbindlichen Grundlagen gerichtlichen Entscheidens bezeichnet. Dabei fällt ins Gewicht, dass der Rechtsquellenbegriff auch international (source of law, source du droit) üblich ist.

Die maßgebliche Geltungstheorie begründet die Geltung der Normen gerade des Rechtssystems, für das die Rechtsquellenlehre maßgeblich sein soll. Diesen Anforderungen genügen praktisch nur Kelsens Theorie der Grundnorm und Harts Anerkennungslehre (o. § 61 VII XXX). Wir bevorzugen die Grundnormtheorie, mit der das Recht zu einem System gebündelt und, so vorhanden, die Verfassung zum Ausgangspunkt des geltenden Rechts wird. Für die für deutsche Gerichte maßgebliche Rechtsquellenlehre orientieren wir uns somit an dem monistisch-etatistischen Rechtsbegriff und an der Vorstellung einer Ordnung der Rechtsquellen in einem hierarchischen Stufenbau.

An diesem Grundpfeiler der Rechtsquellenlehre wird heftig gerüttelt. Es geht insbesondere darum, ob die Rechtsquellenlehre monistisch oder pluralistisch konzipiert werden soll, ob sie noch etatistisch verankert werden darf oder ob sie sich global orientieren muss, ob sie vertikal am Stufenbau der Rechtsordnung oder horizontal im Sinne von Heterarchie und Interlegalität auszurichten ist. Diese Kritik richtet sich in erster Linie gegen die Stufenbaulehre als Prämisse der Rechtsquellenlehre. Insoweit kann hier auf § 56 IV u. V XXX verwiesen werden.

II. Aufgabe der Rechtsquellenlehre

Die Rechtsquellenlehre gibt an, wonach Gerichte ihre Entscheidungen ausrichten sollen, sie identifiziert das für Bürger, Behörden und Gerichte maßgebliche Recht. Dieser Rechtsquellenbegriff ist zunächst formal. Das heißt, die Rechtsquelleneigenschaft leitet sich aus dem Geltungsschema des Stufen- bzw. Säulenbaus ab. Die Ableitung erschöpft sich jedoch nicht in (logischer)Deduktion, sondern verlangt an vielen Stellen nach einer Konkretisierung. Die Konkretisierung ist zunächst im Rahmen ihrer Kompetenzen Sache der verschiedenen Gesetzgeber. Die Probleme der Rechtsquellenlehre heute ergeben sich aus der Fülle des Normmaterials, also der Texte, die Normgestalt besitzen, sich aber nicht wie Parlamentsgesetze oder unionale Gesetzgebungsakte aufgrund ihrer Form als Rechtsquellen im engeren Sinne einordnen lassen. Die Rechtsquellenlehre muss aus diesem Überangebot diejenigen Regeln herausfiltern, die prima facie verbindlich sind, und die Bedeutung anderer bestimmen, deren Bindungswirkung beschränkt oder zweifelhaft ist.

Beispiel: Das StGB, neugefasst durch Bek. v. 13. 11. 1998, zuletzt geändert durch Art. 1 G v. 30. 3. 2021, ist ohne weiteres verbindlich, die Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507 dagegen ebenso eindeutig unverbindlich. Äußerungen von Ausschüssen für die Abgabe von Stellungnahmen zu UN-Menschenrechtsabkommen sind keine verbindlichen Normen, haben aber für die Auslegung deutscher Gesetze »erhebliches Gewicht« (BVerfGE 142, 313 Rn. 90f – medizinische Zwangsbehandlung Betreuter).

III.  Kategorien der Rechtsquellen

Zu den Rechtsquellen im engeren Sinne, das heißt zu solchen, die ohne weiteres verbindlich sind, gehören fraglos solche, die allein auf Grund ihrer Form gelten. Hierzu zählen – für deutsche Gerichte – die Verfassung und Parlamentsgesetze, die Gründungsverträge und die »Gesetzgebungsakte« (Art. 289 III AEUV) der Europäischen Union sowie das Völkerrecht nach Maßgabe der Art. 25, 59 II GG und Art. 216 II AEUV. Hinzu treten untergesetzliche Rechtsnormen wie Verordnungen und Satzungen oder delegierte und Durchführungsrechtsakte der Europäischen Union (Art. 290 f. AEUV). Diese Rechtsquellen sind sozusagen die Muss-Normen; sie sind von den Gerichten ohne weiteres ihrer Entscheidung zugrunde zu legen.

Art. 38 I IGH-Statut unterscheidet zwischen Rechtsquellen i. e. S. und bloßen »Hilfsmitteln« der Rechts­erkenntnis. Als Rechtsquellen i. e. S. werden internationale Übereinkünfte, das internationale Gewohnheitsrecht und die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze genannt, als »Hilfsmittel« hingegen »richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen«.

Gewohnheitsrecht, Richterrecht und Juristenrecht bilden klassische Problemfälle der Rechtsquellenlehre. Über die praktische Behandlung dieser unterschiedlichen Rechtsquellenarten bestehen wenige Differenzen, über ihre theoretische Einordnung wird jedoch immer noch und immer wieder mit den immer gleichen Argumenten gestritten. Von diesen drei Erscheinungen wird nach wie vor nur das Gewohnheitsrecht theoretisch als Rechtsquelle i.e.S. angesehen, jedoch mit dem Zusatz, dass es jenseits des Völkerrechts praktisch keine Rolle mehr spielt, es sei denn in der Gestalt von Richterrecht.

Immerhin hat der BGH noch kürzlich wiederholt, Gewohnheitsrecht stehe als Rechtsquelle gleichwertig neben dem Gesetzesrecht, so dass es auch Grundlage einer registerrechtlichen Eintragung sein könne (B vom 4. 4. 2017, II ZB 10/16, Rn. 22). Dabei ging es um die Eintragung des Doktortitels in das Partnerschaftsregister.

Daneben existiert anderes Normmaterial, das in einem unübersichtlichen Verhältnis zu den Rechtsquellen i. e. S. steht: Normen, die als plurales Recht angeboten werden, ausländisches Recht, technische Normen, Handelsbräuche usw. Sie sind »eigentlich« nicht verbindlich, obgleich sie in einem juristischen Kontext stehen und in gleicher Weise wie die Rechtsquellen i.e.S. Sollensnormen formulieren. Dieses Normmaterial bietet lediglich Soll- und Kann-Normen; es verlangt nach einer wertenden Entscheidung des Gerichts über seine Integration in das Bindungsprogramm. Die Wirkung reicht von einer strikten Bindung oder einer Vermutungswirkung bis zu einer Bedeutung als bloßes Argument. Dabei gibt es eine gewisse Präferenz für solches Normmaterial, das aus offizieller Quelle stammt wie Präjudizien und Verwaltungsvorschriften oder das rechtlich gefördert oder gar gefordert wird wie z. B. der Deutsche Corporate Governance Kodex. Die Einbeziehung dieses Normmaterials erfolgt in der Regel über eine (dynamische) Ermächtigung zur Rechtssetzung, wie sie von den delegierten klassischen Rechtsnormen bekannt ist, oder durch einen (statischen) Verweis. Beides kann explizit oder implizit erfolgen. Als implizite Verweise lassen sich insbesondere offene Rechtsbegriffe verstehen.

Der metaphorische Gehalt des Begriffs verleitet dazu, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entstehungsgründe von Rechtsnormen als »Rechtsquellen« zu bedenken. In den Vorauflagen haben wir deshalb zwischen Rechtsquellen i.e.S. und genetischen oder soziologischen Rechtsquellen unterschieden. Letztere haben wir auch Rechtserzeugungsquellen oder Rechtsinhaltsquellen genannt. Die Unterscheidung trifft ein Sachproblem, führt aber juristisch nicht weiter.

IV.   Rechtsquellenlehre, Kollisionslehre und Methodenlehre

Aus dem normativen Universum – diesen Ausdruck, jedoch ohne seinen rechtspluralistischen Hintergrund, entleihen wir von Robert M. Cover – haben die Gerichte für das System, dem sie angehören, die maßgeblichen Rechtsnormen zusammenzustellen. Das in Betracht kommende Normmaterial befindet sich in einem weithin unsystematischen Zustand. Aus Verweisungen, Öffnungsklauseln und anderen Rezeptionsphänomenen ergibt sich eine Aufgabe, die man als management of rules kennzeichnen könnte. Die Rechtsquellenlehre bietet hierzu allerdings nur den Einstieg. Sie verlangt eine Fortsetzung in einer Kollisionslehre, die das Verhältnis verschiedener Normen zueinander klärt,

Welche Bedeutung hat ein später erlassenes Gesetz, das einem früheren völkerrechtlichen Vertrag widerspricht (BVerfGE 141, 1 – Treaty override auf der einen, EuGH Slg. 1963, 1 – van Gend & Loos auf der anderen Seite)?

und schließlich in der Methodenlehre, die sich mit der Auslegung der herangezogenen Vorschriften befasst.

Sind besitzlose Schiffspfandrechte nach venezolanischem Recht (»prendas navales«) wirksam bestellt (BGH NJW 1991, 1448)? Wie ist eine Regel des Gesellschaftsrechts von Delaware auszulegen, die über das IPR zur Anwendung berufen wird?

Eine besondere Herausforderung stellt hierbei die Aufgabe dar, Recht und Normmaterial anzuwenden, das seine Entstehung nicht der unionalen bzw. staatlichen Rechtsgemeinschaft verdankt.

Rechtsquellen-, Kollisions- und Methodenlehre sind eng miteinander verbunden: Welche Normen als Rechtsnormen verbindlich sind, lässt sich oft nur durch Auslegung, insbesondere der Verfassung, bestimmen. Ob der Grundsatz der lex specialis oder der lex posterior Anwendung findet, ist Interpretationsfrage, gleichermaßen kann eine grundrechts‑, unionsrechts- oder völkerrechtskonforme Auslegung eine Kollision vermeiden helfen. Eine Interpretation der (staatlichen) Rechtsnorm kann Spielräume ergeben, die mit per se unverbindlichen Normen gefüllt werden können.

In der Görgülü-Entscheidung (BVerfGE 111, 307) ging es um die Frage, ob die Bestimmungen der EMRK in der Auslegung durch den EGMR für die Interpretation des Grundgesetzes berücksichtigt werden können. Dafür kam es zunächst darauf an, ob die EMRK für das Gericht die Qualität einer Rechtsquelle hat (S. 316: als völkerrechtlicher Vertrag in das deutsche Recht im Range des Bundesgesetzes »transformiert«); dann auf die Frage, in welchem Verhältnis die EMRK zu dem vom BVerfG zu prüfenden Grundrecht steht (S. 323f: als einfaches Bundesrecht geht es dem Verfassungsrecht nicht vor und ist nicht unmittelbar anwendbar, sondern nur im Rahmen »methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung« zu berücksichtigen). Also musste gefragt werden, wie (für das BVerfG) das einschlägige Grundrecht bzw. (für die ordentlichen Gerichte) das einfache Gesetzesrecht auszulegen ist (S. 328f).

Trotz dieser engen Verknüpfung behandeln wir diese Fragen getrennt, in diesem Kapitel zunächst die Rechtsquellenlehre als Anleitung für die Ermittlung des geltenden Rechts, bevor wir in Kapitel 11 die Kollisionslehre erörtern. Auslegungsfragen schließen sich in Kapitel 15 an. Erst diese drei Kapitel zusammen beschreiben das »Bindungsprogramm« für Bürger, Gerichte und Verwaltungen (Begriff von Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 2/18 f., S. 55).

Für die Zusammenstellung dieses Bindungsprogramms fehlt es allerdings an einer »Kohärenzdogmatik« (Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, GVwR I, § 5/59b). Gemeint sind materielle Regeln, nach denen sich entscheidet, wann von welchem Instrument mit welcher Zielrichtung Gebrauch zu machen wäre. In dem »normativen Universum« fehlt ein Ort, an den eine solche Dogmatik anknüpfen könnte. Kohärenz lässt sich nur durch die Kommunikation unterschiedlicher Entscheidungsinstanzen herstellen. Die Allgemeine Rechtslehre will zur Herstellung der hierzu notwendigen Kommunikationsfähigkeit beitragen, indem sie Konzepte klarlegt und so Übersetzungsleistungen ermöglicht.

V.      Relativität der Rechtsquellenlehre

Alle Rechtsquellenlehren stehen vor ähnlichen Problemen. Sie müssen vergleichbare Elemente verarbeiten und deren Verhältnis zueinander klären: Staatliche Gesetze und internationale Rechtsregeln, juristische Lehrmeinungen, naturrechtliche Forderungen, richterliche Präjudizien, autonome Satzungen, administrative, technische und soziale Normen (Gewohnheitsrecht, Verkehrssitte, Handelsbrauch, Geschäftsbedingungen, betriebliche Übung und gesellschaftliche Erwartungen).

Es gibt jedoch keinen universellen Rechtsbegriff, und daher gibt es auch keine universelle Rechtsquellenlehre. Jede Rechtsquellenlehre ist vielmehr relativ zu dem Rechtssystem, für das sie maßgeblich sein soll. Dieses Rechtssystem wiederum wird durch ein Gerichtssystem individualisiert. Daraus folgt: Jeder Staat und jedes staatsunabhängige oder übernationale Gerichtssystem verfügt über seine eigene Rechtsquellenlehre. Die in den folgenden Paragrafen entfaltete Rechtsquellenlehre ist eine solche (nur) für das Rechts- und Gerichtssystem in Deutschland in seiner Verbundstruktur aus deutschen und unionalen Gerichten.