I. Rechtsbegriff und Staatslehre
II. Georg Jellineks Staatslehre
III. Der Staatsbegriff Kelsens
IV. Kelsens Antipoden: Kaufmann, Heller, Smend und Schmitt
V. Staat als soziales und politisches Phänomen
VI. Staat und Nation
VII. Wandel der Staatlichkeit
VIII. Der Rechtsstaat
Texte von Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, 8. korrigierte Aufl. 2012; Was bedeutet der Streit um den »Rechtsstaat«?, Zf die gesamte Staatswissenschaft 95, 1935, 189-201, wieder abgedruckt in: Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos, Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg. und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, 1995, 121-132; darin auch: Der bürgerliche Rechtsstaat (1928), S. 44-54, sowie: Der Rechtsstaat (1935), S. 108-120.
Literatur: Ernst Fraenkel, The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, 2010; Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986; Ingeborg Maus, Entwicklung und Funktionswandel der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats, in: dies., Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, 1986 [1973], 11-82; Jens Meierhenrich, The Remnants of the Rechtsstaat. An Ethnography of Nazi Law, 2018 (Rezension von Ron Levi, Law & Society Rev 53, 2019, 626-628); Ingo von Münch, Rechtsstaat versus Gerechtigkeit?, Der Staat 11, 1994, 165-184; Angelika Nußberger, Was ist Willkür? Auf der Suche nach europäischen Standards, JZ 2021, 965-973; Gerald J. Postema, Law’s Rule, 2022; Joseph Raz, Rule of Law and its Virtue, Law Quarterly Review 93, 1977, 195-211 = The Authority of Law, 2009, 210ff; ders., The Law’s Own Virtue, Oxford Journal of Legal Studies 2019, 1–15; Frederick Schauer, Ron Fuller and the Rule of Law, SSRN 2021, 3606157; Gregory Shaffer/Wayne Sandholtz, The Rule of Law under Challenge: The Enmeshment of National and International Trends, SSRN 2023, 4617888; Jeremy Waldron, The Rule of Law and the Importance of Procedure, NOMOS 50, 2011, 3-31.
1. Exkurs: Das Provenienz-Problem
Literatur: André Brodocz, Die politische Theorie des Dezisionismus: Carl Schmitt, in: ders./Gary S. Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart, 4. Aufl., 2016, 287-322; Jean-Francois Kervegan, Was tun mit Carl Schmitt?, 2021; Reinhard Mehring, Überlegungen zur Aktualität Carl Schmitts, JZ 2021, 745-751; Gwinyai Machona, Das Provenienz-Problem der Rechtswissenschaften: Zum Umgang mit Antisemitismus, Rassismus und Sexismus im juristischen Wissenskanon, KJ 33, 2022, 437-452; Jan-Werner Müller, A Dangerous Mind, 2003.
Wenige Autoren werden in diesem Buch so häufig zitiert wie Carl Schmitt (1888-1965). Wir zitieren ihn in erster Linie, weil seine markanten Positionen sich immer wieder als Kontrastmittel zu Klärung der eigenen Stellungnahme anbieten. Aber Carl Schmitt steht für ein allgemeineres Problem: Wie geht man mit Wissenschaftlern um, deren Werk eindeutig antisemitische, rassistische, sexistische, kolonialistische oder sonst menschenverachtende Positionen enthält?
Am 3. und 4. Oktober 1936 fand in Berlin eine Tagung der »Reichsgruppe Hochschullehrer des nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes« über das Thema »Das Judentum in der Rechtswissenschaft« statt. Wenn man (bei Sinzheimer S. 1ff) die Einleitungsworte zur Tagung des damaligen Reichjustizminisers Frank und anschließend des »Staatsrats Prof. Dr. Carl Schnitt« nachliest, möchte man eigentlich nie wieder eine Zeile des letzteren zur Kenntnis nehmen. Bewundernswert dagegen, wie der Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer 1937 im Exil in Amsterdam den Juden, ohne die die deutsche Rechswissenschaft nicht zu denken war und ist, ein Denkmal gesetzt hat: Hugo Sinzheimer, Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, 1953 [1937].
Auf der langen Liste der Juristen, denen einschlägige Texte vorgehalten werden, stehen die Namen von Immanuel Kant und Georg W. F. Hegel, Karl Marx und Max Weber, Ernst Forsthoff und Karl Larenz, Georg Dahm und Theodor Maunz und andere mehr.
Als der ältere der Autoren dieses Buches darf ich (KFR) eine persönliche Bemerkung einfügen. Ich habe selbst als Student in Kiel noch die Reste der »Stoßtruppfakultät« in der Person von Georg Dahm und Karl Larenz erlebt. Dahm war ein begeisternder Redner, für den kein Hörsaal groß genug war. Larenz schaffte es, jeden Hörsaal leer zu predigen. Aber sein »Schuldrecht« war uns Offenbarung. Aus heutiger Sicht bedrückt mich unsere oder meine politische Naivität. Wir wussten zwar, dass Kantorowicz und Radbruch von den Nazis aus Kiel vertrieben worden waren. Aber wir kamen nicht auf die Idee, von Dahm oder Larenz handfest Rechenschaft zu fordern.
Wenn man für die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die Jurisprudenz im Besonderen Wissenschaftlichkeit in Anspruch nimmt, löst man das Provenienz-Problem auf dem Wege, den Machona (S. 449) als »Abstraktion und Trennung« von Wissenschaft und Politik anführt. Dann kommt es allein auf den sachlichen Gehalt der Texte an, die man hermeneutisch, wie alle anderen Texte auch, auf inakzeptable Untertöne befragen muss. Ein Flagging, also ein besonderer Hinweis bei der Namensnennung auf den Charakter des Autors ist daneben überflüssig. Nur wenn sich daraus Argumente für das aktuelle Thema ergeben, sind solche Hinweise angebracht.
Die breit diskutierte Frage, ob Kant ein Rassist war, ist falsch gestellt, denn sie beruht auf einem normativen Rückschaufehler. Keine Frage, dass man exegetisch im Werk Kants Stellen findet, die, würden sie heute veröffentlicht, als rassistisch einzuordnen wären. Aber als normatives Urteil über das Werk oder gar die Person Kants wäre diese Einordnung eine anmaßende Idiosynkrasie. Als Rückschaufehler (hindsight bias) bezeichnet man gewöhnlich nur das rückblickende Urteil über Kausalverläufe. Solche Urteile sind typisch dahin verzerrt, dass der tatsächliche Verlauf bekannt ist und diese Kenntnis in die Vergangenheit projiziert wird. Eine analoge Verzerrung zeigt sich bei normativen Urteilen. Wertvorstellungen wandeln sich über die Zeit. Heute ist die Ablehnung von Sklaverei, Folter und Körperstrafen eindeutig. Das war nicht immer so. Heute besteht auch über die Verurteilung von Rassismus, Kolonialismus und Sexismus Konsens. Der Konsens war schwerer zu erlangen, unter anderem, weil die inkriminierten Phänomene tatbestandsmäßig nicht so leicht greifbar sind wie die zuerst genannten. Historiker begegnen diesem Problemkreis mit einem Kranz von Geschichtstheorien. Was hier Rückschaufehler genannt wird, vermeidet wohl am ehesten der so genannte Historismus, wenn man darunter eine Betrachtungsweise versteht, die die jeweilige historische Situation um ihrer selbst willen betrachtet. Diese Vorstellung hat Leopold von Ranke klassisch formuliert:
»Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst … .« (Uber die Epochen der neueren Geschichte [1854], Nachdruck 1954, S. 7)
2. Formaler und materieller Rechtsstaat
Es ist im wahren Sinne des Wortes pervers, dass wir hier von einem Text Carl Schmitts ausgehen, der keinen anderen Zweck hatte, als den Rechtsstaat durch einen nationalsozialistischen Unrechtsstaat abzulösen. Aber Carl Schmitt war mephistophelisch klug. Deshalb ist sein Text geeignet, die Konturen des Rechtsstaats, wie wir ihn heute verstehen, zu schärfen.
»Das Problem des Rechtsstaats ist neu und entsteht erst durch die Unterscheidung von Gerechtigkeit und positiver staatlicher Legalität.« (1928, 108)
1935 heißt es in diesem Sinne:
»In Wirklichkeit ist gerade der Rechtsstaat Gegenbegriff gegen einen unmittelbar gerechten Staat; es ist ein Staat, der ›feste Normierungen‹ zwischen sich und die unmittelbare Gerechtigkeit des Einzelfalles einfügt. Die allein sinnvollen Gegenbegriffe gegen einen Rechtsstaat sind Staatsarten, die eine andere als diese bloß mittelbare ›normative‹ Beziehung zur Gerechtigkeit haben, also der Religions- oder der Weltanschauungs- oder der Sittlichkeitsstaat.« (S. 190)
Schmitt weist auf die Entstehung des Rechtsstaatsbegriffs seit 1830 hin, der auf die »Forderung einer Unterwerfung des Staates unter die individualistisch-bürgerliche Gesellschaft« hinauslaufe. So sei aus Recht und Gerechtigkeit ein positivistisches Zwangsnormengeflecht geworden, dessen ganze Gerechtigkeit in der Rechtssicherheit bestehe. Das Ideal der Justizförmigkeit aller Staatsakte und der Grundsatz der »Gesetzmäßigkeit« der Verwaltung, ja, der normativistischen Bindung des gesamten staatlichen Lebens hätten »Recht und Gesetz zum bloßen Fahrplan der bürokratischen Maschine« gemacht. Schmitt zitiert Friedrich Julius Stahl: »Der Rechtsstaat bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt eines Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen.« So sei aus dem Rechtsstaat ein bloßes Mittel zum Zweck geworden. Dieser formale Rechtsstaatsbegriff habe keinen Inhalt mehr, lasse aber jeden Inhalt zu. Schmitts Fazit:
»Damit war die Beseitigung jeder sachinhaltlichen Gerechtigkeit vollendet und der Rechtsstaat zum reinen Gesetzesstaat geworden. Während der frühe liberale Rechtsstaat noch eine Weltanschauung hatte und eines politischen Kampfes fähig war, ist die einzige Weltanschauung, der ein solcher positivistischer Gesetzesstaat spezifisch zugehört, ein hilfloser Relativismus, Agnostizismus oder Nihilismus, dem das Recht ein ›ethisches Minimum‹ ist, der an die ›normative Kraft des Faktischen‹ glaubt und dem die unmittelbare Gerechtigkeit des Satzes nullum crimen sine poena einen panischen Schrecken einjagt.« (S. 196)
Legt man Schmitts Analyse zugrunde, dann fehlt dem Rechtsstaat in der Tat etwas. Schmitt erwägt, ob es nicht genüge, »einen nationalsozialistischen Rechtstaat einzurichten«. Er überlegt sogar, ob »das Wort ›Rechtsstaat‹ nicht auch [ähnlich wie Recht und Freiheit zu den] unzerstörbaren Worten der deutschen Rechts- und Volksgeschichte« gehöre. Aber am Ende will er ganz auf den Rechtsstaatsbegriff verzichten, um der »weltanschaulich begründeten Einheit von Recht, Sitte und Sittlichkeit« zu genügen. Der Rechtsstaatsbegriff soll zur »Trophäe eines geistesgeschichtlichen Sieges über den bürgerlichen Individualismus und seine Entstellungen des Rechtsbegriffs« werden.
Um diesem Text gerecht zu werden, muss man zur Kenntnis nehmen, dass schon zuvor aus sozialistischer Sicht Otto Kirchheimer den Rechtsstaat zum »reinen Rechtsmechanismus« erklärt hatte:
»Der Staat lebt vom Recht, aber es ist kein Recht mehr, es ist ein Rechtsmechanismus, und jeder, der die Führung der Staatsgeschäfte zu bekommen glaubt, bekommt statt dessen eine Rechtsmaschinerie in die Hand, die ihn in Anspruch nimmt wie einen Maschinisten seine sechs Hebel, die er zu bedienen hat. Das rechtsstaatliche Element in seiner nach Überwindung des reinen Liberalismus nunmehr angenommenen Gestalt, die spezifische Transponierung der Dinge vom Tatsächlichen ins Rechtsmechanistische ist das wesentliche Merkmal des Staates im Zeitalter des Gleichgewichts der Klassenkräfte.« (Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus, Zf Politik 17, 1928, 593-611, S. 597f)
Von diesem dunklen Hintergrund hebt sich der Staat des Grundgesetzes durch zwei wesentliche Eigenschaften ab. Er ist Mittel nicht für beliebige Zwecke, sondern für die Durchsetzung demokratisch bestimmter Politik, und er hat ein festes, wenn man so will, ein sittliches Fundament in den Grund- und Menschenrechten. Die Frage ist allerdings, ob man diese materiellen Grundlagen in den Begriff des Rechtsstaats hineinlesen soll, so dass der Rechtsstaatsbegriff materiell oder inklusiv wird. Das wird überwiegend bejaht, ist allerdings kein Fortschritt. Mit Joseph Raz sind wir de Ansicht, dass Rechtsstaat und Menschenrechte unterschiedliche Rechtsprinzipien darstellen, die sich allerdings gegenseitig stützen.
Nach der Wende von 1989 wurde ein Satz, welcher der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley zugeschrieben wird, zum geflügelten Wort: »Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat«. Dieser Satz wurde vielfach als Argument gegen einen formalen Rechtsstaatsbegriff verwendet (Münch), taugt dazu aber nicht. Das Grundgesetz hat Demokratie, Grund- und Menschenrechte als eigenständige Prinzipien und Rechte noch vor und neben dem Rechtsstaat installiert. Wenn Art. 28 I GG von »den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes« spricht, so handelt es sich um zusätzliche Qualifizierungen des Staates überhaupt. Substantivisch formuliert: der Staat ist Demokratie, Republik, Sozialstaat und Rechtsstaat. Die materielle Anreicherung des Rechtsstaatsbegriffs, die alle Qualifizierungen des Staates in den Rechtsstaatsbegriff hineinnimmt, hat dessen Verwässerung zur Folge. Soweit das Grundgesetz materielle Rechtsprinzipien statuiert hat, ist ein Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich.
Heute wissen wir die von Schmitt geschmähte Rechtsförmlichkeit zu schätzen. Sie sorgt für Transparenz und schützt vor Willkür und Korruption. Sie hat neben Demokratie und Grundrechten einen Eigenwert. Dieser Rechtsstaatsbegriff bietet zwar keine subsumtionsfähige Norm, ist aber als Prinzip konkretisierbar. Er lässt sich so weit operationalisieren, dass er Politik, Verwaltung und Gerichte leiten kann.
Der formale Rechtsstaat deckt mehr als ein Verfahren nach vorher festgelegten Regeln. Er wird durch Formprinzipien des positiven Rechts ausgefüllt, wie sie der amerikanische Rechtsphilosoph Lon L. Fuller ausformuliert hat (u. § 47 VI). Für die Rechtslage unter dem Grundgesetz verlangt das Rechtsstaatsprinzip:
- Gewaltenteilung, Art. 20 II GG,
- Vorbehalt des Gesetzes für staatliche Eingriffe in Freiheit und Eigentum,
- allgemeine, öffentlich bekannt gemachte, verständliche und verlässliche Gesetze,
- Verzicht auf rückwirkende Gesetze,
- die Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht,
- Gleichheit vor dem Gesetz,
- Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte, Art. 19 IV GG,
- faire Verfahren nach Maßgabe der Justizgrundrechte des Art. 101, 103 GG.
Grund- und Menschenrechte gehören zum (formalen) Rechtsstaat nur, soweit sie positivrechtlich ausgeformt sind. Das bedeutet beispielhaft etwa: Im Streit um die Verfassungsmäßigkeit von § 1353 I BGB oder um einen einfachgesetzlichen Anspruch auf ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Ehepaare kann man sich nicht auf das Rechtstaatsprinzip berufen, sondern muss unmittelbar für einschlägig gehaltene Grundrechte anführen. Der praktische Unterschied besteht darin, dass der formale Rechtstaatsbegriff deutliche juristische Konsequenzen haben kann, während ein inklusiver Begriff in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion um den richtigen Weg seine Konturen verliert.
3. Die Rule of Law
Literatur: Tom Bingham, The Rule of Law, 2011; Paul Gowder, The Rule of Law in the United States. An Unfinished Project of Black Liberation, 2021; Martin Krygier, Rule of Law (and Rechtsstaat), in: James R. Silkenat u. a. (Hg.), The Legal Doctrines of the Rule of Law and the Legal State (Rechtsstaat), 2014, 45-59; Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, JZ 1984, 65-70; Solum, LTL 017: The Rule of Law; Brian Z. Tamanaha, On the Rule of Law, 2004; Jeremy Waldron, The Rule of Law, Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2021; Mila Versteeg/Tom Ginsburg, Measuring the Rule of Law: A Comparison of Indicators, Law & Social Inquiry 2017, 100–137. In England gilt als Klassiker Albert Venn Dicey (1835-1922), Law of the Constitution, 1895.
Zwischen dem Begriff des Rechtsstaats und dem anglo-amerikanischen Begriff der rule of law besteht nach der These von Neil MacCormick kein wesentlicher Unterschied. Schon die Benennung deutet allerdings darauf hin, dass der deutsche Begriff auf staatliches Recht ausgerichtet ist, während die rule of law einschließt, was man unter Governance (u. § 47 xxx) zu fassen sucht (Tamanaha). Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur wird in Deutschland auch die Fundierung in den Menschenrechten stärker betont (Krygier), bei der rule of law dagegen der Gedanke der Fairness und des due process. Doch auch hinsichtlich der rule of law gibt es den Streit, ob der Begriff formal oder inklusiv zu bilden sei (thick or thin).
4. Das Rechtsstaatsprinzip der EU
Literatur: Julia Geneuss/Andreas Werkmeister, Faire Strafverfahren vor systemisch abhängigen Gerichten?, ZStW 132, 2020, 102-132; Anna Labedzka, The Rule of Law – A Weakening Lynchpin of the European Union, SSRN 2020, 3584379; Andreas Voßkuhle, 978-3-926397-34-8, = The Idea of the European Community of Values = Hē idea tēs Eurōpaïkēs Koinotētas axion, 2018; Albrecht Weber, Rechtsstaatsprinzip als gemeineuropäisches Verfassungsprinzip, ZÖR 63, 2008, 267-292; Jacques Ziller, L’Etat de droit, une perspective de droit comparé – Conseil de l’Europe, EPRS (Service de recherche du Parlement européen), 2023.
Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips COM(2014)158final. Deutscher Text in der Bundesrats-Drucksache 121/14; Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Oktober 2020 zu der Einrichtung eines EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte (2020/2072(INI)).
Die EU versteht sich als Wertegemeinschaft. Die Rechtsstaatlichkeit gehört zu den Werten, »auf die sich die Union gründet« (Art. 2 EUV). Besteht »die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat«, so gibt Art. 7 EUV die Möglichkeit, Rechte dieses Staates aus dem Vertrag auszusetzen. Die Hürden des Art. 7 sind jedoch hoch. Das zeigt sich in den Auseinandersetzungen der EU mit Polen und Ungarn. Die EU greift aus dem Wertekatalog des Art. 2 EUV den Rechtsstaatsbegriff heraus, um dann indirekt andere der dort genannten Werte einzuführen. So scheint es am ehesten möglich, die Identitätsschranke des Art. 4 II EUV zu überwinden. In der Folge wird der Rechtsstaatsbegriff inklusiv verstanden, soll also die Grund- und Menschenrechte einschließen. So werden Asylverfahren, restriktive Gesetze zur Schwangerschaftsunterbrechung oder Rechtsforderungen von LGBT als Rechtsstaatsprobleme verhandelt.
Von Bogdandy weist darauf hin, dass die Union auf eine Vielfalt von Verfassungen und auf Divergenzen hinsichtlich des Gehalts und der Intensität von Grundrechten angelegt sei. Wenn die Union die Werte des Art. 2 EUV als Optimierungsgebote handhabe, so könne in einigen Mitgliedsländern die Befürchtung vor einer »Tyrannei der Werte« aufkommen. Deshalb seien die europäischen Werte »minimalistisch« zu interpretieren (Armin von Bogdandy, Tyrannei der Werte? Probleme und Wege europäischen Schutzes nationaler Rechtsstaatlichkeit SSRN 2019, 3317539).
Die formellen Elemente des Rechtsstaatsbegriffs sind handfester als die sehr allgemeinen sonstigen Werte des Art. 2 und als solche weitgehend konsentiert. Niemand stellt in Abrede, dass Richter und Gerichte unabhängig sein müssen. Niemand bezweifelt, dass fallbezogene Weisungen an die Justiz unzulässig sind. Die normative Anknüpfung findet sich in Art. 2 und Art. 19 I 2 EUV, der von den Mitgliedsstaaten die Einrichtung eines wirksamen Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen verlangt. Weiter wird Art. 47 der Grundrechte-Charta herangezogen. Aber wie genau die Gerichtsorganisation gestaltet sein muss, um die Unabhängigkeit der Gerichte herzustellen, lässt sich daraus nicht ableiten. Art. 19 II 3 EUV und Art. 253 f. AEUV behandeln die Unabhängigkeit der Richter nur als Persönlichkeitsmerkmal. Die innere Unabhängigkeit der Richter muss jedoch durch ihre Rechtsstellung gewährleistet sein. Flagrante Verletzungen der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne direkter Weisungen sind heutzutage weniger zu erwarten als indirekter Druck. Insoweit kann sich der formale Rechtsstaat bewähren. Politischer Einfluss auf die ursprüngliche Auswahl und Bestellung der Richter, insbesondere an den Ober- und Verfassungsgerichten, lässt sich nicht ganz vermeiden. Wenn Richter aber einmal bestellt sind, darf es während ihrer Amtszeit keine negative Veränderung ihres Status mehr geben, etwa, wie in Polen, durch Versetzung oder vorzeitige Pensionierung. Das Disziplinarrecht darf grundsätzlich nur Vorkommnisse außerhalb der Amtsführung behandeln. Inhaltliche Korrekturen richterlicher Entscheidungen sind auf die allgemein zugelassenen Rechtsmittel zu beschränken. Darüber hinaus darf nur Rechtsbeugung Anlass zu einer Maßregelung von Richtern sein.
Der Umgang Polens mit seinen Richtern vor dem Machtwechsel von 2023 verstieß gegen das formale Rechtsstaatsprinzip. Im Hintergrund steht jedoch wohl auch ein Wertkonflikt.
Zum Streitpunkt ist die Frage geworden, ob Unabhängigkeit nur für Gerichte im engeren Sinne zu fordern ist, oder ob auch andere staatliche Einrichtungen mit Kontrollfunktion wie Staatsanwaltschaften, Datenschutz- und Aufsichtsbehörden unabhängig sein sollen. In Deutschland ist die Staatsanwaltschaft traditionell weisungsgebunden (§ 146f GVG). Das wird zwar auch innerdeutsch kritisiert. Aber diese Kritik ist in erster Linie standespolitisch motiviert. 2019 hat der EuGH (C‑508/18) entschieden, dass deutsche Staatsanwälte keinen europäischen Haftbefehl beantragen dürfen, weil sie nicht als »ausstellende Justizbehörde« nach Art. 6 I des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl angesehen werden könne. Dieser Begriff sei dahin auszulegen, »dass darunter nicht die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats fallen, die der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden«.
II. Demokratie
Literatur: Herbert Buchstein/Dirk Jörke, Das Unbehagen an der Demokratietheorie, Leviathan 2003, 70–495; Dirk Jörke, Liberale Demokratietheorie in der Krise, Neue Politische Literatur 2022, 249–266; Philip Manow, Unter Beobachtung, 2024; Jan-Werner Müller, Was ist Populismus?, Zf Politische Theorie 2017, 187–201.
Rechtssoziologie-online § 100: Globalisierung von Demokratie und Menschenrechten.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat. Die Allgemeine Rechtslehre ist daher in Versuchung, sich auch zum Demokratiebegriff zu äußern. Damit ist sie überfordert, wenn man mehr erwartet als die Unterscheidung eines formellen vom materiellen Demokratiebegriff. In der Politikwissenschaft spricht man von einer formalen und einer normativen Demokratietheorie. Der formelle Demokratiebegriff gilt als der liberale. Er verlangt regelmäßig wiederkehrende Personalwahlen, ein allgemeines und faires Wahlrecht, und als Vermittlungsinstanzen zwischen Wahlvolk und Regierung ein Parlament. Durch das Parlament wird die Demokratie zur repräsentativen. Materiell wird der Demokratiebegriff, wenn er mit Werten aufgeladen wird, ähnlich wie es mit dem Rechtsstaatsbegriff geschieht. Der Verzicht auf eine Fundierung der Demokratie durch Werte, insbesondere in Gestalt der Menschenrechte, begegnet der Befürchtung, dass Demokratie zur Scheindemokratie werden oder sich selbst abschaffen könnte. Dieser Befürchtung kann aber wohl besser durch geeignete Formen als durch Inhalte begegnet werden, berufen sich doch auch Populismen aller Art auf »wahre« Werte, die durch Wahlen bestätigt werden sollen. Der Politikwissenschaftler Philip Manow macht darauf aufmerksam, dass die Konstitutionalisierung und Judizialisierung der Demokratie mit einer Abwertung der demokratischen Wahl und Entmachtung der Parlamente einhergeht und sieht darin einen Grund für den in den letzten Jahrzehnten aufkommenden Populismus.
In einer Demokratie müssen Entscheidungen getroffen werden, die unvermeidlich Werturteilscharakter haben. Auf der Ebene von Parlament und Regierung ist die Abwählbarkeit die wichtigste Sicherung gegen willkürliche Entscheidungen, auf der Ebene der Verwaltung ist es die Bindung an das Gesetz. Große Hoffnung setzen manche in eine deliberative Demokratie (o. § 32 III 2). Vielleicht ist es sinnvoll, in manchen Situationen stärker auf aleatorische Verfahren zu setzen. Dazu Aaron Gebler, Die Verwendung und Bedeutung von Losverfahren in Athen und im griechischen Raum vom 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr, 2024. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Ersetzung von Wahlen durch Losverfahren erörtert Philip Berger, Grundgesetz und aleatorische Demokratie, 2024. Zu den Abstimmungsregeln in der Demokratie u. § 44 VI).