Literatur: Paul Bohannan, The Differing Realms of the Law, American Anthropologist 67, 1965, Sonderheft 6, S. 33-42; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964; H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts [The Concept of Law, 1961], 1973; Hermann Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, 1963; Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979 [postum]; Niklas Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, RTh 21, 1990, 459-473; ders., RdG, Kapitel 7, S. 297-337.
I. Der Modellcharakter sozialer Normen
Soweit haben wir die Struktur der Rechtsnorm sehr abstrakt auf ein Minimum von Elementen reduziert. Als Elemente haben wir den Sachverhalt (Proposition) und den deontischen Operator unterschieden. Den Sachverhalt – man könnte auch vom »Normverhalt« sprechen – haben wir weiter aufgegliedert in Thema, Situation und Adressaten. Um zu prüfen, ob ein solcher Normbegriff praktisch brauchbar ist, wählen wir hier den Umweg über die Rechtssoziologie, also über eine empirische Betrachtungsweise. Zwar suchen wir für die Rechtstheorie keinen empirischen, sondern einen analytischen Normbegriff, das heißt, es interessieren unabhängig von konkreten Norminhalten und unabhängig von der »Existenz« bestimmter Normen nur die allgemeinen Strukturmerkmale von Normen. Aber man kann die Formen nicht frei erfinden, sondern muss sie von konkreten Inhalten abziehen. Dafür bietet die soziale Norm als empirische Erscheinung Modell oder Anregung.
Als Ausgangspunkt eignet sich dazu die Analyse der sozialen Norm als einer mit Sanktionen bewehrten Verhaltensforderung, wie sie von Theodor Geiger in seinen »Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts« herausgearbeitet worden ist. Sie zeigt, dass Rechtsregeln nur den Unterfall einer allgemeineren sozialen Erscheinung, nämlich eben sozialer Normen, bilden. Worin sie sich von anderen sozialen Normen unterscheiden, lässt sich verhältnismäßig einfach angeben, wenn man die einzelnen Strukturmerkmale sozialer Normen ansieht. Dabei ergibt sich eine weitgehende Übereinstimmung mit den Grundstrukturen juristischen Denkens. Aber es zeigen sich auch einige Unterschiede.
Geigers Darstellung kommt den Erfordernissen der Rechtstheorie entgegen, weil sie versucht, den Normbegriff zu formalisieren. Geiger hat nämlich, »um ein Höchstmaß begrifflicher Genauigkeit zu sichern, insbesondere um Begriffsverschiebungen auszuschließen, die wörtliche Darstellung durch Buchstaben-Symbole und Formeln nach dem Vorbild der Logistik« ergänzt. Allerdings verwendet er die Symbole teilweise in anderer Bedeutung, als sie sich in der modernen Logik durchgesetzt hat, so dass seine Begriffsschrift nicht einfach zu lesen ist. Deshalb lohnt es sich auch nicht, sie hier vollständiger wiederzugeben.
II. Der Normkern
III. Präzisierungen des Normbegriffs
IV. Die Stellung der Gerichte im Recht
V. Der monistisch-etatistische Rechtsbegriff
Soziologen und Ethnologen akzeptieren als Recht alle Normen, für deren Einhaltung besonders dazu bestellte Personen verantwortlich sind. So gelangen sie zu einem pluralistischen Rechtsbegriff, der eine Vielzahl von Rechtsquellen und Rechtsschichten anerkennt.
Rechtshistoriker gehen noch einen Schritt weiter, indem sie zur Beschreibung früh- und hochmittelalterlicher Gesellschaften nach einem »nicht normativen Recht« suchen. Sie stehen vor dem Problem, dass Verhaltenserwartungen in historischer Zeit kaum als Normen ausformuliert, sondern nur indirekt aus der sozialen Praxis, aus der oralen Überlieferung von Ereignissen und in Ritualen zu erschließen waren. Deshalb hat Karl Kroeschell 1973 den Begriff des Gewohnheitsrechts durch denjenigen der Rechtsgewohnheit ersetzt und damit viel Zustimmung gefunden.
Die rechtshistorische Diskussion spiegelt sich bei Martin Pilch, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten: Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, 2009. Das Buch hat große Beachtung gefunden (vgl. die Rezension von Gerhard Dilcher, Zf Historische Forschung 38, 2011, 65-79). Pilch selbst hat es 2010 aus Anlass einer um das Buch veranlassten Tagung zusammengefasst: Rechtsgewohnheiten aus rechtshistorischer und rechtstheoretischer Perspektive, Rechtsgeschichte 17, 2010, 17-39.
Pluralistisch ist auch der Rechtsbegriff von Hermann Kantorowicz, der jede »gerichtsfähige Regel« als Recht einordnet, weil er als Gericht nicht nur staatliche Gerichte akzeptiert. Doch heute ist das Recht, das in früheren Entwicklungsstufen ein Aspekt der Gesellschaft war, ein Aspekt des Staates. Damit stellt sich die Frage, ob allein das Recht des Staates diesen Namen verdient oder ob man auch nichtstaatliche Normensysteme als Recht bezeichnen soll, ob man also den Rechtsbegriff monistisch-etatistisch oder pluralistisch fassen soll.
Wenn es nur um Sportvereine mit ihren Sportgerichten oder Skatvereine mit ihrer Skatgerichtsbarkeit ginge, würde man kaum zögern, sich für einen monistisch-staatlichen Rechtsbegriff zu entscheiden. Es liegt aber in der Konsequenz eines monistischen Rechtsbegriffs, dass alle nichtstaatlichen Ordnungen, auch wenn sie – wie das Kirchenrecht oder die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit – zu einer justizähnlichen Institutionalisierung gefunden haben, nicht unmittelbar zum Recht gehören. Entsprechendes gilt für die internen Ordnungen der politischen Parteien und der Gewerkschaften. Das könnte sogar für das Völkerrecht gelten, soweit es nicht in innerstaatliches Recht transformiert ist. Niemand bestreitet, dass das Völkerrecht als »werdendes Recht« zunehmend Beachtung verdient. Die Entstehung übernationaler Rechtsordnungen gehört zu den bedeutendsten Rechtsentwicklungen der Gegenwart. Allgemeines Bewusstsein, Rhetorik und Staatenpraxis sind auf dem Wege zu einer Weltrechtsordnung. Aber noch sperren sich insbesondere Russland, China und die USA, auch nur für einzelne Bereiche die Letztentscheidungskompetenz einer übernationalen Instanz zu akzeptieren. Erst mit einem allzuständigen Weltgerichtshof würde das Völkerrecht zum Recht im technischen Sinne. Das Völkerrecht als Ordnung nicht nur mit dem Anspruch auf Beachtung, sondern vor allem auch mit Ansätzen einer überstaatlichen Gerichtsbarkeit, müsste man mit Geiger (S. 225) als Recht in statu nascendi einordnen. Völkerrechtler wären entrüstet, wenn man dem Völkerrecht den Rechtscharakter abspräche. Das soll auch hier nicht geschehen (u. § 67 II).
Soziologisch gibt es kein klares Entweder-Oder, sondern nur gleitende Übergänge. Deshalb gibt es – empirisch betrachtet – auch nicht den einzig richtigen Rechtsbegriff. Allerdings ist es nach wie vor durchaus zweckmäßig, das staatliche Recht als etwas Besonderes herauszustellen, denn das von den Staaten verantwortete Ordnungsgefüge ist in der aktuellen Situation in Europa und weit darüber hinaus das faktisch wichtigste und lässt sich auch empirisch gut von anderen Ordnungsgefügen abgrenzen, denn es verfügt über eine besondere Qualität, die sich aus der Verbindung von Gewaltmonopol und Kompetenz-Kompetenz auf einem abgegrenzten Territorium ergibt.
Für die Rechtswissenschaft steht das staatliche Recht zwar im Mittelpunkt des Interesses. Sie ist damit jedoch nicht auf einen etatistischen Rechtsbegriff festgelegt. Das zeigt schon das Beispiel des Völkerrechts. Will man den Objektbereich der Rechtstheorie kennzeichnen, so kann man nach dem Vorbild des institutionellen Kunstbegriffs (»Kunst ist, was im Museum hängt.«) einen institutionellen Rechtsbegriff wählen: Recht ist alles, was die Rechtswissenschaft zum Thema macht.
Der soziologische und der institutionelle sind geltungsfreie Rechtsbegriffe, d.h. sie antworten nicht unmittelbar auf die Frage, welches Recht für ein Gericht, das hier und jetzt einen Fall zu entscheiden hat, maßgeblich wäre. Die Allgemeine Rechtslehre benötigt einen geltungsbezogenen Rechtsbegriff. Wenn wir deshalb einen etatistischen Rechtsbegriff bevorzugen, bedeutet das nicht, dass wir nichtstaatliche Ordnungen für rechtlich irrelevant halten; im Gegenteil: von diesem Bezugspunkt können wir alle Erscheinungen in den Blick nehmen, wenn und weil sie das staatliche Recht stützen oder mit ihm konkurrieren.