§ 56 Rechtsgeltung

Literatur: Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl. 2005; Marietta Auer, Warum der Begriff der Rechtsgeltung nicht zur Bewältigung staatlichen Unrechts taugt, RW 2017, 45–64; Martin Drath, Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts, 1963; Andreas Engelmann, Rechtsgeltung als institutionelles Projekt, 2020; H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, deutsch: Der Begriff des Rechts, 1973; ders., Recht und Moral, 1971; Karl Larenz, Das Problem der Rechtsgeltung, 1929 (Nachdruck 1967), 256 ff.; Ulfrid Neumann, Theorien der Rechtsgeltung, in: Volkmar Gessner/Winfried Hassemer (Hg.), Gegenkultur und Recht, 1985, 21-41; Gerhard Otte, Kritik des juristischen Geltungsbegriffs, FS Gmür, 1983, 359; Joseph Raz, Legal Validity, ARSP 63, 1977, 339-353; Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929; Rupert Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, 1966; Hans Welzel, An den Grenzen des Rechts. Die Frage nach der Rechtsgeltung, 1966. Verwirrend und überflüssig: Stephan Meyer, Juristische Geltung als Verbindlichkeit, 2011 (Rez. von Walter Pauly, Der Staat 51, 2012, 156-158).

I.        Der Begriff der Rechtsgeltung

Die Frage nach der Geltung des Rechts ist vielschichtig. »Rechtsgeltung« kann auf ein gesamtes Rechtssystem bezogen werden oder lediglich auf einzelne Rechtsnormen. Das gilt auch für die gleich zu behandelnde Thematik der faktischen oder ethischen Geltung. Die »Theorien der Rechtsgeltung« adressieren in der Regel das Recht an sich oder ein gesamtes Normensystem. Die Bedingungen, nach denen sich die Geltung einer einzelnen Rechtsnorm innerhalb eines geltenden Rechtssystems richtet, beschreibt die Rechtsquellenlehre (u. Kap. 9). Eine Verbindung zwischen den abstrakten Geltungstheorien und der konkreten Rechtsquellenlehre schafft der Stufenbau des Rechts.

Eigene Erklärungen bestehen für die Geltung des Unionsrechts bzw. des Völkerrechts als solchen. Davon zu trennen ist die Begründung ihrer jeweiligen innerstaatlichen Geltung. Die europäische Perspektive beschreibt diese innerstaatliche Geltung als Frage der Geltung eines Rechtssystems insgesamt – mit der Folge des Vorrangs des Unionsrechts. Die mitgliedstaatliche Perspektive misst dem Unionsrecht in der Regel eine abgeleitete Geltung zu, behandelt die Geltung des Unionsrechts also als Frage der Geltung einzelner Normen – mit der Folge, das so abgeleitete Recht an speziellen Vorbehalten der Verfassung messen zu können.

II.     Juristische, faktische und ethische Geltung einer Rechtsnorm

Zurückgehend auf Alf Ross (S. 290ff.) werden die juristische, faktische und ethische Geltung einer Rechtsnorm unterschieden; Radbruch (Grundzüge, 1914, S. 159) trennte zwischen rechtswissenschaftlicher, rechtssoziologischer und rechtsphilosophischer Behandlung. Man kann der Auffassung sein, dass »der Begriff der rechtlichen Geltung … Elemente der sozialen und der moralischen Geltung einschließt« (Alexy, Begriff, S. 142 f.). Wir ziehen im Ausgangspunkt eine Trennung der Begriffe vor.

Geltung im juristischen Sinne bedeutet, dass eine Norm innerhalb eines Rechtssystems von Bürgern, Behörden und Gerichten zu beachten ist. Das ist gleichbedeutend mit der Qualität einer Norm als Rechtsquelle. Diese Eigenschaft ist relativ, d.h., sie ist immer auf ein bestimmtes Rechtssystem bezogen.

Der Ausdruck »juristische Geltung« gefällt uns sprachlich nicht. Wir sprechen lieber von der rechtlichen Geltung einer Norm oder von der Rechtsgeltung. Aber wegen der Mehrdeutigkeit von »Recht« müssen wir in manchen Zusammenhängen auf den ungeliebten Ausdruck zurückgreifen.

Die juristische Geltung kennt keine Ausnahme: Eine Norm gilt entweder oder sie gilt nicht. Es ist eine Binsenweisheit, dass ein geltendes Gesetz nicht immer befolgt wird. Nicht jeder Diebstahl wird bestraft. Die Geltung des § 242 StGB bleibt davon unberührt. Nur in dem extremen Fall, dass eine Rechtsnorm so gut wie gar nicht befolgt wird, steht auch ihre juristische Geltung in Frage (u. § 62 IIxxx).

Juristische und faktische Geltung sind leicht zu unterscheiden. Faktische Geltung meint soziale Wirksamkeit des Rechts. Man spricht auch von soziologischer (besser: von sozialer) Geltung. Die Unterscheidung von juristischer und sozialer Geltung ist grundlegend von Max Weber in der so genannten Stammler-Kritik herausgearbeitet worden und von ihm dann in dem als »Rechtssoziologie« bekannten Teil von »Wirtschaft und Gesellschaft« übernommen worden. Dem Verhältnis von Rechtsgeltung und Rechtswirksamkeit widmen wir uns in § 62.xxx. Als eine spezielle soziologische Theorie der Rechtsgeltung werden wir in § 61 VII Luhmanns Lehre von der Rechtsgeltung als Symbol vorstellen.

Der Begriff der »ethischen Geltung« wird unterschiedlich gebraucht. Bei Alexy lesen wir: »Eine Norm gilt moralisch, wenn sie moralisch gerechtfertigt ist« (Begriff, S. 141). Es erschließt sich uns nicht, was mit einem solchen Geltungsbegriff anzufangen wäre. Ob moralische Rechtfertigung unter dem Begriff der Rechtsgeltung richtig thematisiert wird, bestreitet daher mit gutem Grund Auer in ihrer Gießener Antrittsvorlesung (RW 2017, 59 ff.). Darüber hinaus wird mit »ethischer Geltung« gefragt, ob die juristische Geltung einer Rechtsnorm von moralischen oder ethischen Qualitäten abhängig ist. Damit führt die Diskussion der ethischen Rechtsgeltung auf ein Grundthema der ganzen Rechtswissenschaft, nämlich ob die Rechtsqualität von formalen oder von inhaltlichen Anforderungen abhängt.

Diese Frage ist als die Trennung von Recht und Moral geläufig (o. § XXX). Sie ist uns aber auch schon bei dem Verhältnis von Zweck und Mittel begegnet (o. § 29 IIXXX), und wir werden bei der Erörterung der außervertraglichen Grundlagen des Vertrages (u. § 53 XXX) oder bei der Behandlung der subjektiven Rechte (u. § 43 V XXX) wieder darauf stoßen.

Weiter ließe sich nach der Abhängigkeit der Geltung von äußeren Umständen, von Tradition, Gewohnheit oder faktischer Geltung, von der Autorität oder Durchsetzungsmacht des Normgebers fragen. Die Antwort lautet am Ende: Die Rechtsgeltung ist unabhängig. Nur in Extremfällen kommen Randkorrekturen in Betracht (u. § 62xxx). Wie Rechtsgeltung anders als durch Ethik oder Moral, nämlich »positivistisch«, begründet wird, wird in § 61 xxxerörtert. § 63xxx schließlich stellt die Verbindung zwischen der Theorie der Rechtsgeltung und der Rechtsquellenlehre her.

Mit »Geltung« bezeichnen wir die Eigenschaft einer Norm, innerhalb eines Rechtssystems von Bürgern, Behörden und Gerichten beachtet werden zu müssen. »Geltung« kann aber auch lediglich die Reichweite einer Vorschrift meinen:

Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Inland begangen werden. (§ 3 StGB)

Der Geltungsbegriff konkurriert daneben mit weiteren Begriffen und ihren Gegenbegriffen wie Anwendbarkeit, Wirksamkeit oder Nichtigkeit.

1.  (Un-)Anwendbarkeit, Anwendungsvorrang

2.  Unvereinbarkeit

3.  Wirksamkeit

Während wir als soziale Wirksamkeit die faktische Geltung i.S.v. Verhaltenswirksamkeit einer Vorschrift bezeichnen, wird (Un-)Wirksamkeit auch synonym mit juristischer Geltung verwendet, z.B. durch § 47 V 2 1. HS VwGO: »Kommt das Oberverwaltungsgericht zu der Überzeugung, daß die Rechtsvorschrift ungültig ist, so erklärt es sie für unwirksam; …«

4.  Nichtigkeit

Gesetze werden durch das BVerfG für nichtig erklärt, § 31 II, § 78, § 95 III BVerfGG. Völkerrechtliche Verträge sind nichtig, wenn sie durch Androhung oder Anwendung von Gewalt herbeigeführt wurden oder im Widerspruch zum ius cogens stehen, Art. 52 f. WVRK. In Österreich müssen gesetzwidrige Verordnungen und verfassungswidrige Gesetze hingegen aufgehoben werden, Art. 139 III, Art. 140 III B-VG. In allen diesen Fällen fehlt den Rechtsnormen die juristische Geltung.

5.  Geltung und Vorrang

Die Frage der Geltung muss von der Frage des Vorrangs unterschieden werden. Erst nachdem die Frage der Geltung beantwortet ist, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des so geltenden Rechts zu anderen Rechtsquellen. Sie kann geregelt sein (vgl. Art. 216 II AEUV: Die von der Union geschlossenen Übereinkünfte binden die Organe der Union und die Mitgliedstaaten.; Art. 25 I 2 GG: Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts »gehen den Gesetzen vor), oder auch offengelassen werden (vgl. Art. 190 BVCh: Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.)