§ 26 Die Logik der Freiheit

Klassiker: Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty (1958), in: ders., Liberty, 2005, 166, deutsch: Zwei Freiheitsbegriffe, in Berlin, Freiheit, 1965; Benjamin Constant, De la liberté chez les modernes, 1819, deutsch: Über die Freiheit, 1946; Friedrich A. von Hayek, Law, Legislation and Liberty, 1982; John Locke, Two Treatises of Government, John Stuart Mill, On Liberty, 1859; Ludwig von Mises, Liberalismus, 1927; John Rawls, Politischer Liberalismus, 2003; ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, 1994; Joseph Raz, The Morality of Freedom, 1986; Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776; Charles Taylor, Hegel, 1992 [1975]; ders., Negative Freiheit?, Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 1992 [1988]; ders., Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 1996 [1992].

Literatur: Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl., 1996, 194ff; Marietta Auer, Subjektive Rechte bei Pufendorf und Kant, AcP 208, 2008, 584-634; Ian Carter, Positive and Negative Liberty, The Stanford Encyclopedia of Philosophy; Detmar Doering, Traktat über Freiheit, 2009; Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, 109 ff.; Lawrence B. Solum, Legal Theory Lexicon: Libertarian Theories of Law; Tom G. Palmer, Realizing Freedom, Libertarian Theory, History, and Practice, Washington, DC 2009; Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2007, Kap. VI.

I.        Freiheit, Individualismus und Liberalismus

Freiheit scheint einer der wichtigsten Begriffe nicht nur der Rechtswissenschaft, sondern auch von Politik und Ethik zu sein. Solange nur allgemein von Freiheit gesprochen wird, hält jeder sie für erstrebenswert. Solche Harmonie wird dadurch möglich, dass der Begriff interpretationsfähig ist wie kaum ein anderer. Die Spannweite sei mit zwei klassischen Zitaten angedeutet:

»Frei ist der Mensch, der keine Ketten trägt, der nicht eingekerkert ist und sich, anders als ein Sklave, nicht vor Strafe fürchten muß. In diesem Sinne besteht die Freiheit des Menschen in der freien Ausübung seiner Macht. Ich sage, ›seiner Macht‹, weil es lächerlich wäre, die Unfreiheit darin zu erblicken, daß wir nicht, wie der Adler die Wolken durchdringen, wie der Walfisch unter Wasser leben und nicht König, Papst oder Kaiser werden können.« (Claude-Adrien Helvétius, De l’esprit, 1758, hier zitiert in der Übersetzung von Theodor Lücke, Vom Geist, 1973, 98 f.)

»Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, daß du einem Joche entronnen bist.

Bist du ein Solcher, der einem Joche entrinnen durfte? Es gibt manchen, der seinen letzten Wert wegwarf, als er seine Dienstbarkeit wegwarf.

Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?« (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883, Teil 1: Vom Wege des Schaffenden)

In der modernen rechtsphilosophischen Diskussion meint Freiheit die Freiheit des Individuums, nicht aber die Freiheit kollektiver Einheiten wie z. B. Völkerfreiheit. Daraus folgt eine individualistische Position, nach der politische und rechtliche Entscheidungen durch einen letzten Bezug auf die betroffenen einzelnen Menschen gerechtfertigt werden. Sie behauptet den »Vorrang des Rechten vor dem Guten« (Rawls), das heißt, die Überzeugung, dass subjektive Grundrechte der Suche nach einer gesellschaftlichen Moral Grenzen setzen. Gewährsmann ist nach John Locke und vor John Stuart Mill immer noch und immer wieder Immanuel Kants mit der viel zitierten Formel aus der »Metaphysik der Sitten«:

»Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«. (Einleitung in die Rechtslehre, § B)

Im 20. Jahrhundert stand dem Liberalismus als gemeinschaftorientierte Gegenposition der Sozialismus gegenüber. In der Rechts- und Sozialphilosophie ist der Sozialismus seither, stärker noch als in der Politik, durch eine kommunitarische Liberalismuskritik abgelöst worden. Sie macht geltend, dass das Individuum des Liberalismus eine Kunstfigur sei, denn jeder einzelne Mensch sei immer schon in Gemeinschaften eingebettet und beziehe aus ihnen seine Subjektivität. Als Autor, der diese Position repräsentativ formuliert, wird Charles Taylor wahrgenommen.

Man kann sich dem Freiheitsbegriff nähern, indem man analytisch verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten aufzeigt oder indem man empirisch seine Verwendungsweise beschreibt. Wir wählen den analytischen Zugang und sind dabei bemüht, uns von dem praktischen Sprachgebrauch möglichst wenig zu entfernen. Die nachfolgenden Überlegungen stehen insofern auf dem Boden eines normativen Individualismus, als sie die Argumentationslast den Gegenpositionen zuschieben.[1]

II.     Positive und negative Freiheit

Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit, die im Nietzsche-Zitat zum Ausdruck kommt. (Negative) Freiheit – darüber besteht weitgehend Einigkeit – ist ein dreistelliges Prädikat. Zur Freiheit gehören ein Subjekt als Träger, eine mögliche Handlung als Gegenstand und ein gedachtes Hindernis, dessen Fehlen den Freiheitsraum begründet. So betrachtet gibt es nicht die Freiheit an sich, sondern nur unendlich viele einzelne Freiheiten.

Jede der drei Freiheitsdimensionen lässt sich qualifizieren.

  • Als Träger kommen ohne Frage einzelne Menschen in Betracht. In Frage steht, ob und wieweit der Freiheitsbegriff auch für andere Entitäten (insbesondere Organisationen) angemessen ist.
  • Gegenstand der Freiheit kann nur eine dem Träger an sich mögliche Handlung sein. Wird diese Grenze in Frage gestellt, weil man dem Träger Handlungsweisen zubilligen möchte, die ihm aus ökonomischen oder körperlichen Gründen verwehrt sind, anderen Menschen aber offen stehen, so berühren sich Freiheit und Gleichheit, und man gerät in den Bereich der positiven Freiheit.
  • Das Hindernis der Freiheit schließlich muss ein solches sein, das andere Menschen durch bloße Unterlassung ausräumen können. Das sei eigentlich der Grund (so Poscher, S. 112), die Freiheit als negative zu kennzeichnen.

Freiheit setzt an sich keine Rechtsnorm voraus. Frei ist eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist. Man kann insoweit von natürlicher Freiheit sprechen. Freiheit als solche ist kein Recht, auch wenn viele Naturrechtslehren das Gegenteil behaupten. Aber aus der bloßen Freistellung ergibt sich kein Rechtsschutz. Praktisch wird solche Freiheit ohne Rechtsschutz im Gemeingebrauch, etwa früher an einer Weide oder heute immer noch am Tageslicht und an der Atemluft.

Die Rechtsform der Freiheit ist das subjektive Recht. Zum subjektiven Recht, das bei bestimmten Behinderungen zu Rechtsschutz verhilft, wird Freiheit erst durch eine Norm, die anderen ihre Achtung zur Pflicht macht (Platons Freiheitsparadox).[2] Deshalb ist unter modernen Verhältnissen auch negative Freiheit von vornherein nur Freiheit mit dem Staat. Gemeint ist, dass praktisch und technisch in der konkreten historischen Situation der modernen Gesellschaft nur der Staat durch sein Recht individuelle Freiheit im Sinne negativer Freiheit gewährleisten kann.

Zur Rechtfertigung des Rechtsschutzes für negative Freiheit dient das Credo des Liberalismus, das dem Individuum Würde und Autonomie zubilligt und es damit zur Quelle authentischen moralischen Handelns erklärt. Demgegenüber sind alle gesellschaftlichen und staatlichen Verhaltenserwartungen minderwertig. Das Problem der liberalen Idee liegt darin, dass die rechtlich gesicherte negative Freiheit, das rechtliche Dürfen, eine Form ohne Inhalt bildet. Wenn immer ein Individuum von der Form Gebrauch macht, füllt es sie mit einem Inhalt. Erst dann taucht konkret die Frage auf, wie die Freiheit des einen mit der Freiheit der anderen vereinbar ist. Damit ist das Recht ständig zu Abgrenzungen der Freiheitssphären gefordert, die notwendig mit Eingriffen einhergehen. Diese Abgrenzungen funktionieren nicht einfach nach einem Prinzip der Gleichheit. Zwar steht das Gleichheitprinip für alle Menschen außer Frage. Die Umsetzung in subjektive Rechte ist jedoch notwenig distributiv.

Die Abhängigkeit der Freiheit vom Recht des Staates erscheint insofern widersprüchlich, als Freiheit gerade auch Freiheit von und gegenüber diesem Staat ist. Das Problem zeigt sich in unterschiedlicher Verkleidung: Wie wird der Staat zum Rechtsstaat, d.h., wie kann der Staat an sein eigenes Recht gebunden sein? Wie sind subjektive Rechte gegen den Staat denkbar, wenn doch erst der Staat subjektive Rechte gewährt? Der Widerspruch löst sich auf, weil »der Staat« kein Monolith ist, sondern eine vielschichtige Organisation bildet, deren Untergliederungen sich wechselseitig in Schach halten können (u. S. 373).

Auch wenn niemand dazwischentritt, genügt Freiheit nur selten, um eigene Handlungsziele zu erreichen. Man kann wohl alleine spazierengehen. Doch schon für die meisten Spiele ist man auf die Mitwirkung anderer angewiesen. Das gilt erst recht, wenn man einen Vertrag schließen will. Dazu braucht man nicht nur einen Vertragspartner, sondern auch die Unterstützung des Rechts, dase den Vertrag verbindlich macht. Die Glaubensfreiheit ist als negative nur eine halbe Sache. Zur ganzen wird sie erst, wenn sie auch in äußeren, rechtlich geschützten Formen geübt werden kann. Ähnlich die Meinungsfreiheit, die sich erst in einer rechtlich geordneten Pressefreiheit ganz entfaltet. Die Freiheit der politischen Wahl ist ohne institutionelle Vorkehrungen gar nicht vorstellbar. Auch wirtschaftliche, wissenschaftliche und künstlerische Freiheit realisiert sich in rechtlich geprägten Institutionen. Das zeigt sich besonders deutlich bei den Immaterialgüterrechten. Urheber- und Patentrechte müssen erst rechtlich vorgesehen sein, um von ihnen Gebrauch machen zu können. (Genau besehen wird hier die Freiheit anderer, bestimmte Informationen zu nutzen, beschränkt.) Insoweit kann man nach dem Vorschlag von Poscher (S. 116) von normgeprägter Freiheit sprechen.

Davon wiederum zu unterscheiden ist die zivile Freiheit, die der Staat nach Vorstellung mancher Rechtsphilosophen dem Bürger im Tausch gegen den Verzicht auf die vorrechtliche Freiheit zurückgewährt. Die Idee der zivilen oder bürgerlichen Freiheit hat maßgeblich Jean-Jacques Rousseau als »Contrât Social« formuliert.

»Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsmitgliedes verteidigt und schützt, und kraft deren jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und frei bleibt wie vorher?«

Die Lösung findet Rousseau in der Demokratie, die einen Gemeinwillen (die volonté génerale) bildet, der an die Stelle der Einzelwillen tritt:

»Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.«

Die Menschen verzichten also auf ihre vorrechtliche Freiheit und nehmen aus den Händen des Staates die bürgerliche Freiheit zurück. Freiheit gibt es nur noch als Freiheit durch den Staat. Aber nachdem die Bürger auf ihre vorrechtliche Freiheit verzichtet haben, findet der Mehrheitswille keine Grenzen mehr. Gegen Rousseau besteht der klassische Liberalismus daher darauf, dass Demokratie nur ein Instrument zum Schutze der Freiheit sein darf.

Die negative Freiheit, wie sie in dem Helvétius-Zitat umrissen ist, ist die Freiheit des klassischen Liberalismus von Thomas Hobbes, John Locke, Adam Smith, John Stuart Mill, Benjamin Constant oder Friedrich von Hayek. Für Liberale ist negative Freiheit kein Freibrief für Individualisten, sondern die Voraussetzung für eine Kooperation, die allen nützt. Sie meinen, dass der Staat allenfalls die negative Freiheit schützen könne, aber nicht in der Lage sei, den Menschen zu sagen, wie sie diese Freiheit nutzen sollten. Das müsse dem Markt und den übrigen Selbstorganisationskräften der Gesellschaft überlassen bleiben. Der Staat könne nicht selbst für Wohlstand, Kultur und soziale Gerechtigkeit sorgen, sondern lediglich freiheitliche Institutionen bauen.

Der negative Freiheitsbegriff steht vor dem Grundproblem, dass Handlungen, die eigentlich nur der Wahrnehmung der eigenen Freiheit dienen sollen, für andere zum Freiheitshindernis werden können. Die Lösung scheint, wie es Kant formuliert hat, in einem allgemeinen Gesetz zu liegen.

»Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne …« (Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § C)

Aber aus aus dem kantischen Rechtsgesetz folgen – ebenso wie aus dem kategorischen Imperativ – keine Verhaltensregeln, sondern nur das Gebot der Allgemeinheit, Gleichheit und Wechselbezüglichkeit als Mindestanforderung an konkrete Gesetze. Ihr Inhalt lässt sich nicht aus dem Begriff der Freiheit ableiten, sondern muss heteronom vorgegeben werden und hat damit notwendig mehr oder weniger distributive und paternalistische Wirkungen (Auer S. 58). Die Schwierigkeiten stecken, wie so oft, im Detail. Die drei wichtigsten Folgeprobleme seien hier jedenfalls genannt:

  • Auf wie viel Freiheit muss jeder verzichten, um die Freiheit zu sichern? Mit welchen Mitteln sollen diejenigen, die sich nicht an das allgemeine Gesetz halten, gezwungen werden? Thomas Hobbes hatte so rigorose Gesetze vorgesehen, dass viele ihn gar nicht für einen Liberalen halten.
  • Gibt es einen Kernbestand von Freiheiten, die unverzichtbar sind? Als Minimum gelten den meisten Liberalen Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Vertragsfreiheit, Garantie des Privateigentums und Autonomie der Familie.
  • Darf, was Menschen durch den Gebrauch ihrer Freiheit erworben haben, zum Hindernis für die Freiheit anderer werden?

Der Liberalismus ist in Verruf geraten, weil er den Schutz privaten Eigentums zum Kernbestand der Freiheit rechnet. Dafür beruft er sich auf John Locke, jedoch zu Unrecht. Locke ging noch davon aus, dass die Erde groß genug sei und ihr Reichtum durch Arbeit soweit vermehrt werden könne, dass die Verteilungsfrage gar nicht akut werden müsse. Er verstand unter property nicht nur Sacheigentum und Vermögensrechte, sondern die gesamte Freiheitsphäre der Person. Die Menschen verzichten im Gesellschaftsvertrag auf einen Teil ihrer Freiheit »for the mutual preservation of their lives, liberties and estates, which I call by the general name, property« (§ 123 I).

Friedrich von Hayek hat jedem Eingriff in das durch rechten Gebrauch der Freiheit erworbene Eigentum eine Absage erteilt. Wer, anders als von Hayek, unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit Eingriffe zur Herstellung »ökonomischer Freiheit« zulassen will (u. § 41 IX), begibt sich in den Bereich der positiven Freiheit.

Von positiver Freiheit spricht man in einem doppelten Sinne, nämlich einmal im Sinne von realer Freiheit und zum anderen im Sinne von ethischer Freiheit. Beide Bedeutungen haben miteinander nichts weiter zu tun, als dass sie sich von der negativen Freiheit abheben. Helvétius kontrastierte die negative Freiheit mit der realen, Nietzsche mit der ethischen.

Von realer (Un-)Freiheit ist im Hinblick auf Hindernisse die Rede, die nicht durch Handlungen konkreter Menschen errichtet werden. So können ökonomische Gründe Menschen hindern, von bestimmten Freiheiten Gebrauch zu machen. Das gleiche gilt von sozialen Zwängen und körperlichen Behinderungen. Im Hinblick auf die rechtlichen Vorkehrungen, die möglich sind, um reale Freiheit herzustellen, spricht man von positiver Freiheit. Im Hintergrund steht ersichtlich der Gedanke der Gleichheit. Rechtliche Ausprägungen dieses positiven Freiheitsbegriffs finden sich in Art. 3 II 2 und III GG. Das positive Freiheitsverständnis führt zu einer Auslegung des Grundgesetzes, die aus Freiheitsrechten Teilhabeansprüche und Schutzpflichten des Staates ableitet (u. § 51 III).

III.  Ethischer Freiheitsbegriff

Schon lange vor Nietzsche haben viele Philosophen die Ansicht vertreten, dass zur wohl verstandenen Freiheit eine weitere Dimension gehöre, nämlich die ethische Rechtfertigung der freigestellten Handlung. Hegels Freiheitsbegriff sei hier jedenfalls im Zitat vorgestellt. Er folgt im Anschluss an die berühmte Charakterisierung des Staates als »die Wirklichkeit der sittlichen Idee« in § 257 der Rechtsphilosophie.

»§.258 … Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigenthums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse des Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu seyn. – Er hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Thätigkeit, Weise des Verhaltens hat dieß Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate. – Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit, und hier konkret dem Inhalte nach in der Einheit der objektiven Freiheit d. i. des allgemeinen substantiellen Willens und der subjektiven Freiheit als des individuellen Wissens und seines besondere Zwecke suchenden Willens – und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln. – Diese Idee ist das an und für sich ewige und nothwendige Sein des Geistes.«

Die ethische Version des positiven Freiheitsbegriffs hat Isaiah Berlin in seiner zum Klassiker avancierten Oxforder Antrittsvorlesung vom 31.10.1958 über »Two Concepts of Liberty« als illiberal kritisiert. Seine Wurzel habe der ethische Freiheits­begriff, so Berlin, in der verführerischen Metapher der Selbstbestimmung. Die Vorstellung, man sei sein eigener Herr und niemandes Diener, verlange nach einer Begründung. Als solche diene die Idee der Vernunft, die es dem Menschen gestatte, sich von inneren und äußeren Zwängen frei zu machen. Das vernünftige Selbst werde so zum wahren Selbst. Schnell seien dann andere zur Stelle, die behaupteten, im Namen der Vernunft besser als die Betroffenen zu wissen, was in ihrem wahren Interesse liege. Alsbald tauchten dann auch größere Einheiten auf – Stamm oder Rasse, der Staat, die Nation, die Kirche, die Klasse, der Lauf der Geschichte. Die größere Einheit werde zum wahren Selbst, das für sich in Anspruch nehme, seine Glieder kraft besserer Einsicht auf ein höheres Niveau der Freiheit zu heben, tatsächlich aber die realen Wünsche der Menschen ignoriere, da die Freiheit des Einzelnen mit dem Ziel des Ganzen gleichgesetzt werde.

Diese Kritik trifft auch Rousseaus Vorstellung von der Überlegenheit der volonté génerale. Rousseau hat Freiheit als »Freiheit durch den Staat« moralisch aufgeladen. Das geschieht durch die Annahme, dass es sich bei den demokratisch beschlossenen Freiheitsbeschränkungen eigentlich nur um Selbstbestimmung handelt (und nicht bloß um eine technische Vorkehrung zur Sicherung der Freiheit). Doch damit werden individuelle und kollektive Selbstbestimmung gleichgesetzt, obwohl sie nur den Namen gemeinsam tragen. Auch hier zeigt sich die Differenz von Recht und Moral (u. § 35). Die Einrichtung demokratischer Verfahren folgt zwar der Idee der Selbstbestimmung, trotzdem haben demokratische Entscheidungen nicht die moralische Qualität, die mit der Auszeichnung als individuelle Selbstbestimmung suggeriert wird und die den Widerstand Einzelner unmoralisch erscheinen lässt. Aber bis heute ist kein Verfahren bekannt, das besser zur Freiheitssicherung geeignet wäre als Demokratie.

Ein ethisches Freiheitsverständnis ist ein wichtiger Baustein jeder Individualethik. Als solcher war es von Kant gemeint:

»In einem schon bestehenden politischen Gemeinwesen befinden sich alle politische Bürger, als solche doch im ethischen Naturzustande, und sind berechtigt, auch darin zu bleiben; denn daß jenes seine Bürger zwingen sollte, in ein ethisches gemeines Wesen zu treten, wäre ein Widerspruch (in adjecto); weil das letztere schon in seinem Begriffe die Zwangsfreiheit bei sich führt . … Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte!« (Religion in den Grenzen bloßer Vernunft, Drittes Stück)

Als Element der Sozialethik führt das ethische Freiheitsverständnis zur Einschränkung individueller Freiheit. Kant meinte daher, ein ethisches Gemeinwesen könne in dieser Welt nur in Gestalt einer Kirche begründet werden. Der liberale Rechtsstaat bietet dafür keinen Platz. Gefährlich ist deshalb die verbreitete Vorstellung, die den negativen Freiheitsbegriff unter dem Grundgesetz für überholt erklärt, weil er über keine zeitgemäße Konzeption des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft verfüge. Wenn damit gemeint ist, dass der individuelle Gebrauch von Freiheiten von Rechts wegen unter ethischen Gesichtspunkten zensiert werden dürfe, so führt dies auf die von Isaiah Berlin aufgezeigte schiefe Ebene, auf der man in Paternalismus oder gar Totalitarismus abrutschen kann.

Das gilt jedenfalls für Individuen als Subjekte der Freiheit. Anders kann es liegen, wenn bestimmten juristischen Personen Freiheiten zugebilligt werden. Nach Art. 5 I 2 GG wird etwa die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film gewährleistet. Die öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten berufen sich auf diese Vorschrift zur Begründung ihrer Forderung nach einem bestimmten Gebührenaufkommen. Für sie ist Rundfunkfreiheit aber keine negative Freiheit, sondern sie ist durch Gesetze und Staatsverträge als institutionelle Freiheit geschaffen worden mit der Aufgabe, überhaupt erst eine freie, öffentliche Meinungsbildung und Meinungsäußerung zu ermöglichen (BVerfGE 59, 231/257 f.; 74, 297/323; 87, 101/197 f.; 95, 220/236). Ihrer Funktion nach ist die Freiheit des öffentlichen Rundfunks daher nicht Selbstzweck, sondern eine »dienende« Freiheit.

IV.   Paternalismus

Literatur: Alberto Alemanno/Alessandro Spina, Nudging Legally – On the Checks and Balances of Behavioural Regulation, International Journal of Constitutional Law 12, 2014, 429-456; Gerald Dworkin, Paternalism, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (2014): plato.stanford.edu/entries/paternalism/; Horst Eidenmüller, Liberaler Paternalismus, JZ 2011, 814-821; Bijan Fateh-Moghadam, Grenzen des weichen Paternalismus, in: ders. u. a. (Hg.), Grenzen des Paternalismus, 2010, 21-46; Edward L. Glaeser, Paternalism and Psychology, The University of Chicago Law Review 73, 2006, 133-156; Thomas Gutmann, Zur philosophischen Kritik des Rechtspaternalismus, in: Ulrich Schroth (Hg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, 189-277; Alexandra Kemmerer u. a. (Hg.), Choice Architecture in Democracies. Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016Stephan Kirste, Harter und weicher Rechtspaternalismus. Unter besonderer Berücksichtigung der Medizinethik, JZ 2011, 805-814; Leander D. Loacker, Verhaltensökonomik als Erkenntnisquelle für die Rechtsetzung, Interdisciplinary Studies of Comparative and Private International Law III, 2012, 45-97; Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, 2010 [Nudge, 2008]; Jan Schnellenbach, Neuer Paternalismus und individuelle Rationalität: eine ordnungsökonomische Perspektive, List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 40, 2014, 239-257; Margrit Seckelmann/Wolfram Lamping, Verhaltensökonomischer Experimentalismus im Politik-Labor, DÖV 69, 2016, 189-200: Cass R. Sunstein, Nudging: A Very Short Guide, Journal of Consumer Policy 37, 2014, 583-588; Cass R. Sunstein/Richard H. Thaler, Libertarian Paternalism Is Not an Oxymoron, The University of Chicago Law Review 70, 2003, 1159-1202; Franziska Weber/Hans-Bernd Schäfer, »Nudging«. Ein Spross der Verhaltensökonomie. Überlegungen zum liberalen Paternalismus auf gesetzgeberischer Ebene, Der Staat 56 , 2017, 561-592 = SSRN 2920479: Johanna Wolff, Eine Annäherung an das Nudge-Konzept nach Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein aus rechtswissenschaftlicher Sicht, Rechtswissenschaft 6, 2015, 195-223.

Paternalismus bezeichnet fürsorgliche Bemühungen aller Art, um Menschen ohne Zwang in ihrem eigenen Interesse zu lenken.

In vielen Feldern des Sozial- und Gesundheitswesens sind auch Zwangsmaßnahmen verbreitet, die mit Wohltätigkeit und Fürsorge begründet werden. Dabei handelt es sich etwa um in Kliniken und anderen stationären Einrichtungen gegen den Willen der betroffenen Person oder das Anbringen von Bettgittern oder Fixierungsgurten, um medizinische Behandlungen oder Pflegemaßnahmen gegen den Willen eines Patienten oder um sogenannte intensivpädagogische Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe. Solche Zwangsmaßnahmen kommen nur als ultima ratio in Betracht, wenn man davon ausgehen muss, dass die Betroffenen zur Selbstbestimmung nicht in der Lage sind (dazu Deutscher Ethikrat, Hilfe durch Zwang?, 2018).

»Jeder soll nach seiner Façon selig werden.« Diesen Satz hatte Friedrich II. 1740 zwar nur auf die Religionsfreiheit der Juden gemünzt. In erweitertem Sinne enthält er jedoch das Credo des Liberalismus. Kant hat den Gedanken 1793 so formuliert:

»Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d. i. diesem Rechte des andern) nicht Abbruch tut.«

Und Kant hat auch gleich das Gegenstück zu solcher Freiheit beim Namen genannt:

»Eine Regierung, die auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale ), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gültigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus.« (Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, II)

Wiewohl entgegen Kant in Deutschland die Einstellung verbreitet zu sein scheint, dass der Staat berechtigt und verpflichtet sei, für das Glück der Menschen zu sorgen, war Paternalismus lange kein großes Thema. In der amerikanischen Rechtsphilosophie diente Paternalismus in der Tradition von John Stuart Mill dagegen als negativ besetzter Kampfbegriff des Liberalismus. Richard H. Thaler und Cass B. Sunstein gelang es jedoch durch ihr Buch »Nudge« von 2008, dem Paternalismusbegriff einen positiven Anstrich zu geben. Seither ist der so genannte libertäre Paternalismus zu einem allgemeinen Diskussionsthema geworden.

Die Bezeichnung als liberträr beruht auf einer Übernahme des libertarian paternalism von Thaler und Sunstein. Beide hatte schon 2003 ihre Vorstellung vom Paternalismus als »libertarian« verteidigt, ohne den Unterschied zwischen libertär und liberal zu klären. Libertär bezieht sich stärker auf die individuelle Lebensführung, liberal auf das Verhältnis zwischen Individuum und staatlichen Institutionen. Bei Libertären ist die Distanz zum Staat größer als bei Liberalen.

Thaler und Sunstein halten es für möglich und wünschenswert, menschliches Verhalten zu lenken, ohne das Selbstbestimmungsrecht einzuschränken – und sie folgen damit der Argumentationslinie, die Isaiah Berlin (o. II.) kritisiert hatte. Zur Begründung verweisen sie auf die verbreitete Irrationalität menschlichen Entscheidens, wie sie von den Behavioral Economics beschrieben wird.

Die ökonomische Analyse (nicht nur) des Rechts geht eigentlich vom rational handelnden homo oeconomicus aus. Dem hatte Herbert A. Simon (Nobelpreis 1978) mit dem Konzept der bounded rationality den ersten Stoß versetzt (Theories of Decision Making in Economics and Behavioral Science, American Economic Review 49, 1959, 253-283). Simon machte darauf aufmerksam, dass die Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen in mehrfacher Hinsicht begrenzt ist: Die zu lösenden Probleme sind komplex. Die verfügbaren Informationen sind unvollständig, fehlerhaft oder gar irreführend. Die geistige Kapizität zur Verarbeitung von Informationen ist begrenzt und für die Informationsverarbeitung steht nur begrenzte Zeit zur Verfügung. Umgeworfen wurde der homo oeconomicus durch die Aufdeckung allgemein verbreiteter kognitiver Täuschungen und Heuristiken durch die Sozialpsychologen Daniel Kahnemann (Nobelpreis 2002) und Amos Tversky (Daniel Kahneman/Amos Tversky, Choices, Values, and Frames, 10. Aufl. 2009).

Der Paternalismus nach Thaler und Sunstein ist ein Defizitpaternalismus, denn er soll nur Irrationalitäten ausräumen, durch die Menschen ihrem eigenen Glück im Wege stehen, die Entscheidungsfreiheit aber letzlich nicht einschränken. Ein berühmtes Beispiel ist die Platzierung von Speisen in der Selbstbedienungstheke einer Mensa derart, dass die »Dickmacher« in schwerer einsehbare Fächer gestellt werden, während die »gesunden« Angebote in Sicht- und Griffweite stehen.

Die Rationalitätsstörungen, um die es hier geht, sind nicht individuell, sondern sie treten systematisch auf (Loacker S. 56), und bieten so einen Angriffspunkt für Rechtsnormen und damit für einen rechtlichen Paternalismus. Thaler und Sunstein legen allen Institutionen einen gewissen Paternalismus nahe. Von der Wirtschaft ist solche Fürsorge freilich kaum zu erwarten. Sie nutzt das begrenzte Rationalitätspotential ihrer Kunden eher umgekehrt, um sie zu irrationalen Ausgaben zu verleiten. Deshalb stellt sich um so mehr die Frage, ob die Rechtsordnung Menschen ohne oder gar gegen ihren Willen zu einem Verhalten veranlassen soll, das sie selbst nicht ohne weiteres wählen würden, das aber von der höheren Warte des Rechts letztlich in ihrem eigenen Interesse zu liegen scheint.

»If a person possesses any tolerable amount of common sense and experience, his own mode of laying out his existence is the best, not because it is the best in itself, but because it is his own mode.«. (John Stuart Mill, On Liberty, 1869, Kap. III)

Der neue verhaltenswissenschaftlich gestützte Paternalismus findet seine Rechtfertigung darin, dass er nur einem Mangel an common sense and experience abhelfen will. Er nimmt für sich in Anspruch, angeleitet durch moderne Verhaltenspsychologie, die Aufklärung fortzusetzen, auf der die Freiheitsphilosophen gebaut haben.

Das Recht ist geneigt, subjektiv-individuelle Interessen »objektiven« Maßstäben unterzuordnen, um zu verhindern, dass Menschen sich unbedacht, unwissend oder gar willentlich in ihr Unglück stürzen. Doch im Prinzip ist unbestritten, ja selbstverständlich, dass von rechtswegen auch individuelle Entscheidungen möglich sein müssen, die Dritten unvernünftig erscheinen können. Aber es gibt Grenzen selbstbestimmten Handelns. Die eine ist bereits in dem Mill-Zitat angedeutet, nämlich eine minimale Einsichtsfähigkeit. Die andere hatte Kant benannt; sie liegt dort, wo die Interessen Dritter betroffen sind.

Weicher Rechts-Paternalismus begnügt sich damit, auf individuelle Entscheidungen über die Lebensführung Einfluss zu nehmen, ohne die Wahlmöglichkeiten einzuschränken, und zwar  durch die Gestaltung des Kontextes der Entscheidung (Entscheidungsarchtitektur, choice architecture). Als Mittel dienen Informationen und Warnungen, Wegweiser und künstliche Hindernisse. Damit sind nur geringfügige Freiheitsbeschränkungen verbunden. Es handelt sich eher um Belästigungen, die die Betroffenen dabei hinnehmen müssen. Sie sind durch den möglichen Rationalitätsgewinn ihrer Entscheidungen gerechtfertigt. So jedenfalls sehen es die der Erfinder des Nudge-Konzepts. So einfach liegen die Dinge aber nicht, denn die neue Form des Paternalismus beseitigt nicht abstrakt Rationalitätsdefizite, sondern lenkt konkrete Entscheidungen in Richtung auf bestimmte Wohlfahrtsziele.

Paternalismus verlangt deshalb nach einer Antwort auf die Frage, wo die »wahren« Interessen der Schützlinge liegen, insbesondere, ob diese Interessen subjektiv oder objektiv zu bestimmen sind und ob die kurzfristigen oder die langfristigen Interessen maßgeblich sein sollen (u. § 40III). Die liberale Antwort stellt darauf ab, dass kein Dritter und auch kein Staat besser weiß als der Betroffene selbst, worin der sein Glück findet.

Das scheint solange unproblematisch zu sein, als diese Ziele allgemein konsentiert sind. Der Untertitel des Buches von Thaler und Sunstein lautet »Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness«. In der Tat sind Gesundheit, Bildung und eine materielle Absicherung verbunden mit der Chance, die materielle Basis durch eigene Anstrengung zu verbessern, nicht als Wohlfahrtsziele allgemein konsentiert und sogar bis zu einem gewissen Grade zu subjektiven Rechten verfestigt.

Ein wichtiges Instrument für weichen Rechtspaternalismus sind die Standardregeln (default rules) des dispositiven Rechts (u. § 59). Schulbeispiel ist eine Regel, die nach dem Tode grundsätzlich eine Organentnahme gestattet, wenn der Verstorbene nicht zu Lebzeiten widersprochen hatte. Das Beispiel ist schwierig, weil die Regel nicht allein die Korrektur kognitiver Verzerrungen bewirkt, sondern auch gefühlte und wertrationale Vorbehalte gegen eine Organentnahme überwindet.

Harter Paternalismus erreicht sein Ziel durch Gebote oder Verbote. Autofahrern wird geboten, den Sicherheitsgurt anzulegen. Bevor sie eine Schwangerschaft abbrechen darf, muss eine Frau eine Beratung über sich ergehen lassen. Der Genuss von Marihuana wird gleich ganz verboten. Hier liegen die Freiheitsbeschränkungen auf der Hand. Sie bedürfen besonderer Rechtfertigung, die umso leichter fällt, je mehr auch Drittinteressen beeinträchtigt werden.

Besonders kontrovers ist der Wertepaternalismus. Es geht um die Frage, ob die vorgefundenen Präferenzen der Menschen von der höheren Warte einer objektiven Wertordnung korrigiert werden dürfen oder gar sollen. Schulbeispiel für solchen ist der so genannte Zwergenweitwurf.

Das Verwaltungsgericht Neustadt (NVwZ 1993, 98) hielt diese im Schaustellergewerbe verbreitete Übung für sittenwidrig, so dass sie nach § 33a Abs. 2 S. 2 GewO nicht genehmigungsfähig. Auch sei sie nicht nach § 33a Abs. 1 S. 2 GewO genehmigungsfrei, denn das sportliche oder akrobatische Element stehe nicht im Vordergrund. Diese Entscheidung hat weitgehend Zustimmung gefunden. Die betroffenen kleinwüchsigen Menschen sind jedoch teilweise anderer Ansicht, nicht nur, weil sie einige damit eine Erwerbsmöglichkeit verlieren, sondern auch, weil sie gerade durch solche Bevormundung ihre Menschenwürde tangiert sehen.

Ein gewisser Wertepaterrnalismus gehört zum traditionellen Bestand des Rechts. Sowohl Zivilrecht als auch Strafrecht und öffentliches Recht kennen Generalklauseln, die sich gegen ein Verhalten richten, dass gegen die »guten Sitten« verstößt. Von »guten Sitten« im Sinne empirischer Sozialmoral ist wenig übrig geblieben. Daher stützt sich der Wertepaternalismus heute eher auf die abstrakte und interpretationsbedürftige »Werteordnung des Grundgesetzes«. Hier ist Zurückhaltung geboten.

Zwar fördert der neue Paternalismus direkt nur individuelle Effizienz. Aber mit Thaler und Sunstein vertraut er darauf, dass die Optimierung individuellen Wohls auch das Gemeinwohl stärkt. Inzwischen schauen jedoch insbesondere deutsche Juristen näher hin, ob sich hinter den als unverbindlich dargestellten Lenkungsmaßnahmen nicht doch ein Eingriff in Freiheitsrechte verbirgt, der einer Rechtsgrundlage bedarf und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügen müsste. Es besteht der Verdacht, dass es sich beim Nudging im Ergebnis um die Ausdehnung staatlichen Zugriffs auf die gesamte Lebenswelt der Bürger handelt.

Es waren zunächst vor allem zwei Sachthemen, die mit Hilfe des Paternalismusvokabulars erörtert werden, nämlich erstens der Verbraucherschutz unter Einschluss der alltäglicher Sicherheits- und Gesundheitsprobleme und zweitens Fälle aus dem Bereich der Medizinethik. Was den Verbraucherschutz betrifft, so dient das Paternalismuskonzept zur Legitimierung rechtlicher Maßnahmen gegenüber Dritten. Den Anbietern von Waren und Dienstleistungen wird aufgegeben, Information und Beratung bereit zu stellen. Gefragt ist hier Empirie, denn die Lenkung der Verbraucher ist längst nicht so einfach, wie man es sich vorgestellt hat. Bei der Erörterung medizinethischer Probleme dient der Paternalismusbegriff eher zur Abwehr von Freiheitsbeschränkungen als zur ihrer Begründung (Gutmann, Kirste, Fateh-Moghadam). Inzwischen hat auch die Verwaltung das Nudge-Konzept entdeckt, weil es ihr anscheinend Lenkungsmaßnahmen ohne Rechtsgrundlage gestattet.

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[1]         Für die Begründung und auch für die Benennung des normativen Individualismus können wir uns Dietmar von der Pfordten anschließen (Rechtsethik 2001; ders., Normativer Individualismus und das Recht, JZ 2005, 1069-1080). Eine Gegenposition übernimmt in der neueren juristischen Diskussion Winfried Brugger  (Kommunitarismus als Sozialtheorie und Verfassungstheorie des Grundgesetzes, ZRph 2003, 3-14). Eine grundlegende Auseinandersetzung führt Thomas Gutmann, Zur philosophischen Kritik des Rechtspaternalismus, in: Ulrich Schroth (Hg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, 189-277.

[2] Die US-amerikanische Bewegung der Criticial Legal Studies hat daraus den Grundwiderspruch allen Rechts, nämlich den Widerspruch zwischen Freiheit (liberty) und Zwang (coercion) gemacht. Freiheit sei eigentlich das normativ überlegene Prinzip. Aber zu dem Zweck oder unter dem Vorwand, die Freiheit zu schützen, entwickelt das Recht sich zur Zwangsordnung. Näher mit Literaturhinweisen Paul Baumgardner, The Fundamental Contradiction Redux?, Liberty, Coercion, and American Legal Development, Law & Social Inquiry 42, 2017, 924-942.