§ 46 Zur Logik kollektiver Entscheidungen

Literatur: Kenneth Joseph Arrow/Amartya Sen/Kōtarō Suzumura (Hg.), Handbook of Social Choice and Welfare, 2 Bde, 2011; Duncan Black, The Theory of Committees and Elections, Dordrecht 1987 Ernst Breetzke, Abstimmung, Spruch, Gründe, DRiZ 1962, 5-8; Bernd Schauenberg, Zur Logik kollektiver Entscheidungen, 1978; Amartya Sen, Collective Choice and Social Welfare, 1977; ders., The Possibility of Social Choice, The American Economic Review 89, 1999, 349-378; Lawrence Solum, LTL: Legal Theory Lexicon: Social Welfare Functions. Für eine ausführlichere Darstellung der in diesem Abschnitt angesprochenen Probleme sei auf das Lehrbuch von Jochen Dehling/Klaus Schubert, Ökonomische Theorien der Politik, 2011, verwiesen.

I. Individuelle und kollektive Präferenzordnungen

Entscheiden heißt, zwischen zwei oder mehr Zwecken zu wählen. Die Wahl erfolgt auf Grund einer vergleichenden Bewertung der Zwecke; der bessere Zweck wird vorgezogen. Stehen mehr als zwei Zwecke zur Wahl, so müssen die Zwecke transitiv geordnet werden.

Der Begriff der Transitivität ist aus der Mengenlehre geläufig. Er beschreibt die Beziehungen zwischen drei und mehr Mengen. Wenn diese Mengen umfangsgleich sind, leuchtet sofort ein, was mit Transitivität gemeint ist.

Wenn A = B und B = C, dann A = C.

(A = B ∧ B = C) => A = C

Auch die Teilmengenrelation ist transitiv. Wenn A eine Teilmenge von B ist und B eine Teilmenge von C, dann ist A eine Teilmenge von C. Man kann auch umgangssprachlich sagen, in diesem Falle sei C größer als B sowie B größer als A und damit C auch größer als A.

(A ⊆ B ∧ B ⊆ C) => A ⊆ C

Ein Individuum, das für sich selbst entscheidet, braucht dafür keine Gründe. Gelingt es ihm, seine Handlungsmöglichkeiten in eine transitive Ordnung zu bringen, ist damit die Entscheidung gefallen. Rechtsentscheidungen sind jedoch keine individuellen, denn sie betreffen immer auch andere. Haben alle Betroffenen ihre Alternativen in gleicher Weise geordnet, dann ist auch hier die Entscheidung kein Problem. Es besteht Konsens, so dass eine Entscheidung nicht mehr notwendig ist. Wenn jedoch kein Konsens zu erreichen ist, erhebt sich die Frage, wie aus den Einzelentscheidungen eine Gruppenentscheidung abgeleitet werden kann. Zunächst ist an Wahlen oder Abstimmungen zu denken. Doch sobald mehr als eine einfache Alternative zur Entscheidung ansteht, sie lösen sie nicht alle Probleme. Das zeigen das berühmte Condorcet-Paradox und ähnlich Abstimmungsprobleme bei Gericht. Es fehlt, technisch formuliert, an einer Sozialwahlfunktion. Gemeint ist eine Rechenformel, mit deren Hilfe sich aus individuellen Präferenzordnungen eine überzeugende kollektive Reihung bilden lässt. Das hat Kenneth J. Arrow mit dem von ihm so genannten Unmöglichkeitstheorem gezeigt.

II. Das Condorcet-Paradox

Bei drei oder mehr Entscheidungsmöglichkeiten kann eine Mehrheitsentscheidung zu intransitiven Ergebnissen führen, auch wenn die Individuen ihre Präferenzen jeweils transitiv geordnet haben. Intransitive Präferenzordnungen werden aber allgemein nicht als rational angesehen. Das sogenannte Abstimmungsparadox wurde zuerst von Marquis de Condorcet (1743–1794) beschrieben. Es ist, wenn auch nicht unter diesem Namen und oft nur intuitiv, jedem erfahrenen Parlamentarier oder Vereinsmitglied vertraut.

Angenommen, die drei Richter einer Zivilkammer haben über die Gültigkeit eines Testaments zu befinden, in dem der Erblasser seine Geliebte zur Erbin bestimmt und seine Ehefrau und die ehelichen Kinder auf den Pflichtteil gesetzt hat. Richter R1 möchte das Testament nach § 138 BGB als sittenwidrig für nichtig erklären (A). Notfalls könnte er sich damit abfinden, das Testament teilweise aufrechtzuerhalten derart, dass die Geliebte testamentarische Erbin zu einer Hälfte und Ehefrau sowie Kinder gesetzliche Erben zur anderen Hälfte würden (B). Er meint aber, keinesfalls dürfe das Testament in vollem Umfang als wirksam angesehen werden (C). Richter R1 stellt also A über B und B über C (und folglich A über C). Er ordnet seine Präferenzen transitiv. Richter R2 möchte am liebsten das Testament teilweise bestehen lassen, es aber eher insgesamt bestätigen als es insgesamt für nichtig zu erklären. R2 stellt also B über C und C über A (und folglich B über A). Richter R3 hält das Testament für wirksam, er hat aber dogmatische Bedenken gegen jede richterliche Gestaltung und zieht deshalb die Nichtigerklärung einer modifizierten Aufrechterhaltung vor. R3 stellt also C über A und A über B (und folglich C über B).

R1 : A > B > C

R2 : B > C > A

R3 : C > A > B

Es stellen also zwei Richter (R1 und R3) Nichtigkeit (A) über Teilnichtigkeit (B) und ebenfalls zwei Richter (R1 und R2) Teilnichtigkeit (B) über Wirksamkeit (C). Man sollte annehmen, dass damit die Wirksamkeit (C) als Lösung ausscheidet. Aber es findet sich auch eine Mehrheit zusammen, die die Wirksamkeit (C) der vollen Nichtigkeit (A) vorzieht (R2 und R3). Wenn es dem Vorsitzenden gelingt, zuerst die Frage zur Abstimmung zu stellen, ob das Testament für wirksam erklärt werden soll, wird allein R3 dafür stimmen, R1 und R2 dagegen. Wenn danach über Nichtigkeit oder Teilwirksamkeit abgestimmt wird, votieren R1 und R3 zusammen für Nichtigkeit. Wäre zuerst gefragt worden, ob das Testament nichtig sei, so käme im Ergebnis Teilwirksamkeit heraus, und hätte der Vorsitzende zu Beginn nach den Stimmen für Teilnichtigkeit gefragt, so wäre das Testament am Ende für wirksam erklärt worden. Das Ergebnis hängt also von der Reihenfolge der Fragen ab. Die Beisitzer dürfen es nicht dem Vorsitzenden überlassen, diese Reihenfolge zu bestimmen. Bei Meinungsverschiedenheiten über die Reihenfolge der Abstimmungsfragen entscheidet nach § 194 II GVG das Gericht. Wenn aber jedes Mitglied der Kammer die Konsequenzen der Abstimmungsreihenfolge voll übersieht, so wird keine Mehrheit für eine bestimmte Reihenfolge zu erreichen sein, solange man allen Stimmen gleiches Gewicht gibt.

Abstimmungsprobleme bei Gericht

Literatur: Ernst Beling, Bindings Lehre von der Abstimmung im Strafgericht, ZStW 37, 1916, 365-385; Karl Binding, Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts, 2008 [1876]; Ernst Breetzke, Abstimmung, Spruch, Gründe, DRiZ 1962, 5-8; Wolfgang Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, Group choice in europäischen Justiztraditionen, 2016; Roman Kaiser, Das Mehrheitsprinzip in der Judikative, 2019; Lewis A. Kornhauser/Lawrence G. Sager, Unpacking the Court, Yale Law Journal 96, 1986, 82-117; dies.; The One and the Many: Adjudication in Collegial Courts, California Law Review 81, 1993, 1-59; dies., The Many as One: Integrity and Group Choice in Paradoxical Cases, Philosophy and Public Affairs 32, 2004, 249-276.

Das einfachste Rezept für eine Gruppenentscheidung wäre ein Mehrheitsbeschluss. Stehen mehr als zwei Entscheidungen zur Wahl, so kommen oft keine eindeutigen Mehrheiten zustande. Dann muss man sich entscheiden, ob man der Ansicht der relativ größten Gruppe den Vorzug geben oder Koalitionen zwischen zwei oder mehreren Gruppen bilden will. Man könnte daran denken, die Mehrheitsauffassung in einem Reduktionsverfahren analog § 196 GVG zu gewinnen, indem man die für eine extreme Ansicht abgegebene Stimme der jeweils weniger extremen so lange zuzählt, bis sich eine Mehrheit ergibt. Dieses Verfahren setzt aber voraus, dass die Rangordnung der Entscheidungsmöglichkeiten für alle Abstimmenden die gleiche ist. Nur dann lässt sich bestimmen, welches der »weitergehende« Antrag ist. Tatsächlich fehlt es bei vielen Fragen an einer übereinstimmenden Reihung der Entscheidungsalternativen.

Beispiel: Bilden sich in einer Strafsache, von der Schuldfrage abgesehen, mehr als zwei Meinungen, deren keine die erforderliche Mehrheit für sich hat, so werden nach § 196 III 2 GVG die dem Beschuldigten nachteiligsten Stimmen den minder nachteiligen solange zugerechnet, bis sich die erforderliche Mehrheit ergibt. Bilden sich in der Straffrage zwei Meinungen, ohne dass eine die erforderliche Mehrheit für sich hat, so gilt die mildere Meinung. Angenommen, das Gericht hält den Angeklagten eines Verkehrsvergehens für schuldig. Zur Auswahl stehen neun verschiedene Kombinationen von Strafen und Nebenfolgen:

Geldstrafe allein

Geldstrafe mit Fahrverbot

Geldstrafe mit Entziehung der Fahrerlaubnis

Freiheitsstrafe mit Bewährung

Freiheitsstrafe mit Bewährung und Fahrverbot

Freiheitsstrafe mit Bewährung und Entziehung der Fahrerlaubnis

Freiheitsstrafe ohne Bewährung

Freiheitsstrafe ohne Bewährung mit Fahrverbot

Freiheitsstrafe ohne Bewährung mit Entziehung der Fahrerlaubnis.

In der Praxis wird sich die Auswahl auf wenige Möglichkeiten konzentrieren. Auch dann bleibt jedoch die Notwendigkeit, jedenfalls diese der Schwere nach zu ordnen. Zumindest das Verhältnis von Geldstrafe und Freiheitsstrafe mit Bewährung sowie die Bewertung der Entziehung der Fahrerlaubnis und des Fahrverbots dürften, fragte man nach der Meinung des Angeklagten, sehr zweifelhaft sein. Ohne dogmatische Krücken wie hier den Grundsatz, dass eine Geldstrafe stets leichter anzusehen ist als eine Freiheitsstrafe, und sei sie auch zur Bewährung ausgesetzt, wird man nicht ein für alle Mal sagen können, welche Sanktion für den Angeklagten nachteiliger ist.

Abstimmungsprobleme können auch entstehen, wenn sich die Beteiligten grundsätzlich einig sind, dass für eine Entscheidung bestimmte Gründe relevant sein sollen, wenn sie sich aber über das Vorliegen dieser Gründe nicht verständigen können. Eine solche Situation kann bei allen Kollegialgerichten eintreten.

Beispiel: A ist wegen Mordes angeklagt. Über die Anklage entscheidet nach § 74 II GVG die Schwurgerichtskammer. Sie ist nach § 76 II GVG mit drei Richtern und zwei Schöffen besetzt. Nach § 263 I StPO ist für einen Schuldspruch eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, so dass mehr als eine Gegenstimme zum Freispruch führt. Angenommen nun, R1 ist der Ansicht, A sei gar nicht der Täter; R2 meint, A habe in Notwehr gehandelt; und R3 hält A wegen eines zur Tatzeit gegebenen nicht beherrschbaren Affekts für schuldunfähig, dann könnte entweder über die verschiedenen Gründe oder sogleich über das Ergebnis abgestimmt werden. Würde nach Elementen abgestimmt, gäbe es für keinen der zum Freispruch führenden Gründe mehr als eine Stimme. Der Angeklagte würde im Ergebnis verurteilt. Wird dagegen sogleich über die Schuldfrage abgestimmt, so werden drei Richter die Schuld verneinen und der Angeklagte wird freigesprochen. Wie also ist abzustimmen?

Die Reihenfolge der Abstimmung regelt nach § 194 II GVG der Vorsitzende. Wäre er darin frei, könnte er das Ergebnis der Abstimmung manipulieren. Wie zu verfahren ist, wurde schon im 19. Jahrhundert ausführlich diskutiert (Ernst S. 170ff) und war später Gegenstand einer Kontroverse zwischen den zu ihrer Zeit prominenten Strafrechtlern Beling und Binding. Beling hat sich mit der Auffassung durchgesetzt, dass mindestens zur Schuldfrage nicht nach Elementen, sondern über das Ergebnis abgestimmt werden müsse, damit nicht eine Entscheidung zustande kommt, die die Mehrheit der Richter gar nicht will.

Die Begründung ist plausibel. Dennoch muss die Lösung, die sich im Strafprozess durchgesetzt hat, nicht unbedingt die richtige sein. Im Zivilprozess verfährt man gerade umgekehrt und stimmt nach Urteilselementen ab, obwohl dadurch ein Ergebnis entstehen kann, dass eigentlich keiner der Richter wünscht, wie in den beiden folgenden Fällen:

In einem Verfahren nach §§ 114 ff. ZPO wollen alle drei Richter der Zivilkammer dem Antragsteller die beantragte Prozesskostenhilfe versagen, und zwar R1, weil die Klage keine Erfolgsaussicht hat, R2, weil A nicht mittellos ist, und R3, weil er die Klage des A für mutwillig hält. Da sich für keinen dieser Ablehnungsgründe eine Mehrheit findet, wird die Prozesskostenhilfe am Ende bewilligt.

In einem Zivilprozess verlangt der Kläger die Rückzahlung eines Darlehens. R1 ist nicht davon überzeugt, dass der Beklagte das Darlehen überhaupt erhalten habe. R2 dagegen sieht es als bewiesen an, dass das Darlehen zurückgezahlt wurde. R3 schließlich meint, die Forderung sei durch einen Vergleich erledigt. Im Ergebnis muss die Kammer den Beklagten verurteilen.

Maßgeblich für diese Art der Abstimmung ist die Vorstellung, dass das Urteil die tragenden Gründe erkennen lassen muss, und das geht wiederum nur, wenn auch über die Gründe abgestimmt wird. Auch diese Begründung ist einleuchtend. Wir setzen voraus, dass jeder Richter sich für die Abstimmung eine wohlbegründete Meinung gebildet hat. Die Abstimmung dient nur noch dazu, Punkt für Punkt die nicht immer erreichbare Einstimmigkeit zu ersetzen. Amerikanische Autoren haben diese Konstellation (ohne Kenntnis der deutschen Diskussion) zum doctrinal paradox stilisiert (Kornhauser/Sager 1993).

In der politischen Wissenschaft befasst man sich mit analogen Situationen, in denen individuelle Präferenzen und kollektive Entscheidungen auseinanderfallen können. So kann es geschehen, dass sachliche Minderheitspositionen sich bei Wahlen und Abstimmungen durchsetzen, wenn über Gesamtprogramme abgestimmt wird. Dieses Phänomen wird als Ostrogorski-Paradoxon behandelt (Hans Daudt/Douglas W. Rae, The Ostrogorski Paradox: A Peculiarity of Compound Majority Decision, European Journal of Political Research 4, 1976, 391-398). In der Diskussion um die Möglichkeiten einer deliberativen Demokratie ist die Problematik als diskursives Dilemma bekannt (Christian List/Philip Pettit, Aggregating Sets of Judgments: Two Impossibility Results Compared, Synthese 140, 2004, 207-235).

IV.   Arrows Unmöglichkeitstheorem

Literatur: Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values, 1951 (2. Aufl. 1963); Marietta Auer, Willkür rechtlicher Entscheidungsverfahren? Die Auswirkungen von Arrows »General Possibility Theorem« auf Wahl- und Abstimmungsverfahren des geltenden Rechts, ARSP 88, 2002, 1-27.

Schon an dem einfachen Beispiel des Abstimmungsparadoxons wird klar, wie schwierig es sein kann, auf rationale Weise aus den Wertungen mehrerer eine einheitliche Entscheidung zu gewinnen. 1951 hat Kenneth J. Arrow den systematischen Beweis erbracht, dass es eine Sozialwahlfunktion, die gewisse Fairnessbedingungen erfüllt, aus logischen Gründen nicht geben könne.

Wenn mehrere Personen mit unterschiedlichen Interessen eine gemeinsame Entscheidung treffen wollen, brauchen sie dafür eine Verfassung, sie müssen sich zuvor auf eine Entscheidungsregel einigen. Diese Regel muss, um akzeptabel zu sein, gewisse Rationalitätsbedingungen erfüllen. Arrow nennt vier Bedingungen, denen die Entscheidungsregel genügen müsste, um »demokratisch« genannt werden zu können.

  1. Die gesuchte Entscheidungsregel muss geeignet sein, alle (logisch) möglichen individuellen Präferenzordnungen zu einer kollektiven zu verarbeiten. Die Individuen dürfen also die verfügbaren Wahlmöglichkeiten in beliebiger Folge reihen, solange nur ihre individuelle Ordnung transitiv bleibt (unbeschränkte Präferenzen). Auch Indifferenzen sollen zugelassen werden, also die Gleichbewertung von zwei oder mehr Wahlmöglichkeiten. Die Methode der einfachen Mehrheit erfüllt diese Anforderung nicht. Das zeigt der Fall des Abstimmungsparadoxons.
  2. Zwischen individuellen Präferenzen und der gesuchten kollektiven Präferenzordnung soll eine positive Beziehung bestehen. Deswegen wird gefordert, dass auch für das Kollektiv die Alternative A vor der Alternative B rangieren muss, wenn alle Mitglieder die Möglichkeit A der Möglichkeit B vorziehen (schwaches Pareto-Prinzip).
  3. Die Entscheidung soll von irrelevanten Alternativen unabhängig sein. Eine kollektive Entscheidung bezüglich einer bestimmten Alternativenmenge soll allein davon abhängen, wie die Individuen diese Alternativen geordnet haben, nicht aber davon, wie sie ganz andere Wahlmöglichkeiten einander zuordnen.
  4. Die letzte Bedingung ist das Diktatorverbot: Unannehmbar sind alle Regeln, die einer einzigen Person eines Kollektivs gestatten würden, ihre Präferenzordnung unabhängig von den Präferenzordnungen der anderen Mitglieder durchzusetzen. Ausgeschlossen wäre also eine Entscheidungsregel, nach der jeweils die Präferenzordnung der ältesten Person auch für die Gruppe maßgebend sein soll.

Das Unmöglichkeitstheorem besagt, dass es keine Rechenformel gibt, die den vier Bedingungen genügt, wenn das Kollektiv mindestens zwei Personen umfasst und mindestens drei Möglichkeiten zur Wahl stehen. Der mathematische Beweis ist in der Literatur vielfach überprüft und durch andere Beweiswege verbessert worden, so dass er heute als gesichert gilt. Man kann daher nur die von Arrow gestellten Fairnessbedingungen kritisieren. Aber diese Bedingungen sind völlig plausibel, ja sie erscheinen eher zu milde als zu streng. Aus empirischer Sicht kann man allenfalls geltend machen, dass die erste Bedingung, die die Berücksichtigung aller logisch möglichen Präferenzordnungen verlangt, unrealistisch ist, weil die Palette der logisch möglichen Anordnungen praktisch nicht ausgeschöpft wird. Oft ist die Menge der individuell vorkommenden Präferenzordnungen, z.B. durch eine polarisierende Moral, beschränkt, so dass die Mehrheitswahl möglich wird. Wo das jedoch nicht der Fall ist, also in einer pluralistischen Gesellschaft, sind Entscheidungsinstanzen notwendig, die nicht direkt an die Präferenzordnungen der Gruppenmitglieder gebunden sind. Kollegiale Instanzen wie das Parlament ohne imperatives Mandat oder unabhängige Gerichte können das Problem zwar nicht lösen, aber doch vereinfachen, so dass Abstimmungen in der Regel zum Ziel führen.
Heute wird die Suche nach nach formalen Regeln zur Ableitung kollektiver Entscheidungen auf breiterer Basis unter dem Titel judgement aggregation geführt (Franz Dietrich, A Generalised Model of Judgment Aggregation, Social Choice and Welfare 28, 2007, 529-565; Davide Grossi/Gabriella Pigozzi, Judgment Aggregation, A Primer, Synthesis Lectures on Artificial Intelligence and Machine Learning 8, 2014, 1-151; Christian List, The Theory of Judgment Aggregation, Synthese 187, 2012, 179-207). Die Suche hat bisher immer wieder für alle bedachten Konstellationen das Unmöglichkeitstheorem Arrows bestätigt.

V.   Amartya Sens liberales Paradox

Literatur: Amartya Sen, The Impossibility of a Paretian Liberal, Journal of Political Economy 78, 1970, 152-157; James S. Coleman, Körperschaften und die moderne Gesellschaft, 1992, S. 16-24; Hartmut Kliemt, Das Paradox des Liberalismus – eine Einführung, Analyse & Kritik 18, 1996, 1-19.

Das liberale Paradox von Amartya Sen ist eine Abwandlung von Arrows Unmöglichkeitstheorem, welche die ersten beiden der von Arrow genannten vier Bedingungen (unbeschränkte Präferenzen = U und schwaches Pareto-Prinzip = P) mit einer Liberalismusbedingung (L) verbindet:

Für jedes Mitglied einer Gesellschaft gibt es mindestens zwei Zustände, zwischen denen es frei entscheiden kann, das heißt, wenn Individuum1 den Zustand A dem Zustand B vorzieht, dann ist auch kollektiv A die bessere Alternative.

Schon bei einer Gesellschaft mit nur zwei Mitgliedern I1 und I2 ist diese Liberalismusbedingung nicht erfüllbar. Das zeigt Sen jenseits der formalen Ableitung mit einem Beispiel. Die Gesellschaft besteht aus den Mitgliedern IP (Prude) und Il (Lascivious). Zur Verfügung steht ein Exemplar von Lady Chatterleys Lover. L möchte am liebsten, dass beide das Buch lesen. P dagegen, dass keiner liest. Damit das Pareto-Prinzip ins Spiel kommen kann, müssen allerdings mehr als zwei Zustände bedacht werden. Sen betrachtet nur drei, aber vier kommen in Betracht:

A = beide lesen.

B = nur P liest.

C = nur L liest.

D = keiner liest.

Beide Spieler müssen ihre Präferenzen transitiv ordnen. L findet es am besten, wenn beide lesen, immer noch gut, wenn P allein liest, eher schlecht, wenn nur er lesen soll und am schlechtesten, wenn keiner liest. Er ordnet die die Zustände also in der Reihenfolge

A > B > C > D.

Für P dagegen soll am besten keiner lesen. Aber wenn schon, dann nur P selbst. L soll also eher nicht lesen, und schon gar nicht alle beide. Daraus ergibt sich folgende Ordnung:

D > B > C > A.

Wenn nun nach dem Liberalitätsprinzip jede Person über eine Sphäre verfügt, in der sie frei über ihr Tun bestimmen kann, wenn L also bestimmen kann, ob er liest oder nicht, dann hat er die Entscheidungsmacht über C und D. L wird sich für Lesen entscheiden. Das Ergebnis ist C. Umgekehrt entscheidet P über A und C. Wenn P nach ihrer Präferenzordnung für sich selbst entscheidet, nicht zu lesen, wäre das Ergebnis wieder C: Nur L liest. Dieses Ergebnis ist insofern paradox, als beide die Lösung B – nur P liest – der Lösung C vorziehen. B wäre pareto-optimal, denn so wären beide bessergestellt als bei C.

Um dieses verwirrende Ergebnis auszuräumen, könnte man an jeder der drei Bedingungen schrauben. Für das konkrete Beispiel würde man wohl die unbeschränkte Präferenzordnung korrigieren wollen. Wenn die Präferenzen von P spiegelbildlich zu denen von L in der Reihenfolge D > C > B > A geordnet wären, gäbe es kein Pareto-Optimum. Man könnte das Pareto-Prinzip abschwächen mit der Annahme, dass die liberale Entscheidung als solche einen Wert darstellt, der in den individiuellen Präferenzordnungen und damit durch das durch das Pareto-Prinzip nicht berücksichtigt ist. Oder es ließe sich die Liberalismusbedingung aufweichen, indem man die Entscheidung einem wohlwollenden Despoten übertrüge. In der Rechtspraxis wird das »Paradox« dadurch abgemildert, dass die liberale Position, die Kontrollrechte gewährt, als Tauschobjekt verhandelbar ist (Coleman).

VI.   Abstimmungsregeln in der Demokratie

Literatur: Duncan Black, The Theory of Committees and Elections, 1958; James M. Buchanan/Gordon Tullock, The Calculus of Consent. Logical Foundations of Constitutional Democracy, 1962; James M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, 1984; Douglas W. Rae, Decision-Rules and Individual Values in Constitutional Choice, The American Political Science Review 63, 1969, 40-56; Charles K. Rowley/Friedrich G. Schneider (Hg.), Readings in Public Choice and Constitutional Political Economy, 2008.

Die Vertragstheorien der Rechtsphilosophen von Hobbes und Locke über Rousseau bis zu Rawls überlegen, wie Menschen, die von Natur aus ungleich sind und deshalb unterschiedliche Präferenzen haben, eine kollektive Ordnung schaffen können, in welcher der individuelle Gebrauch von Freiheit und Eigentum möglichst nicht auf Kosten Dritter geht, also keine externen Kosten verursacht. Die Frage wird heute von Ökonomen als Theorie der Sozialwahl (Public Choice) thematisiert.

Als Gründer der Public-Choice-Theorie gilt Duncan Black mit seinem Aufsatz »On the Rationale of Group Decision-Making« von 1948 (Journal of Political Economy 56, 1948, 23–34).

Nach Ansicht von Buchanan und Tullock hängt die Ausgestaltung der kollektiven Ordnung, die wir Staat nennen, davon ab, welche Kosten aus Sicht der Individuen mit den denkbaren Lösungen verbunden sind. Sie unterscheiden für ihre Überlegungen zwei Kostenarten, nämlich externe Kosten des privaten Freiheits- und Eigentumsgebrauchs und die Kosten einer kollektiven Entscheidung. Im Prinzip stehen drei Möglichkeiten zu Verfügung: Es entscheidet ein einzelner als Diktator. So entstehen keine Entscheidungskosten, aber die externen Kosten sind unabsehbar. Dieses Modell scheidet daher aus. Dann bleiben als Modelle Einstimmigkeitsprinzip oder Mehrheitsregel. Wird Einstimmigkeit erfordert, werden externe Kosten vermieden, aber die Entscheidungskosten können unendlich steigen, da jedes Individuum über eine Vetoposition verfügt. Bei Mehrheitsentscheidungen können sowohl Entscheidungskosten als auch externe Kosten anfallen. Rationale Individuuen werden Entscheidungsregeln wählen, durch welche die Summe der beiden Kostenarten minimiert wird. Allerdings müssen sie sich für eine Regel entscheiden, ohne zu wissen, wie sich ihre Präferenzen zukünftig gestalten und wie sie daher von den Entscheidungen betroffen sein werden. Diese Ungewissheit – die Rawls später als »Schleier der Ungewissheit« zu einem Topos der Sozialvertragstheorie gemacht hat – veranlasst Buchanan und Tullock, implizit ein weiteres Standardtheorem der Rechtstheorie zu verwenden, nämlich die von H. L. A. Hart eingeführte Unterscheidung von primären und sekundären Regeln (u. XXX). Buchanan und Tullock unterscheiden zwischen zwei Stufen von Entscheidungsregeln. Auf der ersten Stufe werden die Regeln der Verfassung festgelegt, nach denen später über konkrete Sachfragen entschieden werden soll. Auf dieser Stufe ist die Ungewissheit so groß, dass es rational erscheint, einstimmig zu entscheiden. Auf der nachfolgenden Ebene operationaler Entscheidungen kann dann mit Mehrheit entschieden werden. Qualifizierte Mehrheiten reduzieren externe Kosten, erhöhen aber die Entscheidungskosten. Durch die Verlagerung der Entscheidungen auf Repräsentanten lassen sich die Entscheidungskosten reduzieren, ohne dass die externen Kosten in gleichem Maße ansteigen. Ein Zwei-Kammersystem könne die externen Kosten weiter reduzieren, wenn die beiden Kammern unterschiedlich zusammengesetzt seien. Die Entscheidungskosten seien hier geringer als bei qualifizierten Mehrheiten in einem Einkammersystem.

Ein Repräsentativsystem setzt Wahlen voraus. Auf den ersten Blick möchte man glauben, dass ein Wähler, der einen bestimmten Kandidaten präferiert, auch zur Wahl geht. 1957 erschien die Dissertation von Anthony Downs mit dem Titel »An Economic Theory of Democracy«. Sie wurde zu einer der einflussreichsten politikwissenschaftlichen Analysen des 20. Jahrhunderts. Geläufig ist daraus vor allem das Paradox der Wahlbeteiligung (paradox of voting). Es besagt, dass für einen rational handelnden Wahlberechtigten die Chance, mit seiner Stimme etwas für sich zu erreichen, so gering ist, dass sie die mit der Stimmabgabe verbundenen Aufwendungen nicht lohnen. Egoistisch instrumentales Handeln reicht also nicht aus, um die Wahlbeteiligung zu sichern. Es müssen dafür andere Motive gesucht werden. Vermutlich ist die Wahl für viele Wähler ein expessives Verhalten, das für sich genommen als Belohnung empfunden wird.

Ein Repräsentativsystem mit den dazu erforderlichen Wahlen lässt sich nicht ohne die Vermittlung von Parteien einrichten. Die Parteien entwickeln jedoch gegenüber ihren Mitgliedern eine Eigenständigkeit, die Robert Michels in einer klassischen Studie (Soziologie des Parteiwesens, 2. Aufl. 1925) als das »eherne Gesetz der Oligarchie« beschrieben hat. Eine aktuelle Untersuchung der «Krise« der Parteiendemokratie bietet Emanuel V. Towfigh, Das Parteien-Paradox, 2015.

Politische Entscheidungen nach Mehrheitsregeln bleiben kein einmaliges Ereignis, sondern wiederholen sich in einem fortlaufenden Prozess. Wiederholte Mehrheitsentscheidungen bieten die Möglichkeit des Stimmentauschs Buchanan/Tullock (S. 104ff) sprechen von logrolling. Wer für die eigenen Präferenzen keine Mehrheit zusammenbringt, kann seine Wünsche in weniger wichtigen Angelegenheiten zurückstellen und mit anderen Gruppen stimmen in der Hoffnung oder gar mit der Abrede, dass der Verzicht bei einer künftigen Abstimmung honoriert wird. Diese politische Praxis lässt sich kritisieren, weil sie den Wählerwillen nicht korrekt wiedergibt.

Abstimmungen sind ein zentrales Instrument der Demokratie. Die Überlegungen zur Logik kollektiver Entscheidungen zeigen jedoch, dass Abstimmungen letztlich nicht geeignet sind, unterschiedliche Auffassungen zu einer Entscheidung zu harmonisieren. Auch ein Repräsentativsystem ist keine Lösung. Es hilft in erster Linie, die praktisch nicht zu handhabende Vielzahl der sonst notwendigen Urabstimmungen zu vermeiden, in zweiter Linie vielleicht auch, die inhaltliche Qualität der Entscheidung zu filtern. Um zu brauchbaren Entscheidungen zu gelangen, bedarf es weiterer Mechanismen wie unabhängige Mandate, Kolitionsbildung und Fraktionszwang. Doch letztlich lässt sich Demokratie als Verfahren zur Gewinnung kollektiver Entscheidungen nicht aus einzelnen Bausteinen zusammensetzen. Demokratie funktioniert nur als Institution, in der Verfahrens- und Abstimmungsregeln von einer demokratischen Gesinnung getragen werden, das heißt, von der Grundeinstellung, dass politische Entscheidungen nicht direkt interessengeleitet getroffen werden dürfen, sondern einen Interessenausgleich zum Ziel haben, langfristig orientiert sind und einige Grundwerte als Schranke und Verpflichtung berücksichtigen.