I. Erscheinungsformen der Prinzipien im Recht
Literatur: Franz Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996; Othmar Jauernig, Trennungsprinzip und Abstraktionsprinzip, JuS 1994, 721-727; Christoph A. Kern, Typizität als Strukturprinzip des Privatrechts, 2013; Joachim Rückert, Das BGB und seine Prinzipien, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, 2003, 34-122.
Das Recht erschöpft sich nicht in ausformulierten Regeln. Zwischen und hinter den Regeln stehen allgemeinere Rechtsgrundsätze oder Rechtsgedanken, für die der Ausdruck Rechtsprinzipien verbreitet ist. Prinzipien bilden die Tiefenstrukturen des Rechts. Nur ausnahmsweise lassen sie sich unmittelbar einem Gesetz entnehmen, wie der Grundsatz von Treu und Glauben aus § 242 BGB. In der Mehrzahl sind sie als Bestandteil der juristischen Tradition überliefert oder sie werden durch systematische Auslegung gewonnen.
Vieles wird »Prinzip« genannt, was den Namen nicht verdient, wenn er Unterscheidungskraft behalten soll. Oft wird eine Regel zum »Prinzip« erhoben, weil sie besonders wichtig erscheint. So geschieht es etwa mit dem Grundsatz nulla poena sine lege (Art. 103 II GG; § 1 StGB). Eine oder mehrere Rechtsnormen werden auch nicht dadurch zum Prinzip, dass man ihren Inhalt schlagwortartig kennzeichnet, z.B. als »Prinzip der obligatorischen Zivilehe«. Ebenso wenig sind allgemein formulierte Grundtatbestände, an die sich Detailregelungen anschließen, wie z.B. bei der Bereicherung nach § 812 BGB oder der unerlaubten Handlung nach § 823 BGB, als Prinzipien anzusehen. Auch der Zweck eines Gesetzes macht noch kein Prinzip. Vor allem aber: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bildet kein materielles Rechtsprinzip, sondern es handelt sich dabei um eine allgemeine Methode der Beurteilung von Zweck-Mittel-Beziehungen (u. § 45IIxxx).
Rechtsprinzipien haben einen Doppelcharakter als Modell und Direktive. Als Modelle lassen sie sich mit Baustilen vergleichen. Der Speyerer Dom ist ein Musterbeispiel romanischer Baukunst. Wir könnten auch sagen, das Bauprinzip sei romanisch. Dagegen ist der Kölner Dom gotisch. In der Lübecker Marienkirche finden wir beide Baustile vereint. Um die Masse des positiven Rechts zu ordnen, um »System« in die Sache zu bringen, bemüht sich die Rechtswissenschaft, bestimmte Baustile oder Prinzipien herauszupräparieren.
Als bloße Modelle lassen sich Prinzipien durch andere Konstruktionen ersetzen oder miteinander kombinieren. Das zeigt sich besonders deutlich an den sogenannten Prozessmaximen (u. § 101 IV). Hier gibt es zu jedem Verfahrensprinzip ein Gegenstück. Es stehen sich Dispositionsmaxime und Offizialmaxime, Verhandlungsmaxime und Untersuchungsgrundsatz, Mündlichkeitsprinzip und Schriftlichkeitsgrundsatz gegenüber. Die einzelnen Bestimmungen der Prozessordnungen, die die Befugnisse zwischen den Prozessbeteiligten verteilen, werden danach sortiert, in welches Modell sie hineinpassen. Wenn mehr oder weniger alle Bestimmungen einer Prozessordnung einem Modell folgen, dann lässt sich der Prozess mit Hilfe dieses Modells charakterisieren.
Soweit ein Modell im positiven Recht durchgeführt ist, wird es zum Aufbau- oder Strukturprinzip. Teilweise hat schon der Gesetzgeber seine Kodifikationen nach bestimmten Modellen konstruiert. Beispiele bilden das Abstraktionsprinzip, welches das Erfüllungsgeschäft von den Rechtsgründen der Verpflichtung unabhängig stellt, oder der Grundsatz der Akzessorietät von Sicherheiten, wie er bei Bürgschaft, Vormerkung und Hypothek durchgeführt ist. Aus den §§ 79, 1209 BGB, 804 ZPO abstrahieren wir das Prioritätsprinzip. Wo es um Herrschaftsrechte, insbesondere um Sachenrechte geht, spielt das Publizitätsprinzip eine Rolle. Bei beweglichen Sachen ist es als Traditionsprinzip ausgebildet, bei Grundstücken als Eintragungsprinzip. Das BGB folgt dem Grundsatz der Typenfreiheit im Schuldrecht und dem Prinzip des Typenzwangs im Sachenrecht. Teilweise entdeckt die Jurisprudenz in zuvor unverbundenen Einzelregelungen Übereinstimmungen, die sich zu einem Prinzip zusammenfügen, z.B. zum Prinzip des Vertrauensschutzes. Bydlinski hat allein für das Privatrecht 134 Prinzipien zusammengestellt.
Wenn es gelingt, aus dem positiven Recht bestimmte Strukturprinzipien herauszupräparieren, dann braucht man sich nicht mehr die vielen Einzelbestimmungen zu merken; es genügt, sich das Prinzip einzuprägen, um bei Bedarf daraus die Einzelheiten zu rekonstruieren. Das Prinzip eignet sich damit besonders zur Lehrdarstellung. So dienen die meisten Aufbauprinzipien zugleich als Lehrprinzipien.
Prinzipien gewinnen an Profil, wenn man ein Gegenprinzip benennen kann. So lässt sich konstatieren, dass gegenwärtig eine schleichende Aufweichung des Schuldprinzips zugunsten des (polizeirechtlichen) Präventionsprinzips stattfindet, erkennbar an der Konjunktur der Sicherungsverwahrung.
Viele Rechtsprinzipien erschöpfen sich nicht in ihrer deskriptiven Funktion, sondern beanspruchen als Direktive auch normative Geltung. Bei manchen Prinzipien reicht die normative Geltung genau nur soweit, wie sie im geltenden Recht realisiert ist. Das gilt für die Gehilfenhaftung (§§ 278, 831 BGB) ebenso wie für den Schutz des guten Glaubens an das Eigentum (§§ 892 ff., 932 ff. BGB) oder für die Gefährdungshaftung. Die meisten Prinzipien haben aber einen »normativen Überschuss«. Sie erweisen sich damit als Normen von großer Allgemeinheit, die nicht ohne Einschränkung gelten. Larenz (Methodenlehre, S. 479 f.) nennt sie rechtssatzförmige Prinzipien. Einige dieser Prinzipien sind so selbstverständlich, dass der Gesetzgeber sie einfach voraussetzen und sich darauf beschränken kann, die Ausnahmen zu regeln. Mancher Anfänger sucht im BGB nach einer Bestimmung, dass Verträge zu halten sind, bis ihm erklärt wird, dass diese Norm sich nur indirekt aus den §§ 145 ff., 311 I erschließen lässt. Ähnlich liegt es mit dem Grundsatz der Formfreiheit im Schuldrecht.
Das Prinzip der Vertragsfreiheit besagt, dass zwei oder mehr Parteien durch übereinstimmende Willenserklärungen beliebige Rechte und Pflichten begründen können. Es muss sich jedoch viele Abstriche gefallen lassen. Manche Pflichten kann man überhaupt nicht vereinbaren, weil sie gegen Gesetz oder gegen die guten Sitten verstoßen (§§ 134, 138 BGB). Bei anderen sind Formvorschriften zu beachten. Stets wird die Geschäftsfähigkeit der Vertragspartner vorausgesetzt. Das Prinzip kommt jedoch überall dort zur Geltung, wo sich keine Ausnahme ermitteln lässt. Man könnte auch von einem Prinzip mit Vermutungswirkung sprechen. Vermutungswirkung haben auch das Prinzip der unbeschränkten persönlichen Vermögenshaftung und das Prinzip der Relativität des Vertragsbandes.
Schließlich gibt es Prinzipien, aus denen sich unmittelbar überhaupt keine Rechtsfolge mehr ablesen lässt. Larenz nennt sie offene Prinzipien und führt als Beispiel das Prinzip der Privatautonomie an. Auch der Grundsatz von Treu und Glauben, das strafrechtliche Schuldprinzip oder das Demokratieprinzip der Verfassung gehören hierher. Solchen Prinzipien scheint eine werthafte Idee vorauszuliegen, die Anspruch auf Beachtung erhebt. In diese Kategorie gehören nicht zuletzt die Grundrechte der Verfassung und die mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgüter, wenn man sie, wie es inzwischen weitgehend üblich geworden ist, als »Prinzipien« behandelt.