I. Relative gegen absolute Geltungstheorien
Die Theorien der Rechtsgeltung befassen sich mit der Geltung von Recht an sich oder mit der Geltung von ganzen Rechtssystemen, meistens von solchen staatlichen Rechts. Als relativ bezeichnen wir Geltungstheorien, die auf eine Letztbegründung der Rechtsgeltung verzichten. Diese Charakterisierung trifft – mehr oder weniger deutlich – auf alle modernen Geltungstheorien zu. Absolut waren dagegen die klassischen Naturrechtslehren, die heute kaum noch Anhänger finden.
Soll die Geltung eines Systems von normativen Sätzen begründet werden, so lässt sich deren Geltung nur aus anderen normativen Sätzen stringent ableiten. Soweit es um die Geltung einer bestimmten einzelnen Rechtsnorm geht, erfolgt diese Ableitung im Stufenbau der Rechtsordnung. Sie endet aber bei der Verfassung, und es entsteht die Frage, warum gilt die Verfassung? Vielleicht kann man eine Verfassung noch auf frühere Verfassungen, also bis auf die erste historische Verfassung zurückverfolgen. Aber dann ist dieser Weg ausgeschöpft. In dieser Situation gibt es drei Möglichkeiten:
– Man kann explizit den Rekurs auf eine höhere Norm abbrechen und einen Schluss vom Sein aufs Sollen einführen, der zwar nicht logisch, aber vielleicht praktisch überzeugt. Diese Lösung wählen die Macht- und die Anerkennungstheorien, aber auch der Utilitarismus.
– Man postuliert rein hypothetisch die Geltung einer obersten Norm, um im Stufenbau des positiven Rechts logisch operieren zu können. Das ist die Lösung der Reinen Rechtslehre Kelsens. Man kann insoweit von einem axiomatischen Rechtspositivismus sprechen.
– Man versucht, die Geltung des Rechts absolut zu begründen. Absolute Begründungen sind entweder, wie diejenige Kants, philosophisch abstrakt, oder, wie die Lehren der großen Religionen, naturrechtlich materiell.
Die absoluten Theorien sind ohne weiteres als legitimierende Geltungstheorien zu erkennen. Das heißt, sie liefern einen inneren Geltungsgrund mit, sei dieser Vernunft oder Glaube. Die Reine Rechtslehre dagegen ist der Prototyp einer positivistischen Rechtslehre. Das heißt, sie behauptet die Rechtsgeltung eines de facto vorhandenen Rechtssystems und verzichtet auf eine weitere Rechtfertigung. Bei den an erster Stelle genannten Theorien ist die Zuordnung als legitimierende oder positivistische Geltungstheorie nicht so klar. Die verschiedenen Lösungen, die in der Literatur vorgeschlagen werden, ordnen sich nicht selbst in diese Kategorien ein, so dass die nachträgliche Einordnung teilweise willkürlich erscheinen mag. Theorien, die auf den ersten Blick als positivistische Machttheorien erscheinen, erweisen sich bei näherer Analyse als bloß axiomatisch oder sie geben letztlich doch eine moralische Begründung. Nur wenn man diese Komplikation im Auge behält, bleibt die gewählte Einteilung sinnvoll.
Wie schwierig es ist, die einzelnen Lösungen einzuordnen, zeigt das Beispiel Radbruchs, wenn wir ihn etwas vollständiger zitieren:
»Da aber nach relativistischer Ansicht Vernunft und Wissenschaft diese Aufgabe zu erfüllen außerstande sind, so muß der Wille und die Macht sie übernehmen. Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muss jemand festsetzen, was rechtens sein soll, und soll das gesetzte Recht der Aufgabe genügen, den Widerstreit entgegengesetzter Rechtsanschauungen durch einen autoritativen Machtspruch zu beenden, so muß die Setzung des Rechts einem Willen zustehen, dem auch eine Durchsetzung gegenüber jeder widerstreitenden Rechtsanschauung möglich ist. Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist.« (Rechtsphilosophie, S. 179)
Radbruch hält das positive Recht nicht nur für juristisch gültig, sondern auch für moralisch verbindlich, weil es durch seine bloße Existenz wenigstens den Wert der Rechtssicherheit verbürgt. Das hat zur Konsequenz, dass jedenfalls den Richter nicht nur die juristische, sondern auch eine moralische Pflicht zum Gesetzesgehorsam trifft:
»Der Richter, indem er sich dem Gesetze ohne Rücksicht auf seine Gerechtigkeit dienstbar macht, wird also trotzdem nicht bloß zufälligen Zwecken der Willkür dienstbar. Auch wenn er, weil das Gesetz es so will, aufhört, Diener der Gerechtigkeit zu sein, bleibt er noch immer Diener der Rechtssicherheit. Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren lässt« (Ebd. S. 182).
Damit nimmt Radbruch letztlich doch eine wertphilosophische Position ein. Eine positivistische Geltungstheorie könnte nur eine juristische, nicht aber eine moralische Pflicht zum Gehorsam begründen.
Die Radbruch-Exegese ist inzwischen zu einem Thema sui generis geworden, aus dem für die Allgemeine Rechtslehre nichts Neues mehr zu gewinnen ist. Vgl. etwa – mit Hinweisen auf die neuere, umfangreichere Literatur Ralf Dreier, Gustav Radbruchs Rechtsbegriff, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 17-44, und den Sammelband von Martin Borowski/Stanley L Paulson (Hg.), Die Natur des Rechts bei Gustav Radbruch, 2015.
Bevor wir verschiedene Lösungsversuche durchmustern, ist festzuhalten, dass es keine einzige und richtige Lösung geben kann. Schließen wir eine selbstbezügliche Begründung als tautologisch oder widersprüchlich und damit als sinnlos von vornherein aus, so bleibt keine Wahl, als die endlose Kette der Begründungen mehr oder weniger willkürlich abzubrechen. Keine Lösung kann theoretisch befriedigen. Damit haben wir aber die Freiheit gewonnen, für unsere jeweilige historische Situation die »Lösung« zu wählen, die den aktuellen Problemen angemessen zu sein scheint.
Für unsere Allgemeine Rechtslehre bauen wir auf die Geltungstheorie Kelsens und verweisen alternativ auf die Anerkennungstheorie von Hart. Es stellt sich die Frage, welchen Unterschied es macht, ob man von einer positivistischen oder von einer legitimierenden Geltungstheorie ausgeht.
Der Legitimationsbegriff ist auch in diesem Zusammenhang zweideutig. Hier meint er zunächst die ethische Legitimation. Aber der Begriff wird seit Max Weber auch für die faktische Anerkennung von Herrschaft verwendet. Während Weber auf individuelle Anerkennung abstellte, wird der Begriff heute auch für die institutionell realisierte Anerkennung verwendet. Zur Legitimation allgemein o. § XXX.
Praktisch ist der Unterschied oft kaum zu bemerken, denn auch legitimierende Theorien lassen sich nur handhaben, wenn sie mehr oder weniger pauschal einen Korpus positiven Rechts als gerechtfertigt zugrunde legen. Eine individuelle Anerkennungstheorie (u. IV) wäre deshalb ganz unrealistisch. Auch die utilitaristischen Theorien verlangen nicht wirklich, dass jede einzelne Rechtsnorm nach ihren Maßstäben gerechtfertigt wird, sondern behelfen sich damit, auch der Rechtsgewissheit eine Nützlichkeit zuzuweisen.
Das Unbehagen an dem Verzicht auf eine legitimierende Geltungstheorie kommt im Böckenförde-Paradox oder Böckenförde-Dilemma zum Ausdruck. So bezeichnet man einen Satz des Staatsrechtlers und Richters des BVerfG Ernst-Wolfgang Böckenförde, den er 1964 in einem (1967 erstmals gedruckten) Vortrag formuliert hatte:
»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. «
Wir zitieren hier nach dem Wiederabdruck in: Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 2. Aufl. 2007, 43-72, dort S. 71 f. Das Zitat hat sich so weit verbreitet, dass Felix Dirsch seiner Rezeption einen Aufsatz gewidmet hat (ZfPolitik NF 56, 2009, 123-141). Über die richtige Interpretation gibt es eine ausführliche Debatte. Der ganze Absatz lautet weiter:
»Das ist das große Wagnis, dass er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat. Die verordnete Staatsideologie ebenso wie die Wiederbelebung aristotelischer Polis-Tradition oder die Proklamierung eines ›objektiven Wertsystems‹ heben gerade jene Entzweiung auf, aus der sich die staatliche Freiheit konstituiert. Es führt kein Weg über die Schwelle von 1789 zurück, ohne den Staat als die Ordnung der Freiheit zu zerstören.«
Böckenfördes Vortrag schloss mit der Feststellung, auch der weltliche Staat müsse wohl »letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben«, die »der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt«, freilich nicht im Sinne einer Rückkehr zu einem christlichen Staat, »sondern in der Weise, daß die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren ihre Aufgabe ist«. Manche möchten von dort her auf die Notwendigkeit einer religiösen Letztbegründung des Staates schließen. Für die Allgemeine Rechtslehre ordnen wir diesen Satz als eine unter vielen – freilich als eine besonders geglückte – Formulierungen ein, die darauf verweist, dass eine Letztbegründung von Staat und Recht außerhalb des positiven Rechts gesucht werden muss. Unklar bleibt, ob eine Letztbegründung überhaupt notwendig ist.
Die Allgemeine Rechtslehre geht davon aus, dass ein ausbalanciertes positives Recht sich selbst tragen kann. Für die Balance ist eine Art Letztbegründungspluralismus erforderlich, der sicherstellt, dass Bürger verschiedenen Glaubens nicht mit dem Staat hadern müssen.