I. Allgemeinheit des Gesetzes
II. Einzelfallvorbehalt und Verallgemeinerungsgrundsatz
III. Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichbehandlung durch das Gesetz
Literatur: Gabriele Britz, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2014, 346–351; Konrad Hesse, Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, AöR NF 38, 1951/52, 167-224; Niklas Luhmann, Der Gleichheitssatz als Form und als Norm, ARSP 77, 1991, 435-445; Magdalena Pöschl, Gleichheitsrechte, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hg.), HB der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd. VII/1, 2014, 519-590; Volker H. Schmidt, Ungleichheit, Exklusion und Gerechtigkeit, Soziale Welt 51, 2000, 383-400; Simon Kempny/Philipp Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012.
Gleichheit ist die Kehrseite des allgemeinen Gesetzes. Dessen korrekte Anwendung hat die gleiche Behandlung gleicher Fälle zur Folge. Deshalb ist es ein Erfordernis des Rechtsstaats, dass grundsätzlich nach allgemeinen Regeln verfahren wird.
Allgemeinheit des Gesetzes fordert nur, dass persönliche Eigenschaften der Betroffenen nicht von Fall zu Fall unterschiedlich berücksichtigt werden. Die Gleichheitssätze in Verfassungen und Menschenrechtserklärungen verlangen mehr. »Abstrakt« könnte das allgemeine Gesetz die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen oder gar von Freien und Sklaven zulassen. Aus der naturrechtlichen Gleichheitsvorstellung folgt aber die politische Forderung, dass bestimmte persönliche Eigenschaften weder bei der Gesetzgebung noch bei der Gesetzesanwendung einen Unterschied machen sollen. In der französischen Revolution bezog sich die Forderung nach égalité zunächst auf Standesunterschiede. In diesem Sinne sagt Art. 3 der Erklärung der Menschenrechte von 1793:
»Touts les hommes sont égaux par la nature et devant la lois.«
Art. 3 I GG hat in seinen Wortlaut nur das devant la lois aufgenommen:
»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«
Aber es steht außer Frage, dass alle Menschen auch in dem oder, was dasselbe meint, durch das Gesetz gleichbehandelt werden sollen (Gebot der Rechtssetzungsgleichheit).
In der Verfassung und in den Gesetzen, im Europarecht und im Völkerrecht gibt es wohl an die 50 Gleichheitssätze (Kempny/Reimer). Der allgemeine Gleichheitssatz richtet sich zunächst an den Gesetzgeber und
»verbietet … nur, daß wesentlich Gleiches ungleich, nicht dagegen, dass wesentlich Ungleiches entsprechend der bestehenden Ungleichheit ungleich behandelt wird. Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muss.« (BVerfGE 1, 14/42 – Südweststaat-Urteil, 1951).
In seiner Allgemeinheit bietet der Gleichheitssatz keine subsumtionsfähige Norm. Hinter dem »wesentlich« steckt das Problem.
Wie der Gleichheitssatz mit Hilfe von Rechtsprechung und Dogmatik handhabbar wird, zeigt seine Aufbereitung für die Falllösung in einer Ausbildungszeitschrift: Marje Mülder/Julia Weitensteiner, Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), JURA 41, 2018, 51-62.
Die Anwendung des Gleichheitssatzes beginnt damit, Ungleiches als gleich zu kategorisieren. Völlige Gleichheit liefe auf Identität hinaus. Stets geht es darum, Objekte, die an sich verschieden sind, unter einem bestimmten Gesichtspunkt als gleich oder ungleich zu vergleichen (Hesse S. 172). Gleichbehandlung durch das Gesetz führt daher zu dem als paradox empfundenen Ergebnis, dass in vielen Situationen Ungleiches gleich behandelt werden muss. Das hatte bereits Platon, freilich in kritischer Absicht, im 8. Buch der Politeia hervorgehoben, indem er die Demokratie als Verfassung charakterisierte, »die gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit austeilt«.
Gleichheit vor dem Gesetz setzt Rechtsanwendungsgleichheit und Rechtswirkungsgleichheit voraus. An ersterer kann es fehlen, wenn Juristen bei der Ermittlung des Sachverhalts und bei der Interpretation von Gesetzen von ihrem eigenen Erfahrungs- und Wertehorizont ausgehen. Letztere wird verfehlt, wenn die Anforderungen des Gesetzes die Adressaten ungleich treffen. Dann führt Gleichheit vor dem Gesetz zur Ungleichheit in der Sache.
Das bringt eine berühmte Formulierung von Anatole France zum Ausdruck (die wir hier, weil sie so bekannt ist, aus dem Original zitieren):
»Nous sommes militaires, en France, et nous sommes citoyens. Autre motif d’orgueil, que d’être citoyen! Cela consiste pour les pauvres à soutenir et à conserver les riches dans leur puissance et leur oisiveté. Ils y doivent travailler devant la majestueuse égalité des lois, qui interdit au riche comme au pauvre de coucher sous les ponts, de mendier dans les rues et de voler du pain. C’est un des bienfaits de la Révolution.« (Le Lys Rouge, 14. Aufl. 1894, S. 118)
Beide Defizite zusammen ergeben, was seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts als Klassenjustiz kritisiert wurde – und bis heute ein Problem darstellt.
Die Königsdisziplin der Soziologie ist die Erforschung sozialer Ungleichheit. Sie steht unter der Prämisse, dass Ungleichheit ungerecht sei, einer Prämisse, die oft gar nicht ausgewiesen oder gar begründet wird, obwohl sie keineswegs selbstverständlich ist (Schmidt). Es genügt sicher nicht, Jean-Jacques Rousseaus »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« (1775) zu zitieren, die Ungleichheit als einen »unnatürlichen« Zustand behauptete (und dafür das Recht verantwortlich machte). Wollte man diese Prämisse ohne weiteres akzeptieren, müsste man die Beseitigung aller Ungleichheit fordern, also die gleichmäßige Verteilung materieller Ressourcen und der Abbau sozialer Hierarchien, somit Ergebnisgleichheit und Statusgleichheit, kurz Egalität. Nur der Kommunismus hat – vergeblich – versucht, diesen Zustand direkt herbeizuführen. Die Egalitarismuskritik (Krebs) hat dieses Ziel als utopisch zurückgewiesen, denn in einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind viele verschiedene Positionen auszufüllen, mit denen sich zwangsläufig ein unterschiedlicher Status verbindet. Davon abgesehen: Soziale Gleichheit würde Ungleichheiten in anderer Hinsicht nicht aufheben. Körperliche und geistige Ungleichheiten etwa würden noch stärker hervortreten. Es kann deshalb nur darum gehen, welche Ungleichheit bis zu welchem Grade noch erträglich ist.
Die Frage nach den Gründen für Diskriminierung = Präferenzen oder Abneigungen für bestimmte Personengruppen führt tief in Sozialpsychologie und Soziologie. Hier kann nur noch auf das Phänomen der statistischen Diskriminierung hingewiesen werden. Dabei tritt der Diskriminierungseffekt ohne Präferenzen oder Feindseligkeiten der Entscheider gegenüber den betroffenen Personengruppen ein. Ein berühmter Fall waren unterschiedliche Lebens- und Krankenversicherungstarife für Männer und Frauen. Frauen mussten in der Krankenversicherung höhere Beiträge zahlen, da sie statistisch gesehen höhere Krankheitskosten verursachen. Für Männer dagegen waren Lebensversicherungen teurer, da sie eine kürzere Lebenserwartung haben. Seit 2012 sind nach EU-Recht nur noch Unisextarife zulässig. Dem Erstautor dieses Buches, der in jungen Jahren einmal Chefsyndikus einer Versicherungsgruppe war, wird man nachsehen, dass er die Rechtsentwicklung, die tief in das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung eingreift, als eine politische Entscheidung ansieht, die durch den Gleichheitssatz der Verfassung nicht geboten war.
Mit der Gleichheitsforderung konkurriert in erster Linie die Freiheit. Diese Konkurrenz wird, jedenfalls bisher, dadurch bewältigt, dass das oberste Ziel aller Gleichheitssätze Chancengleichheit ist, nicht aber Ergebnis- und Statusgleichheit.
Chancengleichheit baut auf das Leistungsprinzip. Das wiederum ist keineswegs unangefochten. Der Philosoph Michael J. Sandel spricht von der Tyrannei der Meritokratie, weil sie Erfolg moralisch legitimiere und die Erfolglosen demütige, und erklärt daraus den populistischen Aufstand gegen die Eliten: The Tyranny of Merit, 2020 (Vom Ende des Gemeinwohls, 2021). Ein Symposium zu diesem Buch im American Journal of Law and Equality 1, 2021.
Die Kritik an der »Klassenjustiz« stellt auf den unterschiedlichen sozioökonomischen Status zwischen den Bürgern als Gesetzesadressaten und auch zwischen letzteren und den Gesetzesanwendern ab. Um die faktische Ungleichheit zwischen den Menschen zu begreifen, spricht man nicht mehr von Klassen und kaum noch von sozialen Schichten, weil beide Begriffe ihr Gewicht zu sehr aus dem ökonomischen Status der Person beziehen. Im Vordergrund stehen heute andere Merkmale. Sie spiegeln sich in dem Katalog der modernen Diskriminierungsverbote. Die Diskriminierungsverbote richten sich zwar zuerst an den Gesetzgeber: Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse und politische Anschauungen oder eine körperliche Behinderung sind keine geeigneten Anknüpfungspunkte für Ungleichbehandlung (Art. 3 II 1 GG). Damit führt die Konstitutionalisierung des einfachen Rechts sekundär zu der Forderung nach Gleichheit im Rechtsverkehr. Sie hat ihren Ausdruck im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. 8. 2006 gefunden, mit dem Deutschland die drei Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien umgesetzt hat. Auf diesem Wege ist der Gleichheitssatz zu einem Problemfeld für die Privatrechtstheorie geworden (u. § 92yyy).
IV. Negative und positive Diskriminierung
V. Diversität
VI. Das »Dilemma der Differenz«
Literatur: Susanne Baer, Chancen und Risiken Positiver Maßnahmen: Grundprobleme des Antidiskriminierungsrechts, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Positive Maßnahmen. Von Antidiskriminierung zu Diversity, 2010, 23-39; Judith Butler, Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der »Postmoderne«, in: Seyla Benhabib u. a., Der Streit um Differenz, 1993, 31-58; Kimberle W. Crenshaw, Race, Reform, and Retrenchement: Transformation and Legitimation in Antidiscrimination Law, in: Christian Joerges/David M. Trubek (Hg.), Critical Legal Thought, An American-German Debate, 1989, 247-284; Judith Claudia Gesine Froese, Der Mensch in der Wirklichkeit des Rechts Zur normativen Erfassung des Individuums durch Kategorien und Gruppen 2020; Sabine Hark, Deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität, 2. Aufl. 1999; Ruud Koopmans/Liav Orgad, Majority-Minority Constellations: Towards A Group-Differentiated Approach, 2020, SSRN 3741507; Ulrike Lembke, Diversity als Rechtsbegriff, Rechtswissenschaft 3, 2012, 46-76; Doris Liebscher u. a., Wege aus der Essentialismusfalle. Überlegungen zu einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht, KJ 24, 2012, 204-218; Martha Minow, Making All the Difference. Inclusion, Exclusion, and American Law, 1990; dies., Equality vs. Equiy, American Journal of Law and Equality 1, 2021, 167-193; dies., Equality, Equity, and Algorithms: Learning from Justice Rosalie Abella, 2023, SSRN 4523304; Horst W. J. Rittel/Melvin M. Webber, Dilemmas in a General Theory of Planning, Policy Sciences 4, 1973, 155-169.
Sollen Minderheiten geschützt und Diversität rechtlich gefördert werden, so müssen Merkmale benannt werden, an denen die potenziell Diskriminierten erkannt werden können. Die Merkmale ergeben sich aus dem Vergleich mit einer Mehrheit, mag die auch in sich durchaus vielfältig sein. So werden Gruppen von Merkmalsträgern bis zu einem gewissen Grade erst konstruiert oder jedenfalls affirmiert. Von solchen Differenzen sagt Judith Butler (S. 49), sie hätten »niemals nur einen deskriptiven, sondern immer auch einen normativen und damit ausschließenden Charakter«. Das ist eine starke empirische Behauptung, die zum Dogma des Feminismus geworden ist. Aber es ist wohl zutreffend, dass mit der Feststellung einer Differenz die oft diskriminierende Vorstellung einer Abweichung von der Normalität verstärkt werden kann oder gar erst entsteht. Nimmt man die Abweichung dagegen nicht zur Kenntnis, dann können sich die Betroffenen, die ihre Besonderheit als Teil ihrer Identität verstehen, herabgesetzt fühlen. Das ist das Dilemma der Differenz (Minow 1990, 19ff).
Der Vielfaltsimperativ erzeugt Gruppenrechte, die sich zwar grundsätzlich als positive Maßnahmen vor dem Gleichheitssatz rechtfertigen lassen. Aber:
»Gruppenrechte essentialisieren Differenz und Ungleichheiten. Wer Menschen in Gruppen einteilt, reduziert sie auf ein Merkmal oder eine Eigenschaft, die eine Gruppe definieren, homogenisiert also Menschen, die einiges, aber nie alles gemeinsam haben. Wer sich an Gruppen orientiert, tendiert dazu, kollektive Identitätskonzepte als Identitätspolitiken zu verfestigen« (Baer S. 26).
Baer spricht von dem »Gruppismus«, den man doch eigentlich beseitigen wolle. Daraus ergibt sich das Kategoriendilemma des Antidiskriminierungsrechts, weil die Vorzugsbehandlung an die Zuordnung zu »Kategorien« geknüpft ist, solche Kategorisierung aber wiederum unerwünscht ist. Die Suche nach einem »postkategorialen« Antidiskriminierungsrecht (Baer, Lembke, Liebscher u. a.) gleicht allerdings der Quadratur des Kreises. Inklusion ist ohne eine Kategorisierung derjenigen, die der Hilfe bedürfen, nicht zu haben. Die Forderung nach Dekategorisierung hat ihren berechtigten Kern in der Befürchtung, dass mit der Kategorisierung eine institutionelle Separation einhergeht. Es geht um Förderschulen, Werkstätten für Behinderte oder psychiatrische Anstalten. Auf der anderen Seite steht der Wunsch nach Anerkennung von Diversität. Das BVerfG hat diesen Wunsch im Falle der Intersexuellen zu einer Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erhoben. Es kommt also anscheinend immer darauf an, um welche Differenz es sich handelt, und maßgeblich ist dann in erster Linie der Wunsch der Betroffenen.
Eine differenzierte Darstellung des Problems bietet Susanne Beck, Minderheit wider Willen? Die Grenzen des Minderheitenschutzes in einer republikanischen Demokratie, in: Benno Zabel/Pirmin Stekeler-Weithofer (Hg.), Philosophie der Republik, 2018, 325-343.
Pluralismus und Diversität (und Pluralismus) vertragen sich nicht mit Gleichheit, denn Menschen wollen nicht gleich, sondern verschieden sein. Daher gibt es in einer pluralistischen Gesellschaft keine objektive Definition von Gleichheit. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, die den den politischen und sozialen Diskurs dominiert, ist auf den direkten oder indirekten Ausgleich ökonomischer Ungleichheit fokussiert. Egalitarismus ist insoweit jedoch keine allgemein oder auch nur mehrheitlich akzeptierte Lösung. Auch der Kampf gegen Diskriminierung und Exklusion geht stets von einem Vergleich aus, der Ungleichheit konstatiert. Die daraus folgenden politischen Forderungen nach Gleichbehandlung kollidieren immer wieder mit anderen Vorstellungen, die sich durch Gleichheitsforderungen zurückgesetzt fühlen. Das ist das Dilemma der Gleichheit (Rittel/Webber).