I. Zwecke
Zwecke sind die beabsichtigten Folgen einer Handlung. Handlung soll hier die Überführung einer Situation in eine andere genannt werden. In diesem Sinne handelt der Bürger, wenn er arbeitet oder kauft, aber auch, wenn er Verträge bricht oder stiehlt. Es handeln der Richter, wenn er über eine Klage urteilt, und der Abgeordnete, wenn er über neue Gesetze abstimmt. Als Situation bezeichnen wir ein Gefüge von irgendwelchen Beziehungen zwischen Personen und Gegenständen. »Situation« ist immer nur ein Ausschnitt aus der Welt.
Für die Frage, wie die Situation von den handelnden Personen »definiert« wird, sind Psychologie und Soziologie zuständig; zur Orientierung und als Quelle für Nachweise vgl. Hartmut Esser, Die Definition der Situation, Kölner Zf Soziologie und Sozialpsychologie 48, 1996, 1-34.
Wer sich nicht treiben lässt, sondern sinnvoll handeln will, muss sich Ziele oder Zwecke setzen und nach Mitteln fragen, mit denen sie verwirklicht werden können. Er muss also fragen, welche Verhaltensweisen (= Mittel) geeignet sind, eine gegebene Ausgangssituation in eine gewünschte andere Situation (= Zweck) zu überführen. Ein Zweck kann darauf beschränkt sein, den gegebenen Zustand vor Veränderungen zu bewahren, eine Entwicklungstendenz zu beschleunigen oder sie zu bremsen.
Ziel oder Zweck einer Handlung ist also die Überführung der gegebenen Situation in eine bestimmte andere. Ich gehe zum Bäcker, um mir ein Brot zu holen, das ich vorher nicht hatte. Dabei ist das unmittelbare Ziel oft nur eine Zwischenstation, also seinerseits nur Mittel zu einem ferneren Zweck. Das Brot soll mir dazu dienen, beim Frühstück meinen Hunger zu stillen. Wenn das Brot schmeckt und auch der Kaffee duftet, ist das Frühstück ein Genuss und damit Zweck an sich selbst. Das schließt nicht aus, die Mahlzeit ihrerseits als Mittel zu einem ferneren Zweck anzusehen, nämlich als Mittel, um leistungsfähig, gesund und letztlich überhaupt am Leben zu bleiben. So kann derselbe Zweck gleichzeitig bloß als Zwischenstation und als Selbst- oder Endzweck erscheinen.
Zwecke lassen sich relativ eng und konkret oder weit und abstrakt formulieren. Sie werden umso abstrakter, je mehr man sich einem Endzweck nähert. Von einem Zweck ist jedoch nur solange die Rede, wie ein erstrebter Zustand so genau angegeben wird, dass sich nach Einsatz der vorgesehenen Mittel beurteilen lässt, ob der Zweck erreicht ist. Um einer Krankheit vorzubeugen, lasse ich mich impfen. Um Heizkosten zu sparen, versehe ich mein Haus mit einer Isolierung. Will ich Sonne genießen, buche ich eine Reise an das Mittelmeer. Zweck einer Handlung ist eine operational beschriebene künftige Situation.
Ein Zweck kommt selten allein. Meist haben Menschen viele Wünsche, die als Handlungszwecke in Betracht kommen. Daher redet man in den Sozialwissenschaften von Präferenzen. Der Begriff weist sogleich darauf hin, dass konkurrierende Zwecke geordnet werden müssen (u. § 46 I). Die Auswahl zwischen den vielen denkbaren und vielleicht auch realisierbaren Zwecken trifft der Einzelne nach Maßgabe seiner Interessen (u. III).
II. Kosten, Nebenfolgen und Funktionen
Literatur: Hans-Jürgen Aretz, Funktionalismus und Neofunktionalismus, 2022; Ulrich Beck/Boris Holzer/André Kieserling, Nebenfolgen als Problem soziologischer Theoriebildung, in: Ulrich Beck ua. (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, 2001, 63-81; Stefan Böschen u. a., Die Renaissance des Nebenfolgentheorems in der Analyse moderner Gesellschaften, in: Stefan May u. a. (Hg.), Nebenfolgen, 2006, 7-38; Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 1968; Lawrence B. Solum, LTL 40: Functional Explanation in Legal Theory.
Funktionen sind Wirkungen, die ohne Rücksicht darauf eintreten, ob sie bezweckt worden sind.
Im römischen Recht verstand man unter functio die einer Person oder Institution obliegende öffentliche Aufgabe mit den zu ihrer Wahrnehmung erforderlichen Rechten und Pflichten, Amtshandlungen und Tätigkeiten. In Mathematik und Physik bezeichnet Funktion die Abhängigkeit einer Größe f von anderen Größen g1 … gn. In der Soziologie wird der Funktionsbegriff zu Erklärung der Entstehung und des Bestandes sozialer Strukturen verwendet.
Eine Zweckanalyse ist zielgerichtet = teleologisch. Sie vergleicht Wirkungen mit den Absichten handelnder Personen. Eine Funktionsanalyse ist demgegenüber »systematisch«. Sie untersucht Wirkungen im Hinblick auf ihre Bedeutung in einem System, das heißt, in einem Komplex von Elementen, die sich als zusammengehörig von einer Umwelt unterscheiden lassen. Juristen unterscheiden nicht immer zwischen Zweck und Funktion. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion der Prozesszwecke (u. § 64 IVxxx).
Nach dem Vorschlag des amerikanischen Soziologen Robert K. Merton unterscheidet man zwischen latenten und manifesten sowie zwischen intendierten und nicht intendierten Funktionen. Manifeste Funktionen sind solche, die offen zu Tage liegen. Latente Funktionen sind dagegen den im System handelnden Personen zunächst verborgen oder jedenfalls nicht ohne weiteres bewusst. Intendierte Funktionen sind Wirkungen, die von den im System handelnden Personen beabsichtigt oder angestrebt werden. Es handelt sich also um Zwecke. Nicht intendierte Funktionen sind solche, die eintreten, obwohl sie nicht bezweckt sind. Es handelt sich also um die Nebenfolgen von Handlungen. Sie können sich als positiv oder als negativ erweisen, je nach dem, ob sie sich mit vorhandenen Interessen decken oder ihnen zuwiderlaufen.
Nebenfolgen besonderer Art sind die mit jeder Zweckverfolgung verbundenen Kosten. Mittel sind knapp. Deshalb kann jedes Mittel, das zur Erreichung eines Zwecks eingesetzt wird, unter dem Gesichtspunkt der Kosten betrachtet werden, weil es nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung steht. Am deutlichsten zeigt sich das beim Geld. Das Geld, das ich für Brötchen ausgegeben habe, kann ich nicht mehr zum Kauf eines Lehrbuchs verwenden. Das gilt aber auch für alle anderen Mittel. Während ich im Kino einen Film ansehe, kann ich nicht im Fitnessstudio trainieren. Jede Handlung hat, wie es die Ökonomen nennen, Opportunitätskosten.
Alle diese Überlegungen stecken schon in Max Webers Formulierung der Zweckrationalität. Deshalb sei daran erinnert, dass das Zweck-Mittelschema aus verschiedenen Richtungen problematisiert wird.
- Erstens ist da die Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft (o. S. 87).
- Zweitens ist klar geworden, dass Zweckrationalität nur auf der Handlungsebene funktioniert. Anders als Max Weber es sich vorgestellt hatte, sind Organisationen – bei Weber die Bürokratie – nicht einfach Mittel zum Zweck, sondern sie führen auch ein Eigenleben. Das gilt erst recht, wenn man sich mit Luhmann auf die Systemebene begibt.
- Drittens hat der Anlauf zur Kybernetik nach dem zweiten Weltkrieg, der insbesondere mit dem Namen Norbert Wieners verbunden ist, eine Diskussion hervorgerufen, in der kritisiert wird, dass Kybernetik letztlich einer Art Maschinenentelechie anhänge (Richard Taylor, Comments on a Mechanistic Conception of Purposefulness, Philosophy of Science 17, 1950, 310-317; Hans Jonas, Kybernetik und Zweck. Eine Kritik, in: ders., Organismus und Freiheit, 1973, 164-197).
- Schließlich kann man Michael Polanyis Konzept des tacit knowlege (o. § 16 VI 4) als Kritik des Zweck-Mittel-Modells lesen, denn das Konzept besagt, dass vieles im Halbbewussten oder Unbewussten abläuft, wo für Zwecksetzung kein Raum ist.
Daraus folgt aber nicht, dass das Zweck-Mittel-Modell obsolet wäre. Zweck und Mittel bleiben der zentrale Ansatzpunkt rationalen Handelns.
III. Die Ambivalenz des Interessenbegriffs
Literatur: Philipp Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912; ders., Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112, 1914, 1-318; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932; ders., Interessenjurisprudenz, 1933; Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, Nachdruck mit Nachtrag 2006; Thomas Haipeter, Interessen und Interessierung. Das Interessenkonzept in der Sozialtheorie, 2021; Hartwig Schuck, Wie objektiv sind Interessen?, Facetten und Funktionen des Interessenbegriffs in kritischen Analysen sozialer Verhältnisse, Zf kritische Sozialtheorie und Philosophie, 2014, 298-324; Robert Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, 1999.
Id quod interest war die Formel der Lex Aquilia für die Berechnung des Schadens aus unerlaubter Handlung. Das lateinische Verb interesse bedeutet etwa »dazwischen liegen« oder »den Unterschied ausmachen«. Die Formel bezog sich also auf den Unterschied, den der Verlust eines Gutes für eine bestimmte Person ausmacht. Positiv gewendet deckt der Interessenbegriff des römischen Rechts also den Nutzen, den eine Person aus der Verfügbarkeit eines Gutes ziehen kann.
Die Auswahl von Handlungszwecken erfolgt nach Maßgabe von Interessen. Der Interessenbegriff ist tückisch, weil er auf verwirrende Weise sowohl »subjektiv« als auch »objektiv«, deskriptiv und normativ verwendet wird, und weil abwechselnd individuelle Interessen und kollektive Interessen gemeint sind.
Faktische Bedürfnisse begründen subjektive Interessen. Werden diese als berechtigt oder legitim bewertet, so erscheinen sie als »objektive« oder »wahre« Interessen. Der »subjektive« Interessenbegriff ist empirisch oder anthropologisch, der »objektive« dagegen normativ. Das ist eine Verkehrung des üblichen Sprachgebrauchs, die ihre Ursache darin hat, dass der Interessenbegriff inhärent normativ ist, das heißt, dass in der Regel anerkennenswerte Interessen gemeint sind, wenn von Interessen die Rede ist. Nicht selten ist dem Sprecher selbst nicht bewusst, ob er den Interessenbegriff deskriptiv oder normativ wertend verwendet. Um diese Ambivalenz auszuräumen, muss man Wünsche und Bedürfnisse und die daraus folgenden Interessen als empirisches Phänomen von den Werten und Prinzipien unterscheiden, die zur normativen Gewichtung von Interessen herangezogen werden.
Aus der Sicht der handelnden Personen tragen Zwecke ihren Wert in sich. Der Handelnde will etwas, weil er es gut findet, weil er meint, dass es seinen Interessen dient. Das ist das Prinzip von rational choice. Die (subjektiven) Interessen eines Menschen bestehen in seinen von ihm selbst wahrgenommenen Bedürfnissen. Interessen im subjektiven Sinne sind die Wünsche und Bedürfnisse Einzelner. Viele Bedürfnisse ergeben sich aus einer sozialen Positionen, aus der Position eines Kindes, Unfallopfers oder Tennisspielers, aus der Rolle des Klägers oder des Beklagten, des Mieters oder Vermieters, des Bauwilligen und seiner Nachbarn.
Individuen haben nicht nur plumpe materielle Bedürfnisse, sondern sie beurteilen ihre eigenen und fremde Bedürfnisse auch unter dem Gesichtspunkt von Werten, die sie sich zu eigen machen. Ein Individuum kann ein Interesse auch am Wohlergehen anderer haben. Subjektive Interessen müssen nicht egoistisch sein; sie können altruistisch oder, wie Heck es nannte, auch »ideale« Interessen sein. Interessen können von Vorstellungen über Werte geleitet werden.
Vielfach weiß man nicht, was die Menschen wünschen und wollen. Man kann sie auch nicht immer fragen. Dann muss man Mutmaßungen über ihre Wünsche anstellen. Oft macht man sich aber gar nicht mehr klar, ob man eigentlich Mutmaßungen über die subjektiven Interessen der Betroffenen ausspricht oder ob man ihnen als Interesse zuschreibt, was man für sie als gut und richtig ansieht. Auf mutmaßliche Interessen, das heißt auf solche, die typisch mit einer sozialen Position verbunden sind, muss man zurückgreifen, wenn es gilt, Rollenkonflikte zu vermeiden. So gerät ein Vertreter vermutlich in einen Interessenkonflikt, wenn er mehrere Parteien gleichzeitig vertritt.
Ähnliche Übergänge treten auf, wenn kurzfristige und langfristige Interessen zur Debatte stehen. Kurzfristig mag es im Interesse eines Jugendlichen liegen, ein Auto zu besitzen. Langfristig wäre es für ihn meistens besser, wenn er sich die damit verbundenen Schulden ersparte und sich durch Fußmärsche und Radfahren Bewegung verschaffte. Wenn wir ihn nur richtig aufklärten, würde er vermutlich selbst auf seine aktuellen Wünsche zugunsten seiner langfristigen Interessen verzichten. Das »aufgeklärte Eigeninteresse« ist der erste Schritt zu einer »Objektivierung«. Einen Schritt weiter ging Hans J. Wolff, wenn er dem subjektiven Interesse, dass eine Person an einem Gegenstand tatsächlich nimmt, dessen »wahres« Interesse gegenüberstellte, das er aus der »Verwirklichung der wesensentsprechenden Möglichkeiten« zu »freien Entfaltung und Bildung der Persönlichkeit« objektiv bestimmbar ansah (Verwaltungsrecht I, 8. Aufl. 1971, S. 159).
Eine Verschiebung kann sich auch einstellen, wenn es um die Interessen einer Gruppe geht. Interessen im subjektiven Sinne sind auch die gleichgelagerten Wünsche und Bedürfnisse bestimmter Interessengruppen, also der Vermieter und der Mieter, der Grundeigentümer, der Presse usw. Die konkreten Wünsche ihrer Mitglieder laufen aber keineswegs immer konform. Was für die Gesamtheit der Mieter nützlich ist, liegt nicht immer auch im Interesse jedes einzelnen. Die Zusammenfassung der individuellen Wünsche zu einem kollektiven Interesse bedeutet daher regelmäßig schon eine »Objektivierung«. Wenn gar Sozialwissenschaften bestimmten Bevölkerungsgruppen (Klassen, Schichten) »objektive« Interessen attestieren, so handelt es sich um pseudoempirische Wertung. So kommt es zu der verbreiteten, fast unvermeidbaren Ambivalenz des Interessenbegriffs.
Während der subjektive Interessenbegriff darauf abstellt, was ein Mensch tatsächlich wünscht oder will, schreibt ein »objektiver« Interessenbegriff den Subjekten vor, was sie wünschen sollen, was für sie gut und richtig ist. Er beruht damit auf einer Idee vom guten oder wertvollen Leben. Wenn man den Unterschied deutlich machen will, redet man von berechtigten Interessen. In Gesetzen wird der objektive Interessenbegriff gelegentlich durch »Belange« ersetzt, so in § 1 VI BauGB, wo von den Belangen der Wirtschaft, des Umweltschutzes usw. die Rede ist. Hier handelt es sich immer schon um die »berechtigten« Belange. In Gutachten und Urteilsgründen spricht man oft vom »Schutzbedürfnis« einer Partei, des Verbrauchers, Mieters usw., wenn subjektive Interessen als berechtigte anerkannt werden.
Während Ökonomen, die über rational choice nachdenken, die subjektive Zweckwahl der Individuen hinnehmen, schützt das Recht grundsätzlich nur »berechtigte« Interessen, das heißt, der rechtliche Interessenbegriff ist normativ; er bewertet Interessen als schützenswert. Grundsätzlich gelten in einem liberalen Rechtssystem subjektive Interessen als schützenswert. Dazu gibt insbesondere das Privatrecht der »Willensmacht« der Individuen großen Raum. Aber subjektive Interessen geraten immer wieder miteinander in Konflikt. Aus individuellem Interessenhandeln folgt keine Harmonie der Interessen. Deshalb muss das Recht sie vergleichend bewerten. Das war der Ausgangspunkt der Interessenjurisprudenz.
Philipp Heck, der Begründer der Interessenjurisprudenz, verstand unter den Interessen die »Lebensbedürfnisse« oder die »in der Rechtsgemeinschaft vorhandenen Begehrungen und Begehrungstendenzen«, die »materiellen« wie die »idealen«. Dieser Interessenbegriff ist subjektiv. Er geht aus von der aktuellen Interessenlage. Dann wechselt Heck vom subjektiven zum objektiven Interessenbegriff. Das Gesetz – so seine Vorstellung – zieht die Grenzlinie zwischen den gegenläufigen Interessen, es entscheidet Interessenkonflikte. Die Entscheidung erfolgt ihrerseits auf Grund von »Gemeinschaftsinteressen« des Gesetzgebers. Als solche kommen in Betracht das Interesse an der Sicherheit des Rechtsverkehrs, an Eigentumsschutz, Mieterschutz usw., also an Rechtsgütern im weitesten Sinne. Die von Heck so genannten Gemeinschaftsinteressen sind nicht mehr reale Interessen bestimmter Individuen, sondern Gesichtspunkte zur Bewertung und Abgrenzung subjektiver Interessen.
Interessenjurisprudenz im Sinne Hecks besteht darin, dass der Richter dem Gesetzgeber im Zweifelsfalle als »denkender Gehilfe zur Seite tritt, der nicht nur die Worte und die Gebote beachtet, sondern in die Absichten des Gesetzgebers eindringt und die Werturteile des Gesetzes auch für die nichtgeregelten Sachlagen auf Grunde eigener Interessenprüfung verwirklicht.« (1932 S. 4). Das geschieht, indem der Richter zunächst ermittelt, welche subjektiven Interessen miteinander streiten, um sodann diesen Interessenkonflikt nach dem Vorbild der vom Gesetzgeber getroffenen Interessenabwägung zu entscheiden. Soweit eine Wertung des Gesetzgebers nicht ersichtlich ist, soll der Richter die betroffenen Interessen unter Beachtung der sonst erkennbaren Werturteile des Gesetzgebers eigenständig abwägen (z.B. 1932, S. 106 ff.).
Freilich genügt es nicht, subjektive Interessen auszubalancieren. Die Realisierung subjektiver Interessen ist in vielerlei Hinsicht von Vorleistungen abhängig, die nur mittelbar der Interessenbefriedigung dienen. Es handelt sich um die oft zitierten »Rahmenbedingungen«, also um eine normative Infrastruktur. An dieser Infrastruktur besteht ein öffentliches Interesse.
Das öffentliche Interesse ist neben »Treu und Glauben« wohl die wichtigste Generalklausel des positiven Rechts. Uerpmann hat 1999 mit Hilfe von Juris 427 Vorschriften gezählt, die den Ausdruck verwenden. Hinzuzurechnen sind etwa gleichbedeutend die »öffentlichen Belange« und das »Wohl der Allgemeinheit«. Uerpmann (S. 6) weist darauf hin, dass schon Günter Dürig in seiner ungedruckten Dissertation von 1949 Wert darauf gelegt habe, »daß es ein objektives, von den Individuen unabhängiges Interesse nicht geben könne. Nur der Mensch könne Interessen haben; folglich müsse auch im Gemeininteresse immer sein Interesse irgendwie enthalten sein. Das öffentliche Interesse lasse sich nun aber weder als Summe der Privatinteressen bestimmen noch als deren Gegensatz«.
IV. Bedürfnis und Interesse
Literatur: Christoph Antweiler, Was ist den Menschen gemeinsam?, 2. Aufl. 2009; Eric Hilgendorf, Rechtswissenschaft, Philosophie und Empirie. Plädoyer für ein naturalistisches Forschungsprogramm, in: FS Ernst-Joachim Lampe, 2003, 285-300; Ernst-Joachim Lampe, Rechtsanthropologie heute, ARSP Beih. 44, 1991, 222-235; ders., Zur Frage nach dem »richtigen Recht«, in: Günter Dux u. a. (Hg.), Moral und Recht im Diskurs der Moderne, 2001, 253-283; Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, 1954; Roscoe Pound, A Survey of Social Interests, Harvard Law Review 57, 1943, 1-39 und 58, 1945, 909-929; John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975 (A Theory of Justice, 1971).
Könnten Anthropologie oder Soziologie einen Bedürfniskatalog aufstellen und gar noch eine Rangordnung der Bedürfnisse angeben, dann ließe sich Interessenjurisprudenz auf eine empirische Grundlage stellen. Sicher existieren biologische Grundbedürfnisse nach Nahrung, Kleidung oder jedenfalls Wärme, Befriedigung der Sexualität und Schlaf. Aber diese vitalen Bedürfnisse lassen sich auf sehr verschiedene Art und Weise erfüllen. Und jede Art der Bedürfnisbefriedigung zieht neue, abgeleitete Bedürfnisse nach sich. Aus jeder Problemlösung ergeben sich Folgeprobleme, die nach einer Lösung verlangen. Die Erfindung von Werkzeugen, hervorgerufen durch das Bedürfnis nach Nahrung, wirft die Frage auf, wer darüber verfügen darf und wie ein Missbrauch als Waffe verhindert wird. Die Befriedigung der Sexualität bringt Kinder und oft einen gemeinsamen Haushalt mit sich. Daraus entsteht Arbeit, die unterschiedlich verteilt und in verschiedenen Formen geleistet werden kann.
Sekundäre Bedürfnisse entstehen nicht nur zwangsläufig aus Folgeproblemen, sondern sie entwickeln sich sozusagen wildwüchsig, wo immer nach der Befriedigung des Existenzminimums noch Kraft verbleibt. Zunächst wollen wir nur essen und trinken. Doch alsbald genügt es uns nicht mehr, dass wir satt werden, sondern wir wünschen auch, dass es uns schmeckt. Wir möchten auch nicht mehr bloß aus der Hand essen, sondern mit Messer und Gabel vom Teller speisen. Später sind wir auch mit der Funktionalität von Messer, Gabel und Löffel nicht mehr zufrieden. Wir entwickeln ästhetische Bedürfnisse. Das Besteck muss aus Silber und der Tisch kunstvoll dekoriert sein. Damit erfüllen wir zugleich unser Geltungsbedürfnis, indem wir anderen unsere Ess- und Tischkultur vorzeigen. Doch auch damit nicht genug. Wir wollen auch noch über unsere Ess- und Tischsitten reflektieren. So sind menschliche Bedürfnisse zwar alle mehr oder minder auf einen biologischen Ausgangspunkt bezogen. Sie sind dadurch aber keineswegs determiniert. Vielmehr ist es die soziale Überformung, die den Bedürfnissen jeweils ihre konkrete Gestalt gibt.
Diese These der abgeleiteten Kulturbedürfnisse geht zurück auf den Anthropologen Bronislaw Malinowski. Ihr trägt die Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham H. Maslow Rechnung. Maslow ordnet die menschlichen Bedürfnisse in fünf Stufen.
- Die Basis bilden physiologische Bedürfnisse wie Hunger und Durst oder nach Schutz vor Hitze und Kälte (physiological needs).
- Auf der zweiten Stufe finden sich Sicherheitsbedürfnisse (safety needs): Das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz vor Schmerz, Furcht, Angst und Ungeordnetheit, aber auch das Bedürfnis nach schützender Abhängigkeit, nach Ordnung, Gesetzlichkeit und Verhaltensregelung.
- Darüber liegt eine Schicht sozialer Bindungsbedürfnisse (needs for belongingness and love): Der Wunsch nach Liebe und Zärtlichkeit, nach Geborgenheit, sozialem Anschluss und nach Identifikation.
- Weiter unterscheidet Maslow eine Schicht sogenannter Selbstachtungsbedürfnisse (esteem needs): Es handelt sich um Bedürfnisse nach Leistung, nach Geltung oder Zustimmung.
- An der Spitze der Pyramide sind Selbstverwirklichungsbedürfnisse angesiedelt (self-actualization needs): Selbsterfüllung in der Realisierung der eigenen angelegten Möglichkeiten und Fähigkeiten; das Bedürfnis nach Verstehen und Einsicht.
Eine empirische Interessenjurisprudenz könnte sich nicht damit begnügen, mögliche Bedürfnisse zu beschreiben, sondern sie müsste die Bedürfnisse der Menschen vergleichend bewerten, um ihnen im Streitfall die stets knappen Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zuzuweisen. Sie steht damit vor dem Problem der intersubjektiven Nutzenmessung.
Jenseits des Existenzminimums bestimmen sich Art und Stärke der individuellen Bedürfnisse nicht mehr nach der Natur, sondern nach der Kultur. Was wir für unser Bedürfnis halten, haben wir meistens von anderen gelernt. Bei jedem Menschen treffen wir auf eine andere Mischung von erlernten Bedürfnissen und Sättigungsgraden. Nicht einmal die Bewertung eines Reizes als positiv oder negativ ist konstant. Wahrscheinlich gibt es einige Reize, deren Belohnungscharakter biologisch und damit in gewisser Weise absolut ist: Wärme, Nahrung, sexuelle Befriedigung. Umgekehrt werden Schmerz und körperliche Gebrechen oder Entzug der Bewegungsfreiheit praktisch immer als negative Güter zu gelten haben. Meistens ist der positive oder negative Wert eines Reizes jedoch sozial determiniert. Wie anders könnte man die biologisch höchst unwahrscheinliche Tatsache erklären, dass es Menschen gibt, die die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes als eine Belohnung empfinden? Der Wert eines Reizes wächst oder schwindet je nach dem, in welchem Maße auch andere ihn schätzen. Hier wirken Mode und Markt.
Die soziale Determinierung eines Reizes als Belohnung ist manchmal kaum weniger eindeutig als die Prägung durch biologische Bedürfnisse. Geld und leicht in Geld tauschbare Gegenstände werden mit ähnlicher Sicherheit honoriert wie Wärme und Nahrung. Aber in anderen Fällen ist die positive oder negative Billigung eines Reizes ganz offen. Dazu brauchen wir nicht einmal so abseitige Beispiele wie den Masochisten heranzuziehen, der Schläge als Belohnung empfindet. Um die Ambivalenz von Reizen zu erkennen, genügt es, an jene afrikanischen Stämme oder studentischen Verbindungen zu denken, die Schmucknarben für erstrebenswert hielten. Für den einen ist Rockmusik eine Qual, für den anderen höchster Genuss. Man muss erst lernen, Austern und Kaviar Geschmack abzugewinnen, und mancher lernt es nie.
Nicht nur die Art der Bedürfnisse variiert, sondern nicht minder deren Intensität. Alle Bedürfnisse bestehen nur relativ zu ihrem aktuellen Befriedigungsstand (Gesetz vom abnehmenden Gratifikationswert). Wer gerade gegessen hat, lässt sich kaum durch das Angebot einer Mahlzeit locken. Eskimos brauchen keine Klimaanlage, Tropenbewohner keine Heizung. Was dem Armen ein Vermögen bedeutet, ist für den Reichen nur ein Taschengeld. Wo dieses Gesetz nicht mehr greift, liegt die Diagnose einer Sucht nahe.
Jenseits des Existenzminimums sind alle Mittel zur Bedürfnisbefriedigung substituierbar. Jedes Bedürfnis kann auf verschiedene Weise befriedigt werden. Jedes Angebot befriedigt verschiedene Bedürfnisse. Die Folge ist, dass nur der Betroffene selbst seine Bedürfnisse wirklich kennt und sie einschätzen kann. Es kann nur jeder selbst entscheiden, ob er seine begrenzten Mittel lieber für Essen oder für Trinken, für Wohnung oder für Kultur, für Reisen oder für Spenden aufwenden will. Deshalb gibt es für das Problem der intersubjektiven Nutzenmessung keine Lösung. Es fehlt an einem empirischen Maßstab. Wo es einen Markt gibt, löst er das Problem in einem Tauschprozess. Am Markt stehen sich individuelle Bedürfnisse als potenzielle Tauschwünsche gegenüber, und nur die stärksten Bedürfnisse werden in einem Tauschvorgang realisiert. So lenkt der Markt knappe Ressourcen an die Stellen, wo sie den größten Nutzen stiften. Wo ein Markt fehlt oder der Markt versagt, muss das Recht eintreten. Deshalb bleibt es Juristen nicht erspart, immer wieder Bedürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung vergleichend zu bewerten.
Lampe hat eine Liste von 17 »rechtserheblichen menschlichen Grundbedürfnissen« zusammengestellt. Diese Liste ist statisch und vernachlässigt damit den Gesichtspunkt der primären und der abgeleiteten Bedürfnisse ebenso wie das Problem der intersubjektiven Nutzenmessung. Für das Recht kommt es aber, wie gesagt, gerade auf eine vergleichende Bewertung widerstreitender Interessen an. Immerhin verhilft ein solcher Katalog zu einem Maßstab der Rechtskritik. Recht, das die menschlichen Grundbedürfnisse nicht gewährleistet, ist – in der Formulierung Lampes – nicht »menschengerecht«.
John Finnis benennt sieben besonders wertvolle Basisgüter: life, knowledge, play, aesthetic experience, sociability of friendship, practical reasonableness and religion (Natural Law and Natural Rights, 1980).
Hilgendorf stellt aus anthropologischen Grundbedürfnissen eine Liste von sieben subjektiven Rechten zusammen, die das Basisgrundrecht der Menschenwürde nach Art. 1 GG ausfüllen sollen.
Um jedenfalls einen Ausgangspunkt festzulegen, lässt sich an eine Überlegung von John Rawls anknüpfen. Rawls akzeptiert, dass es prinzipiell nicht möglich ist, die persönlichen Präferenzen, Ziele und Wertvorstellungen der Individuen zu kennen. Er nimmt jedoch an, dass die Chancen jeder Person, ihre subjektiven Interessen zu realisieren, davon abhängen, in welchem Umfang sie über gewisse gesellschaftliche Grundgüter (primary social goods) verfügt. Das sind Güter, die jeder vernünftige Mensch in möglichst großem Umfang haben möchte, weil er weiß, dass sie seinen Interessen dienlich sind, worin auch immer diese Interessen bestehen mögen. Solche Güter sind nach Rawls (S. 82, 111 ff.) bürgerliche Freiheiten und politische Rechte, soziale Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. Über die Minimalausstattung mit solchen Grundgütern lässt sich trefflich streiten. Doch steht außer Streit, dass das Recht eine Grundausstattung vorzusehen hat. Rawls spricht insoweit von Basisgerechtigkeit. Wir sprechen unter dem Grundgesetz von Menschenwürde.
V. Normen als Mittel zum Zweck
Literatur: Rudolf von Ihering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 1877; Niklas Luhmann, Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, Der Staat 3, 1964, 129-158; ders., Zweckbegriff und Systemrationalität, 1968 (1973 als Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft); Hans Christian Röhl, Legislator’s intent: Limits of a Concept, in: Gottfried Seebaß u. a., Acting Intentionally and Its Limits: Individuals, Groups, Institutions, 2013, 121–132; Brian Z. Tamanaha, Law as a Means to an End, 2006; Thomas Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates, 2015.
Jede Norm kann als Mittel zum Zweck betrachtet werden. Die StVO dient der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs. Zu diesem Zweck ordnet sie die Einhaltung von Vorfahrtsregeln, Geschwindigkeitsbegrenzungen oder speziellen Vorsichtsmaßnahmen an. § 311b BGB dient dem Schutz von Käufer und Verkäufer vor den oft schwerwiegenden Folgen eines nicht hinreichend bedachten Grundstücksgeschäfts. Mittel zum Zweck ist die notarielle Beurkundung. § 185 StGB dient dem Schutz der Ehre. Mittel zum Zweck ist die Strafbewehrung. Aus der Sicht des Normgebers sind Rechtsnormen, indem sie Handlungen vorschreiben, ein Mittel, um bei einem gegebenen Ausgangszustand ein bestimmtes rechtspolitisches Ziel durchzusetzen, das wir als den Zweck des Gesetzes bezeichnen.
Hat man sich für einen Zweck entschieden, lässt sich innerhalb der Grenzen des empirischen Wissens angeben, welche Normen als Mittel eingesetzt werden müssen, um das Ziel zu realisieren (Zweck-Mittel-Rationalität). Um die Kinderlähmung zu bekämpfen, wird eine Impfpflicht eingeführt. Um die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr zu senken, wird das Anlegen von Sicherheitsgurten angeordnet. Ein Vorruhestandsgesetz soll die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Später lässt sich dann feststellen, ob das Ziel erreicht worden ist oder jedenfalls messen, um wie viel das Ziel nähergerückt ist. Kinderlähmung ist durch die Impfung praktisch ausgerottet worden. Die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr ist gesunken. Dagegen hat sich die Zahl der Arbeitslosen nicht verringert. Solche Beispiele können nur das Grundmuster andeuten. Sieht man genauer hin, erweist sich die Ermittlung der Wirkungen eines Gesetzes im Vergleich mit dem Zweck des Gesetzgebers als schwierig, denn oft sind schon die Zielvorstellungen unklar, und die Wirkungen eines Gesetzes lassen sich kaum isolieren und sind meistens vielfältig. Hier öffnet sich ein weites Feld für die Rechtswirkungsforschung.
Rechtsnormen haben häufig weniger konkrete Ziele. Sie dienen dem Tierschutz oder der Wettbewerbsfreiheit, der Markttransparenz oder der Medienvielfalt. Je allgemeiner die »Zwecke« werden, umso eher spricht man von Rechtsgütern und schließlich von Werten.
Die Frage drängt sich auf: Wer gibt den Normzweck vor? Wer ist der Gesetzgeber? Nur Individuuen haben Bedürfnisse, die subjektive Interessen begründen. Nur Individuuen können sich für Zwecke entscheiden. Seit eh und je wird darüber gestritten, ob neben Individuen auch organiierte Personenmehrheiten und Institutionen Interessen haben können. Meistens wird der Streit als Frage nach dem Wesen der juristischen Person ausgetragen. Wie auch immer man dies »Wesen« erklärt, ob als »denkökonomische Abbreviatur« oder als sozialen Organismus, es führt kein Weg daran vorbei, dass Organisationen und Institutionen im Rahmen ihrer Handlungsmöglichkeiten Interessen und damit die Möglichkeit von Zwecksetzungen zuschreiben muss. Daraus ergeben sich dann allerdings Folgeprobleme, etwa wenn es darum geht, für die teleologische Auslegung den gesetzgeberischn Zweck zu ermitteln.