Texte: Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, 146-214; ders., Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1913), ebd. 451-502; ders., Wissenschaft als Beruf, ebd. 524-555. (Die Texte Max Webers werden heute nach neueren Auflagen der »Gesammelten Aufsätze« oder nach der Max-Weber-Gesamtausgabe zitiert. Für Zwecke der Rechtstheorie langt es aus, die im Internet (z. B. bei archive.org) verfügbaren Erstdrucke zu benutzen.)
Literatur: Theodor W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969; Hans Albert/Ernst Topitsch (Hg.), Werturteilsstreit, 2. Aufl. 1979; Eric Hilgendorf/Lothar Kuhlen, Die Wertfreiheit in der Jurisprudenz, 2000; Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929; Niklas Luhmann, »Was ist der Fall?« und »Was steckt dahinter?«, Zf Soziologie 22, 1993, 245-260; Hilary Putnam, The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays, 2002; Helmut Rüßmann, Zur Einführung: Die Begündung von Werturteilen, JuS 1975, 352–358.
I. Das Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft
Aus der Dichotomie von Sein und Sollen folgt das Werturteilsproblem.
Dem Philosophen ist auch die Wahrheitsfähigkeit von Aussagen über beobachtbare Tatsachen noch zweifelhaft. Praktisch ist die Gültigkeit solcher Aussagen jedoch unproblematisch. Die unübersehbaren Erfolge von Naturwissenschaft und Technik zeigen jeden Tag neu, wie sehr man sich auf die Aussagen der empirischen Wissenschaften verlassen kann und muss. Über die Frage, wie man richtigerweise handeln sollte, lässt sich dagegen oft erheblich streiten. Diese unterschiedliche Gewissheit von Tatsachenaussagen und Werturteilen hat zu der Auffassung geführt, Werturteile seien nicht wahrheitsfähig, sie seien mehr oder weniger subjektiv und daher unwissenschaftlich, eine kognitive = wissenschaftliche Ethik daher ausgeschlossen. Daraus folgt die Forderung, Wissenschaft müsse sich aller Werturteile enthalten. Diese Forderung ist bekannt geworden als das Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft.
Das Wertfreiheitspostulat ist von Max Weber mit großem Nachdruck und unter Inkaufnahme heftiger Feindschaften verfochten worden. Weber hat seine Gedanken ausführlich erstmals 1904 vorgetragen. In einem berühmten Aufsatz über »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« zog er die Konsequenzen aus der »strengen Scheidung von Erfahrungswissen und Werturteil«. Anlass war der Umstand, dass Weber zusammen mit Werner Sombart und Edgar Jaffé die Redaktion des »Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« übernommen hatte und den Lesern nun die Konzeption der neuen Herausgeber darlegen wollte. Ausgesprochener Zweck des Archivs, so schrieb er, sei seit seinem Bestehen neben der Erweiterung des Wissens über die gesellschaftlichen Zustände aller Länder, also über Tatsachen des sozialen Lebens, auch die Schulung des Urteils über praktische Probleme, und damit die Kritik an der sozialpolitischen Praxis, bis hinauf zu derjenigen des Gesetzgebers. Das Archiv habe nun aber von Anfang an daran festgehalten, ausschließlich mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung arbeiten zu wollen, deren Merkmal in der objektiven Geltung ihrer Ergebnisse gefunden werden müsse. Die Herausgeber seien der Meinung, dass es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein könne, bindende Normen und Ideale zu ermitteln und daraus für die Praxis Rezepte abzuleiten. Daraus folge aber keineswegs, dass Werturteile überhaupt der wissenschaftlichen Diskussion entzogen seien:
»Die Kritik macht vor Werturteilen nicht halt. Die Frage ist vielmehr: Was bedeutet und bezweckt wissenschaftliche Kritik von Werturteilen.«
Webers Antwort lautet:
»Eine empirische Wissenschaft vermag niemand zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will … Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ›Zweck‹ und ›Mittel‹. Wir wollen etwas in concreto entweder ›um seines eigenen Wertes willen‹ oder als Mittel im Dienste des in letzter Linie Gewollten. Der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist zunächst unbedingt die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke. Da wir (innerhalb der jeweiligen Grenzen unseres Wissens) gültig festzustellen vermögen, welche Mittel zu einem vorgestellten Zwecke zu führen geeignet sind, so können wir auf diesem Wege die Chancen, mit bestimmten zur Verfügung stehenden Mitteln einen bestimmten Zweck überhaupt zu erreichen, abwägen und mithin indirekt die Zwecksetzung selbst, auf Grund der jeweiligen historischen Situation, als praktisch sinnvoll oder aber nach Lage der gegebenen Verhältnisse sinnlos kritisieren. Wir können weiter, wenn die Möglichkeit der Erreichung eines vorgestellten Zweckes gegeben erscheint, natürlich immer innerhalb der Grenzen unseres jeweiligen Wissens, die Folgen feststellen, welche die Anwendung der erforderlichen Mittel neben der eventuellen Erreichung des beabsichtigten Zweckes, infolge des Allzusammenhangs alles Geschehens, haben würde. Wir bieten alsdann dem Handelnden die Möglichkeit der Abwägung dieser ungewollten gegen die gewollten Folgen seines Handelns und damit die Antwort auf die Frage: was kostet die Erreichung des gewollten Zweckes in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung anderer Werte? Da in der großen Überzahl aller Fälle jeder erstrebte Zweck in diesem Sinne etwas ›kostet‹ oder doch kosten kann, so kann an der Abwägung von Zweck und Folgen des Handelns gegeneinander keine Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen vorbeigehen, und sie zu ermöglichen ist eine der wesentlichsten Funktionen der technischen Kritik, welche wir bisher betrachtet haben. Jene Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen, ist freilich nicht mehr eine mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen: er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt. Die Wissenschaft kann ihm zu dem Bewußtsein verhelfen, daß alles Handeln, und natürlich auch, je nach den Umständen, daß Nicht-Handeln, in seinen Konsequenzen eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet, und damit – was heute so besonders gern verkannt wird – regelmäßig gegen andere. Die Wahl zu treffen ist eine Sache. Was wir ihm für diesen Entschluß nun noch weiter bieten können ist: Kenntnis der Bedeutung des Gewollten selbst. Wir können ihn die Zwecke nach Zusammenhang und Bedeutung kennen lehren, die er will, und zwischen denen er wählt, zunächst durch Aufzeigung und logisch zusammenhängende Entwicklung der ›Ideen‹, die dem konkreten Zweck zugrunde liegen oder liegen können … die wissenschaftliche Behandlung der Werturteile möchte nun weiter die gewollten Zwecke und die ihnen zugrunde liegenden Ideale … auch kritisch ›beurteilen‹ lehren. Diese Kritik freilich kann … nur eine formallogische Beurteilung des in den geschichtlich gegebenen Werturteilen und Ideen vorliegenden Materials, eine Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit des Gewollten sein. Sie kann … dem Wollenden verhelfen zur Selbstbesinnung auf diejenigen letzten Axiome, welche dem Inhalt seines Wollens zugrunde liegen, auf die letzten Wertmaßstäbe, von denen er unbewußt ausgeht oder – um konsequent zu sein – ausgehen müßte.« (Gesammelte Aufsätze, S. 146)
Im Anschluss an Webers Veröffentlichung wurde der Werturteilsstreit in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg im Verein für Socialpolitik ausgetragen, wo Weber, unterstützt von Sombart, vor allem gegen die Nationalökonomen Schumpeter und von Schmoller dieses Postulat zur satzungsmäßigen Grundlage der Arbeit machen wollte.
Seit 1961 erlebte der Werturteilsstreit eine Neuauflage in dem sogenannten Positivismusstreit der neueren deutschen Soziologie. Er wurde ausgelöst durch Referate von Karl R. Popper und Theodor W. Adorno auf einer Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Tübingen im Jahre 1961. Auf der einen Seite stand nunmehr die Position des sogenannten kritischen Rationalismus (Popper, Hans Albert), die in einer sehr differenzierten und abgeschwächten Weise Webers Position der Trennung von wissenschaftlicher Aussage und Handlungsanleitung übernommen hatte, und auf der anderen Seite die sogenannte Frankfurter Schule (Adorno, Habermas), die von einer dialektisch-hermeneutischen Position aus den Unterschied zwischen Theorie und Praxis überwinden wollte. (Die wichtigsten Diskussionsbeiträge sind abgedruckt in: Adorno u. a., 1969) Längst ist auch dieser Streit, der zu den großen Wissenschaftskontroversen zählt, eingeschlafen. Doch jeder muss wissen, worum gestritten wurde. In der Wissenschaft hat sich weitgehend ein kritischer Rationalismus durchgesetzt, der auch eine nichtontologische Hermeneutik inkorporiert hat. Postmoderne Epistemologie verwirft dagegen den Dualismus von Sein und Sollen und erklärt mehr oder weniger alles für »perspektivisch«. Die Werturteile verschwinden in einem »hochproblematischen Hiatus zwischen Rechtsstrukturen und Entscheidungen, der die Paradoxien des Rechts hervortreibt« (Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit, ZfRSoz 29, 2008, 9-36).
Zeitweise konnte man den Eindruck gewinnen, dass es unschicklich sei, sich bei der Diskussion des Werturteilsproblems prinzipiell auf die Seite Max Webers zu schlagen, ja, das Problem überhaupt anzusprechen. Doch im Laufe der Zeit haben sich die Wogen geglättet und inzwischen ist es beinahe selbstverständlich geworden, dass Wissenschaft möglichst von moralischen und politischen Werturteilen frei bleiben sollte. Einen Beleg dafür bietet Lorenz Engi in der Online-Zeitschrift Ancilla Juris 2009 (S. 25-33); mit einem Aufsatz über »Wissenschaft und Werturteil – Wissenschaft und Politik«. Engi gibt eine abgewogene und gut lesbare Darstellung des Problems der Wertfreiheit der Wissenschaft. Sein Ausgangspunkt ist der große Wertungsbedarf angesichts wirtschaftlicher Verwerfungen, neuer Optionen der Biotechnologie, und der Umwelt- und Klimagefahren. Engi antwortet mit drei »Maximen«: Wissenschaft entscheidet. Wissenschaft politisiert nicht. Wissenschaft überredet nicht. Es fehlt allerdings an Hinweisen, was denn Wissenschaft leisten kann, um Werturteile zu verbessern. Dazu hatte Weber schon mehr gesagt.