I. Mehr als eine »Theorie«
Indem wir die soziale Norm und damit auch die Rechtsnorm als Verhaltensforderung interpretieren, folgen wir implizit der sog. Imperativentheorie, die besagt: Jeder vollständige Rechtssatz enthält entweder ein Gebot oder Verbot.
Die Imperativentheorie ist keine innerjuristische Theorie, also nicht bloß ein Vorschlag, wie man das Recht verstehen soll, sondern eine echte Theorie mit empirisch-analytischem Gehalt. Die Elementarteilchen des Rechts lassen sich nur als Gebote und Verbote beschreiben. Alles weitere ergibt sich erst aus einer Kombination verschiedener »Imperative«. Ein subjektives Recht entsteht aus dem Zusammenwirken mehrerer Ge- und Verbote derart, dass im Streitfall bestimmte Subjekte ermächtigt sind, eine Pflicht einzuklagen. Auch die Ermächtigung zur Klage ist wiederum nur eine Kombination von Geboten und Verboten, die an die Justiz gerichtet sind.
Neue Bedeutung gewinnt die Imperativentheorie dadurch, dass sie die analytische Grundlage der Automatisierung von juristischen Entscheidungsprozessen bildet, die alle ihren Ausgang von der Frage nach einen rechtlich begründeten Anspruch, einer actio, nehmen.
II. Begründer der Imperativentheorie
III. Vollständige und unvollständige Rechtssätze
IV. Kritik der Imperativentheorie
V. Vorzüge der Imperativentheorie
VI. Exkurs: Recht und Gewalt
Literatur: Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, 1921/1922, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204; Richard Bessel, Violence, A Modern Obsession, 2015; Robert M. Cover, Nomos and Narrative, Harvard Law Review 97, 1983/84, 4-68; ders. Violence and the Word, Yale Law Journal 95, 1985/86, 1601-1629, wieder abgedruckt in: Martha Minow u. a. (Hg.), Narrative, Violence, and the Law. The Essays of Robert Cover, 1992; Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991 [La Force de Loi, 1990]; Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, 1975; Peter Imbusch, Der Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, 2002, 26-57; Christian Kalthöner, Die Gewalt des Rechts; 2021; Gertrud Nunner-Winkler, Überlegungen zum Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt, 2004, 21-61; Stephan Moebius/Frithjof Nungesser, Symbolische Gewalt., Bürger & Staat 68, 2018, 120-127; Michael Riekenberg, Auf dem Holzweg? Über Johan Galtungs Begriff der »strukturellen Gewalt«, Zeithistorische Forschungen, 2008, 172-177; Frederick F. Schauer, Was Austin Right After All? On the Role of Sanctions in a Theory of Law, Ratio Juris 23 , 2010, 1-21; ders., The Force of Law, 2015; Dietrich Schotte, Was ist Gewalt?, 2020 (rezensiert von Wolfgang Hellmich, ARSP 107, 2021, 627-629.
Mit dem Recht verbindet sich die Vorstellung der physischen Gewalt als letzten Sanktions- und Durchsetzungsmittels, mit staatlichem Recht auch die Vorstellung des Gewaltmonopols. »Recht und Gewalt« ist deshalb ein großes Thema von Rechtsphilosophie und Rechtskritik. An dieser Stelle, also im Zusammenhang mit der Imperativentheorie, geht es nur um einen abstrakten Begriff des Rechtszwangs. Doch die Abstraktion fällt leichter, wenn zuvor die Gewaltdiskussion jedenfalls angedeutet wird.
Die Gewaltdiskussion lebt von und leidet unter einem notorisch vagen Gewaltbegriff. Mit den aus dem Strafrecht geläufigen Unterscheidungen von vis absoluta und vis compulsiva, physischer und psychischer Gewalt, Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen ist es nicht getan. Wenn im Verfassungsrecht von Gewaltenteilung die Rede ist, nähert sich der Gewaltbegriff dem der Macht, ähnlich bei Befehlsgewalt, elterlicher Gewalt usw.
Die englische und die französische Sprache unterscheiden zwischen force und violence. In beiden Sprachen ist violence eher die körperliche Gewalt. Dennoch ist im Englischen von structural violence (Galtung) die Rede und im Französischen von violence symbolique (Bourdieu), Judith Butler spricht gar von »ethischer Gewalt« (Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen, 2003), wiewohl doch in allen drei Fällen gerade eine unkörperliche Gewalt gemeint ist. Es handelt sich um eine beabsichtigte contradictio in adjectu. Dieser rhetorisch mitgeführte Widerspruch bringt den ganzen Gewaltdiskurs zum Schillern. Im Hintergrund steht immer die körperliche Gewalt. Sie macht den Gewaltbegriff zu einem Faszinosum oder gar Mysterium. Antiker Mythos und Tragödie, die mit körperlicher Gewalt beginnen oder enden, sind beliebte Anknüpfungspunkte.
Der kanonische Text zu dem schwierigen Verhältnis von Recht und Gewalt stammt von Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1920/1921). Benjamin hat die Stichworte für die weitere Diskussion vorgegeben. Er hat insbesondere auch die Verknüpfung des Themas mit Mythologie und Theologie vorgedacht. Benjamins Essay gipfelt in einer Analogisierung von proletarisch-revolutionärer und göttlicher Gewalt.
Eine positivistisch-analytische Linie der amerikanischen Rechtstheorie folgte der Lehre H. L. A. Harts und verzichtete auf den Rechtszwang als Theoriebaustein. Dagegen wurde in der postmodernen Diskussion Gewalt zu einer Metapher, die eine Grundeigenschaft des Rechts charakterisieren soll. In der Einleitung zu ihrem Sammelband »Law’s Violence« (1995) schreiben Austin Sarat und Thomas R. Kearns:
»The essays collected in Law’s Violence explore that mystery. Each recognizes that violence, as a fact and a metaphor, is integral to the constitution of modern law, and that law is a creature of both literal violence, and of imaginings and threats of force, disorder, and pain. Each acknowledges that in the absence of such imaginings and threats there is no law, and that modern law is built on representations of aggression and disruption. Law is, in this sense, an extended meditation on a metaphor.«
Angestoßen wurde die Diskussion besonders durch Aufsätze von Robert M. Cover, die von moralischem Pathos getragen sind:
»Legal interpretation takes place in a field of pain and death. This is true in several senses. Legal interpretive acts signal and occasion the imposition of violence upon others: A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life. Interpretations in law also constitute justifications for violence which has already occurred or which is about to occur. When interpreters have finished their work, they frequently leave behind victims whose lives have been torn apart by these organized, social practices of violence.« (1985/86 S. 1601)
Auch wenn Cover sich nach Umwegen über Folter und Märtyrertum mäßigt (S. 1601),
»If I have exhibited some sense of sympathy for the victims of this violence it is misleading. Very often the balance of terror in this regard is just as I would want it.«
so bleibt doch eine existentialistische Verkopplung von Recht und Gewalt. Sie führt dazu, Rechtsanwendung schlechthin für gewaltsam zu halten:
»Legal interpretation is … designed to generate credible threats and actual deeds of violence….«
Richter sind schon deshalb gewaltätig, weil sie bestimmte Rechtsauffassungen zurückweisen:
»Judges are people of violence. Because of the violence they command, judges characteristically do not create law, but kill it. Theirs is the jurispathic office. Confronting the luxuriant growth of a hundred legal traditions, they assert that this one is law and destroy or try to destroy the rest.« (1983/84 S. 53)
Im Mittelpunkt von Derridas »Force de Loi« steht eine »dekonstruktive« Lektüre von Benjamins »Kritik der Gewalt«.
Derrida kritisiert bei Benjamin »eine furchtbare Zweideutigkeit«, das Mitschwimmen auf »der großen anti-parlamentarischen und gegen-aufklärerischen Welle, an deren Oberfläche dann der Nazismus auftaucht«, die »messianisch-marxistisch oder arche-eschatologisch« gefärbte Sprache und ihre Nähe zu Heidegger und Carl Schmitt. Benjamin hatte in einer Synthese jüdisch-eschatologischer Vorstellungen mit dem neomarxistischen Aktionismus George Sorels die Überwindung der instrumentellen Gewalt des Rechts durch eine reine göttliche Gewalt gefordert. Deren zeitgemäßen geschichtlichen Ausdruck sah Benjamin mit Sorel vor allem im proletarischen Generalstreik, der die Rechtsgewalt des Staates abschafft.
Derrida vermeidet es, im Titel von »Violence de Loi« zu sprechen und sucht nach der Gesetzeskraft als einer force juste ou nonviolente. Freilich kommt hier eine neue Mehrdeutigkeit hinein, wenn violence die Bedeutung ungerechter Gewalt erhält, die dann auch wieder unkörperlich sein kann. Es ist immerhin tröstlich, dass Derrida – eher unerwartet – bei seiner Benjamin-Lektüre die Gerechtigkeit, so fern und unerreichbar sie auch sein mag, gegenüber der Gewalt in Schutz nimmt.
Eine Funktion des Rechts besteht darin, physische Gewalt auszuschließen und unkörperliche Gewalt zu begrenzen. Dazu ist freilich die Drohung mit Gewalt und gelegentlich ihr Einsatz erforderlich. Nicht ganz selten ist das im Prinzip gewaltfeindliche Recht selbst erst durch einen Gewaltakt zur Herrschaft gekommen. Diese beiden Grundtatsachen lasssen sich leicht als Paradox formulieren:
»Die erste Feststellung besagt: Das Recht ist das Gegenteil der Gewalt … Die zweite Feststellung besagt: Das Recht ist selbst Gewalt … Beide Feststellungen stehen im Gegensatz zueinander, aber keine von ihnen kann bestritten werden; beide sind wahr.« (Christoph Menke, Recht und Gewalt, in: FS Gunther Teubner, 2009, 83-96, S. 83)
Das Paradox resultiert aus der Verwendung von uneingeschränkten Allsätzen. Mit dem gleichen Recht ließe sich sagen: Der Autor ist paradox, denn der Autor schläft und der Autor wacht. Das Paradox verschwindet, wenn die Allsätze dahin eingeschränkt werden, dass der Autor am Tage wacht und nachts schläft. Wegen solcher Zwittrigkeiten ist die postmoderne Gewaltdiskussion eher verwirrend als erhellend. Im Übrigen ist sie vor allem expressiv, das heißt, sie dient zum Ausdruck einer pathetisch-kritischen Einstellung gegenüber dem Recht. Darüber geht verloren, dass »Gewaltabkehr« von gesellschaftlichen auch zu einem juristischen Projekt geworden ist.
Zu den postmodernen Autoren, die im Anschluss an Walter Benjamin (und Carl Schmitt) den Gewaltdiskurs fortsetzen, gehören Giorgio Agamben (Homo sacer, 2002) und Christoph Menke (Recht und Gewalt, 2011). Seitz hat darauf hingewiesen, dass beide, wie schon zuvor Walter Benjamin, das Recht als Form im Auge haben, die sich letztlich auf Gewalt stützt, und eben diese Form aushebeln wollen, ohne anzugeben, was an deren Stelle treten könnte. Produktive Rechtskritik müsse stattdessen bei den Inhalten des Rechts ansetzen (Sergej Seitz, Entsetzungen. Transformationen der Rechtsgewalt bei Giorgio Agamben und Christoph Menke, Juridikum, 2015, 495-504).
VII. Imperativ und Rechtszwang
VIII. Imperativentheorie und Legitimität des Rechts
IX. Anhang zu V: Das Adressatenproblem im Strafrecht
Text: Karl Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. I (1872), 4. Aufl. 1922; ders., Hb des Strafrechts, Bd. 1, 1895.
Literatur: Andreas Funke, Karl Bindings Normentheorie im Lichte der zeitgenössischen Diskussion, in; Michael Kubiciel u. a. (Hg.), »Eine gewaltige Erscheinung des positiven Rechts«, 2020, 11–36; Norbert Hoerster, Das Adressatenproblem im Strafrecht und die Sozialmoral, JZ 1989, 10; ders., Wer macht sich Illusionen?, JZ 1989, 425; Wolfgang Naucke, Einführung: Rechtstheorie und Staatsverbrechen, in: Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, [1920], Nachdruck 2006; Joachim Renzikowski, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Normentheorie?, in: Alexander Aichele u. a. (Hg.), Normentheorie, Grundlage einer universalen Strafrechtsdogmatik 2022, 9-19; Pepe Schladitz, Normtheoretische Grundlagen der Lehre von der objektiven Zurechnung, 2019 (S. 208ff); Eberhard Schmidhäuser, Von den zwei Rechtsordnungen im staatlichen Gemeinwesen. Ein Beitrag zur allgemeinen Rechtstheorie, 1964; ders., Form und Gehalt der Strafgesetze, 1988; ders., Illusionen in der Normentheorie und das Adressatenproblem im Strafrecht, JZ 1989, 419-425; Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 304 ff. (zu Binding)
Ein so grundlegendes Gesetz wie das Strafgesetzbuch formuliert unmittelbar keine Verhaltensnormen, die sich an das Publikum richten, sondern nur die Sanktionsnormen, die den Gerichten vorgeben, wie auf Normverletzungen zu reagieren ist. Die Verhaltensnormen sind aus dem StGB nur mittelbar zu erschließen. Es heißt also im Gesetz nicht, Du sollst nicht töten, stehlen oder betrügen, sondern nur, wer tötet, stiehlt oder betrügt, ist in bestimmter Weise zu bestrafen. Das bedeutet freilich nicht, dass die strafrechtlich sanktionierten Verhaltensnormen nicht selbst als Recht anzusehen wären. Im Gegenteil, sie bilden teleologisch die Hauptsache. Obwohl die Verhaltensnormen als solche nicht ausdrücklich ausgesprochen werden, sind sie doch die selbstverständliche Voraussetzung der Sanktionsnormen und damit Inhalt des Strafgesetzes selbst.
Anders sah es die »Normentheorie« des Strafrechtlers Karl Binding (1841–1920). Aus dem Umstand, dass die Tatbestände des StGB nicht ausdrücklich Gebote oder Verbote aussprechen, schloss er, dass die Normen vor und außerhalb des Gesetzes zu suchen seien.
»So sind die Normen zwar die notwendigen Voraussetzungen der Strafgesetze, aber nicht deren Bestandteile. Sie sind, weil sich in ihnen stets die obrigkeitliche Gewalt als solche im Befehle an ihre Untergebenen betätigt, allesammt selbständige Sätze des öffentlichen, aber nie des Straf-Rechts.« (1885, S. 164)
»Aus der accessorischen Natur des Strafrechts folgt, dass seine Abhängigkeit von anderen Rechtssätzen unabhängig ist von deren Form.« (S. 212)
Nur zum kleineren Teil sind sie in förmlichen Gesetzen enthalten.
»So gehören die Normen meist dem ungesetzten Recht an.« (S. 201)
»Kraft dieser Abhängigkeit legt das ungesetzte Recht eine tiefe … Bresche in das geschriebene Strafgesetz.« (S. 212 f.)
So können im Gesetz nicht vorgesehene Ausnahmen von der Strafbarkeit entstehen (S. 213) und sogar die Überwindung des Analogieverbots wird denkbar.
Die »Normen« entstehen aus den Bedürfnissen der Bürger. Sie haben den Zweck, den Bestand der Gesellschaft zu sichern. Das Strafgesetz ist nur sekundär und hat den Zweck, den Normen zur Wirkung zu verhelfen.
Bei Eberhard Schmidt erscheint Binding noch als der liberale, dem Rechtsstaat verpflichtete Gesetzespositivist. Naucke hat jedoch gezeigt, dass Gesetzestreue bei Binding nicht Treue zum Wortlaut des Gesetzes und den Absichten des Gesetzgebers ist, sondern Treue zu den vorgelagerten Normen, wie sie das jeweils aktuelle Interesse der Gesellschaft zu fordern scheint: Wenn das Verständnis der Normen sich ändert, so muss die Auslegung durch Analogie oder Restriktion dem Wandel folgen. Das führt zu der unerhörten Konsequenz, dass »die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« durch bloß einschränkende Auslegung der Tötungstatbestände erreicht wird, wenn das aktuelle Normenverständnis der Gesellschaft eine Bestrafung nicht länger fordert (Naucke).
Die normtheoretische Interpretation des Strafrechts gab Anlass zu Kontroversen. In einer Schrift über »Form und Gehalt der Strafgesetze« behauptet Schmidhäuser, dass die Strafgesetze sich ausschließlich an die staatlichen Verfolgungsorgane richteten. Als Grund für diese These führt er an, es sei schlechthin unrealistisch anzunehmen, dass das Publikum die Strafgesetze kenne oder auch nur kennen könne. Dazu seien sie viel zu technisch und lebensfremd formuliert. Man müsse sich daher beim Publikum mit einem von der allgemeinen Sozialmoral gespeisten Rechtsbewusstsein zufriedengeben, das vom staatlichen Recht verschieden sei. Dagegen machte Hoerster geltend, Gesetzgebung, Rechtsprechung und Lehre ließen sich am besten mit einer zweispurigen Adressatentheorie erklären: Die Strafgesetze richten sich an den Bürger, dem sie bestimmte Handlungen verbieten oder gebieten. Sie richten sich zugleich an die Strafverfolgungsorgane, denen sie im Übertretungsfall die Bestrafung vorschreiben. (Ausführlicher zu dieser Kontroverse, in der wir den Standpunkt Hoersters übernehmen, in der 2. Aufl. § 26 II.)
Die Ansicht Schmidhäusers hat erhebliche Bedeutung für die Auslegung des Art. 103 II GG und wohl auch für die Anforderungen an einen entschuldigenden Verbotsirrtum. Wenn man nämlich meint, die Strafgesetze richteten sich gar nicht an das Publikum, dann kommt es nicht darauf an, wie das Publikum Strafgesetze versteht und verstehen kann. Dann soll die Bestimmtheit des Strafgesetzes also gar nicht dazu dienen, dem Bürger ein straffreies Verhalten zu ermöglichen, sondern nur die Gerichte daran hindern, willkürlich zu strafen. Das wäre nicht wenig, aber wohl nicht genug. Die Gegenansicht entspricht einer historischen Auslegung des Art. 103 GG. Die Bestimmung geht auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 zurück, die lateinische Formulierung nulla poena sine lege scripta et stricta stammt von Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833), von demselben Feuerbach, der die Rechtfertigung des Strafrechts mit der psychologischen Zwangstheorie begründet hat, mit dem Ziel also, den möglichen Täter durch die Strafdrohung abzuschrecken. Das setzt aber voraus, dass gerade der Täter die Strafbarkeit seiner Tat im Voraus erkennen konnte. Genau umgekehrt verfährt allerdings seit jeher die Praxis. Ausnahmen wie das Urteil des Reichsgerichts zum Elektrizitätsdiebstahl bestätigen die Regel. Einen Freibrief für diese Praxis stellt Schmidhäuser aus.
Dennoch hat Schmidhäuser einen wichtigen und kritischen Punkt angesprochen. Der Bürger wird als Adressat von der Rechtspraxis nicht ernst genommen. Weder bemüht sich der Gesetzgeber, die Strafgesetze verständlich zu formulieren und sie dem Bürger in geeigneter Weise bekannt zu machen, noch wird im Übertretungsfall die Bestrafung von der positiven Kenntnis des Strafgesetzes abhängig gemacht; es genügt vielmehr Rechtsfahrlässigkeit, die mit einem allgemeinen, von der Sozialmoral abgeleiteten Unrechtsbewusstsein begründet wird.