I. Allgemeine Rechtslehre als komparative Wissenschaft?
Literatur: Otto Bruusin, Reine Rechtslehre und Rechtsvergleichung, ARSP 49, 1963, 319–322; Sven Gemballa, Stammesgeschichtlich bedingte Ähnlichkeiten und funktionsbedingte Ähnlichkeiten: Homologie und Konvergenz, in: ders./Ulrich Kattmann, Didaktik der Evolutionsbiologie, 2024, 249-262; Hein Kötz, Rechtskreislehre, HWB-EuP 2009.
Die traditionelle Allgemeine Rechtslehre wollte nicht zuletzt komparativ sein (Funke, Strukturtheorie S. 12). Bei Max Rheinstein fand sich die Vorstellung, dass Rechtsvergleichung zu einer Allgemeinen Rechtslehre führen könne.
»Jede nationale Rechtswissenschaft muß zwangsläufig die Struktur der Normen, mit denen sie es zu tun hat, näher untersuchen, gewisse formale Kategorien entwickeln – wie z. B. dingliches und obligatorisches Recht, Vertrag, Haftung, Eigentum etc. – und Begriffe prägen wie Zuständigkeit, Einrede, Rechtskraft. Kategorien dieser Art finden sich mit erstaunlicher Regelmäßigkeit in den verschiedensten Rechtssystemen. Das führt zu der Frage, ob es sich vielleicht um immanente Kategorien des Rechts handelt, aus denen sich eine formale Morphologie des Rechts entwickeln ließe.« (Einführung in die Rechtsvergleichung, 2. Aufl. 1987, S. 30)
Aber die komparative Allgemeine Rechtslehre blieb Programm. Wiewohl Kelsen wiederholt davon spricht, die Reine Rechtslehre sei auf eine vergleichende Betrachtung historischer Rechtsordnungen gestützt, gründet seine Theorie doch nicht auf systematischer Rechtsvergleichung; verschiedene Rechtsordnungen liefern ihm nur Beispiele zur Illustration und Prüfung seiner Theorie (Bruusin). Der komparative Ansatz war wissenschaftstheoretisch unreflektiert. Dennoch erscheint es plausibel, dass Rechtsvergleichung weiterführen könnte.
Rechtsvergleichung im technischen Sinne kennt im Prinzip zwei Methoden, den homologen und den funktionalen Vergleich. Der Funktionsvergleich ist die Standardmethode der Rechtsvergleichung.
»Im Zentrum der [klassischen] Rechtsvergleichung steht … der Vergleich der Lösungen, die die jeweiligen Rechtsordnungen für konkrete Sachprobleme beinhalten. Das ist der Kern der funktionalen Rechtsvergleichung.« (Uwe Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 14; ähnlich Konrad Zweigert/Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, 3. Aufl. 1996, S. 33)
Ausgangspunkt der Vergleichung sind nicht einzelne Normen oder Institutionen, sondern für regelungsbedürftig gehaltene Probleme oder Situationen. Man fragt also nicht, welche Vorschriften in fremden Rechtsordnungen dem § 2303 BGB entsprechen, sondern welchen Beschränkungen dort die Testierfreiheit unterliegt.
Der homologe Vergleich ist dem Namen nach nur in der Evolutionsbiologie geläufig (Gemballa), wird aber der Sache nach auch in der Rechtsvergleichung praktiziert. Es geht schlicht darum, dass man die Herkunft bestimmter Rechtsinstitute kreuz und quer, also historisch und durch Übernahmen aus anderen Rechtsordnungen (legal transplants) verfolgt und so verschiedene Rechtskreise oder Rechtsfamilien identifiziert. Dagegen sprach man in der Evolutionsbiologie von »Analogie«, wenn sich unabhängig voneinander Organe oder Körperteile entwickelt haben, die für den Organismus die gleichen Funktionen (z. B. Sauerstoffzufuhr, Grabewerkzeuge) erfüllen. Heute bevorzugt man dafür die Benennung als »Konvergenz«.
II. Zur Methode des Vergleichens
Literatur: Doris Forster, Zur Methode des Rechtsvergleichs in der Rechtswissenschaft, Ancilla Iuris 2018, 98–109; Werner J. Patzelt, Wissenschaftstheoretische Grundlagen sozialwissenschaftlichen Vergleichens, in: Sabine Kropp/Michael Minkenberg (Hg.), Vergleichen in der Politikwissenschaft, 2005, 16–54; Eberhard Schmidt-Aßmann, Das Verwaltungsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika, 2021 (S. 19-38 zum Verwaltungsrechtsvergleich); Birgit Stark/Melanie Magin, Komparative Forschungsansätze: Theoretische Grundlagen und methodische Verfahrensweisen, in: Wiebke Möhring/ Daniela Schlütz, Hb standardisierte Erhebungsverfahren in der Kommunikationswissenschaft, 2013, 145–164.
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III. Klassische Rechtsvergleichung als Allgemeine Rechtslehre?
Literatur: Julius Ofner, Der Grundgedanke des Weltrechts, Wien 1889; Adolf F. Schnitzer, Vergleichende Rechtslehre, 2 Aufl. 1961 (krit. Rezension von Konrad Zweigert zur 1. Auflage, Zf ausländisches und internationales Privatrecht, 15, 1949/50, 354-358); Stefan Vogenauer, Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung um 1900, RabelsZ 76, 2012, 1122-1154.
Auf den Weg einer »Vergleichenden Rechtslehre« hatte sich Adolf F. Schnitzer begeben. In den Augen des Rezensenten Zweigert hatte er sich damit übernommen, indem er alles Recht der Welt vergleichen wollte. Immerhin erschien es Zweigert (S. 355f) als
»der richtige, wenn auch zweifellos sehr schwierige Weg –, daß man versucht, Grundzüge einer vergleichenden allgemeinen Rechtslehre zu geben, in der die Grundinstitute des Rechts oder besser – noch mehr eingeschränkt – nur des Privatrechts vergleichend in der – eben durch die Vergleichung sehr aufgelockerten – Systematik zu behandeln wären, die in den Systemen des ›Allgemeinen Teils‹ auf dem Kontinent entworfen worden ist.«
Wir können es nicht besser und warten darauf, dass eines Tages KI diese Aufgabe übernimmt. Bis dahin sei auf einige Großunternehmen der Rechtsvergleichung hingewiesen.
Seit 1905 erschien die »Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts« in 16 Bänden, herausgegeben »auf Anordnung des Reichs-Justizamtes« von Karl von Birkemeyer u. a. und gedacht als Vorbereitung zu einer Strafrechtsrefom. Dazu Albin Eser, Funktionen, Methoden und Grenzen der Strafrechtsvergleichung, in: FS Günther Kaiser, 1998, Bd. 2 S. 1499-1529. Aus der Sicht der Allgemeinen Rechtslehre bemerkenswert Carl-Friedrich Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht. Versuch einer Elementarlehre für eine übernationale Vorsatzdogmatik, 2007. Von demselben Autor auch »Allgemeiner Teil eines Europäischen Strafrechts«, in: Martin Böse, Europäisches Strafrecht, 2021, 507–542.
Seit 1926 bemüht man sich im Rahmen des Institut International pour l’Unification du Droit Privé um eine Vereinheitlichung des Privatrechts. Herausgekommen ist eine Reihe von Modellgesetzen und vor allem die UNIDROIT Grundsätze der internationalen Handelsverträge (Herbert Kranke, Unidroit, in: HWB-EuP).
Erfolgreich war auch die zwanzigjährige Gemeinschaftsarbeit von Professoren aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter dem Vorsitz des dänischen Professors Ole Lando mit den Principles of European Contract Law. Im Umfeld der Lando-Kommission sind auch Principles of European Tort Law und Principles of European Trust Law entstanden (Reinhart Zimmermann, Principles of European Contract Law, in: HWB-EuP). Ein Konkurrenzprojekt bildet der Entwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs, das unter der Federführung von Guiseppe Gandolfi entstanden ist. Ähnlich wurden von einer Professorengruppe Principles of European Family Law erarbeitet.
Gert Brüggemeier hat in einer großen Monografie (2005) das Recht der außervertraglichen Haftung ausgearbeitet. Helmut Koziol hat zunächst »Grundfragen des Schadenersatzrechts« behandelt (2010) und 2014 einen Sammelband über »Grundfragen des Schadenersatzrechts aus rechtsvergleichender Sicht« folgen lassen. Christian von Bar hat in einer Reihe »Jus Commune Europaeum« (C. H. Beck) die Bände »Die Kernbereiche des Deliktsrechts« I u. II (1996/99), »Gemeineuropäisches Privatrecht der natürlichen Person« (2023) sowie »Gemeineuropäisches Sachenrecht I u. II« (2025/2029) veröffentlicht. Aus einem Forschungsprojekt über das Kaufrecht der Universität Basel in 60 Ländern ist der Band von Ingeborg Schwenzer/Edgardo Muñoz, Global Sales and Contract Law (2022) hervorgegangen.
In den USA läuft seit 2005 das Comparative Constitutions Project, aus dem zahlreiche Veröffentlichungen hervorgegangen sind, z. B. Tom Ginsburg, Comparative Constitutional Design, 2014. Beim Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht erscheint ein »Jus Publicum Europaeum«, in zehn ‚Bänden, von denen bisher wohl acht erschienen sind, ferner die Reihe der Max Planck Handbooks in European Public Law (MPHEPL). Ein Research Network on EU Administrative Law (ReNEUAL) sucht rechtsvergleichend nach Regelbestand und Prinzipien für die Durchsetzung des Unionsrechts in den Institutionen der Union und ihrer Mitgliedstaaten. Daraus sind Model Rules on EU Administrative Procedure entstanden. Für den Verwaltungsrechtsvergleich ragt die Monografie von Eberhard Schmidt-Aßmann, Das Verwaltungsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika, 2021, heraus. Zur Würdigung Thomas Wischmeyer, Der Kampf um das Verwaltungsrecht, Der Staat 2024, 131–137.
Auch die großflächige Rechtsvergleichung bleibt gegenstands- oder sogar anwendungsbezogen (Vogenauer). Die seit Feuerbach immer wieder (z. B. von Ofner) postulierte und versuchte Universaljurisprudenz auf komparatistischer Basis ist gescheitert. Eine universale Rechtsvergleichung, wie Schnitzer sie im Blick hatte, kann die Rechtsinhalte anscheinend nicht auf bestimmte Grundelemente zurückführen, die zusammen eine Struktur ergeben. Was immerhin herauskommt, sind einige allgemeine Rechtsgrundsätze, die aber ihrerseits keine Struktur bilden.
IV. Intradisziplinäre Rechtsvergleichung (Binnenrechtsvergleich)
Die Bochumer Juristenfakultät hat 2018 ein Institut für intradisziplinäre Rechtsvergleichung eingerichtet und seither drei Fachtagungen veranstaltet. Der Bochumer unter den Autoren dieses Buches wurde zu einem Vortrag über »Intradisziplinarität als Renaissance der Allgemeinen Rechtslehre« eingeladen. Der verlockende Titel versprach freilich mehr, als er halten konnte.
Intradisziplinarität ist für die Allgemeine Rechtslehre selbstverständlich. Aber ein Binnenrechtsvergleich kann schwerlich nach dem Vorbild der klassischen (externen) Rechtsvergleichung geschehen. Der klassische Rechtsvergleich ist gegenstandsbezogen. D.h., er fragt danach, wie unterschiedliche Rechtsordnungen ein bestimmtes Sachproblem lösen (Städteplanung, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Beteiligung der Beschäftigten an der Unternehmensführung, Untersuchungsrichter). Der Binnenvergleich hat es hingegen kaum mit der unterschiedlichen Behandlung vergleichbarer Sachprobleme zu tun. Ein Äquivalent für Baugenehmigungen, Betriebsvereinbarungen, Haftbefehle, Testamente, Gemeingebrauch oder die Ehescheidung sucht man in den jeweils anderen Teilrechtsordnungen vergebens. Eine Ausnahme bildet das Verfahrensrecht. Daher ist es kein Zufall, dass der interne Vergleich auf diesem Gebiet schon viel erreicht hat. Noch immer vorbildlich insoweit Wolfgang Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts. Eine vergleichende Darstellung von ZPO FGG VwGO FGO SGG, 2. Aufl. 1974.
Der Funktionsvergleich bleibt auch für den Binnenvergleich wichtig. Rechtssoziologie und ökonomische Analyse des Rechts kennen Beispiele dafür, dass Regeln aus ganz verschiedenen Rechtsgebieten gleiche oder ähnliche Wirkungen haben. So wird oft darauf hingewiesen, dass Strafen und Schadensersatzpflichten ähnlich präventiv wirken. Aber das ist eine Fragestellung der Rechtswirkungsforschung, die als Antwort keine Strukturtheorie des Rechts erwarten lässt.
Der externe Vergleich beschäftigt sich im Ausgangspunkt mit unabhängigen Rechtsordnungen. Die zu vergleichenden Regeln sind weder in gedanklicher noch in normativer Hinsicht aufeinander bezogen. Wie immer gibt es Ausnahmen. So beobachtet der externe Vergleich die Diffusion von Rechtsgedanken als Rechtstransfer (legal transplants). Und obwohl ein harter verfassungsrechtlicher Überbau fehlt, ist doch die Frage nach einer »Konstitutionalisierung« der Rechtsordnungen durch weiche völkerrechtliche Vorgaben auch in der klassischen Rechtsvergleichung präsent. Die Frage steht im Raum, ob sich auf dem einen oder anderen Wege eine universale Weltkultur entwickelt (u. § 50 IV xxx). Aber die Differenzen bleiben so gravierend, dass wir diese Frage der Rechtssoziologie zuordnen.
Dass Rechtsvergleichung auf induktivem Wege zu einer Art Basisjurisprudenz führen könnte, ist nicht in Sicht. Bescheidener ist der Anspruch, Lücken in nationalen Rechtsordnungen zu füllen. Im deutschen Rechtskreis ist der Gedanke etabliert, dass Rechtsvergleichung den Methodenkanon als fünfte Auslegungmethode ergänzen könnte (u. § xxx). Noch weiter reicht die Vorstellung, rechtsvergleichend eine Auffangordnung zu identifizieren. Das gilt vor allem für den Binnenrechtsvergleich. Diese Vorstellung trifft indessen auf wenig Gegenliebe.
Der historische Vergleich führt auf den Gesichtspunkt der Ausgangsrechtsordnung und dieser wiederum legt den Gedanken einer Auffangrechtsordnung nahe. Ein Auffangsystem, das ersatzweise eintritt, soweit sich keine speziellere und bessere Lösung anbietet, kann als subsidiärer oder Default-Standard dienen. Als Auffangordnungen bieten sich die Ausgangsrechtsordnungen an. Der Begriff der Ausgangsrechtsordnung ist in der klassischen Rechtsvergleichung vertraut, und er ist auch für die intradisziplinäre Rechtsvergleichung brauchbar. Mit anderer Bedeutung wird der Begriff auch im IPR benutzt.
Die Romanisten werden uns erklären, dass eigentlich das Römische Recht die Mutter aller westlichen Rechtsordnungen sei. Sehen wir davon ab, so kennen wir als relativ selbständige Rechtsgebiete seit alters her Zivilrecht und Strafrecht. Das Zivilrecht bildet die Ausgangsrechtsordnung, nach deren Vorbild eine Vielzahl von Rechtsfiguren in den anderen Teilrechtsordnungen gebildet wurde. Viele gedankliche Strukturen des Verwaltungsrechts haben ihre Wurzeln im Zivilrecht.
Für eine Vielzahl von Rechtsfragen greift das öffentliche Recht auf die Regelungen des Zivilrechts zurück. Das geschieht z. B. durch explizite Verweise, etwa in § 173 VwGO, § 62 S. 1 VwVfG, § 31 Abs. 1 VwVfG (Fristberechnung) usw. Häufig werden zivilrechtliche Regeln im Wege der Analogie herangezogen, z. B. im Staatshaftungsrecht (u. a. beim Folgenbeseitigungsanspruch oder dem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch) oder ein allgemeiner Rechtsgedanke wird übernommen (Treu und Glauben, Verwirkung).
So liegt es nahe, jedenfalls den allgemeinen Teil des Zivilrechts als Auffangordnung zu betrachten. Der Gedanke weckt die Erinnerung an den Ruf nach der »Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken«. Das war der Titel der Habilitationsschrift des Strafrechtlers Hans-Jürgen Bruns von 1939. Er war sicher auch vom nationalsozialistischen Zeitgeist getragen, wurde aber von Bruns selbst und anderen auch nach 1945 verteidigt. Auch im öffentlichen Recht stößt die relative Hegemonie des Zivilrechts auf Widerstand. Man darf wohl vermuten, dass es im öffentlichen Recht eine breite Grundhaltung gibt, die auf einer Emanzipation vom Zivilrecht besteht, die sich von den »begrifflichen Fesseln« der Ausgangsrechtsordnung befreien und das Zivilrecht nicht einmal als Auffangordnung akzeptieren möchte. Einen Meilenstein der seit Jahrzehnten zu beobachtenden »Emanzipation« der Theoriediskussion im öffentlichen Recht gegenüber der Privatrechtstheorie bildet der von Hoffmann-Riem und Schmidt-Aßmann herausgegebene Sammelband »Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen«.
Diese Linie verfolgt unter dem Aspekt der Intradisziplinarität Dominik Schäfers weiter (Intradisziplinäre Rechtswissenschaft im Überschneidungsbereich von öffentlichem Recht und Privatrecht, in: Gregor Christandl u. a. (Hg.), Intra- und Interdisziplinarität im Zivilrecht, Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler, 2018, 257-286).
Die Idee, das hisotirisch frühere Zivilrecht als Auffangrechtsordnung zu nutzen, passt nicht zu der modernen Geltungswirklichkeit, die ein Grundtheorem der Allgemeinen Rechslehre bildet: Alles Recht ist Öffentliches Recht (u. § 93 V 2).
V. Allgemeine Rechtsgrundsätze
VI. Allgemeine Rechtslehre als Allgemeiner Teil des Rechts?
Kodifikationen für einzelne Rechtsgebiete verfügen über einen »Allgemeinen Teil«. Das gilt seit jeher für Zivilrecht und Strafrecht und längst auch das Sozialrecht. Mehr oder weniger alle modernen Gesetze enthalten allgemeine Vorschriften, auch wenn sie nicht immer in besonderen Abschnitten als solche ausgewiesen sind. Es scheint so, als ob ihr Titel die Allgemeine Rechtslehre zur Suche nach dem Allgemeinen Teil der Allgemeinen Teile für alle Rechtsgebiete und vielleicht sogar des Weltrechts verpflichtet. Aber Struktur und Allgemeiner Teil sind zweierlei. Die Struktur soll nach den Vorstellungen der Klassiker aus Grundbegriffen gebildet werden. Ein Allgemeiner Teil müsste dagegen aus Regeln bestehen. Die Allgemeine Rechtslehre formuliert nicht selbst Regeln. Sie kann und soll nur die Struktur = Regeln der Regelbildung aufzeigen. Dazu gehört auch die Unterscheidung von Besonderen und Allgemeinen Teilen der Regelbildung, aber nicht die Regelbildung selbst. Der Ehrgeiz der Rechtsvergleichung beschränkt sich bislang auf Entwürfe für bereichsspezifische Allgemeine Teile.
Allgemeine Regeln setzen als theoretische Leistung die Abstraktion von Gemeinsamkeiten konkreter Rechtsverhältnisse voraus. Im Zusammenhang mit der Frage nach den außervertraglichen Grundlagen des Vertrages wurde auf die Abkehr von der kasuistischen Rechtsanschauung der Antike hingewiesen, die verschiedene sozialtypische Transaktionen wie Kauf oder Miete unverbunden nebeneinanderstellte. Erst die Abstraktion des Vertragsbegriffes aus den verschiedenen Rechtsinstituten ließ die Frage nach der Verbindlichkeit des Konsensualvertrages aufkommen und machte allgemeine Regeln über Verträge möglich. Mit der weitergehenden Abstraktion des gemeinsamen Elements aus zunächst separat wahrgenommenen Rechtsvorgängen wie Austauschverträgen, Eheschließung und Erbeinsetzung wurde schließlich die rechtsgeschäftliche Willenserklärung abstrahiert, wie sie heute das Kernstück des Allgemeinen Teils des Zivilrechts bildet. Dabei ist die Allgemeinheit einer Regel relativ. Während der Allgemeine Teil des BGB für das gesamte Privatrecht gilt, haben allgemeine Vorschriften des Sachenrechts, je nach dem, Bedeutung nur für bewegliche Sachen oder für Immobilien. Die Auslagerung Allgemeiner Regeln hat, wie o. § 38 II xxx im Zusammenhang mit der Imperativentheorie erläutert wurde, zur Folge, dass Allgemeines und Besonderes für die Rechtsanwendung wieder zusammengeführt werden müssen, weil die Gesetzesparagrafen als Gebot oder Verbot unvollständig bleiben.
Die Vorbereitung Allgemeiner Teile ist Aufgabe der Rechtsdogmatik, die Umsetzung Aufgabe der Gesetzgebung. Die Allgemeine Rechtslehre verfügt insoweit nicht über bessere Methoden und Einsichten als die dogmatischen Fächer. Es gibt auch keinen Grund, die Abstraktionsleistungen der dogmatischen Fächer gering zu schätzen. Sie kennen die Problematik und kritisieren Defizite, so, wenn im Hinblick auf die Schuldrechtsreform von 2002 beanstandet wird, dass die Regelung über die AGB in den §§ 305 ff. BGB wegen des Sachzusammenhangs mit der Rechtsgeschäftslehre nicht in das Schuldrecht, sondern in den Allgemeinen Teil gehört hätte, ebenso die neue Vorschrift des § 313 BGB über die Störung der Geschäftsgrundlage wegen ihres Zusammenhangs mit der Irrtumsproblematik.
Es liegt immerhin nahe, nach einem Allgemeinen Teil für das gesamte Recht zu fragen.
1927 erschien tatsächlich einmal ein Buch mit dem Titel »Der Allgemeine Teil des Rechts« von Karl Friedrichs. Allerdings stelle schon der Untertitel klar, dass es sich nur um »eine Darstellung des öffentlichen und des Privaten Rechts« handeln sollte.
Angesichts der Vielfalt des Rechts oder vielmehr der Probleme, wie sie heute wahrgenommen werden, erscheint die Entwicklung eines Allgemeinen Teils allen Rechts in weiter Ferne, es sei denn, man nimmt die sich anbahnende Konstitutionalisierung als ersten Schritt oder man begnügt sich mit einigen Rechtsgrundsätzen, die sich aus lateinischen Rechtssprichwörtern zusammenstellen lassen (u. § xxx). Darüber hinaus bieten sich als allgemeine Regeln für alle Rechtsgebiete neben den allgemeinen Rechtfertigungsgründen (u. § 103 II) nur die Regeln über die Garantenstellung an, die für bestimmte Situationen den Kreis der freigestellten Handlungen so verengen, dass sich ein Gebot ergibt, dessen Missachtung als Unterlassung sanktioniert werden kann.