§ 23 Die Dichotomie von Sein und Sollen

I. Die Logische Differenz

II. Die normative Kraft des Faktischen

III. Normalität und Normativität

Literatur: Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 1997, 3. Aufl. 2006; ders., Normale Krisen?, Normalismus und die Krise der Gegenwart, 2018; Erik Rietveld, Situated Normativity: The Normative Aspect of Embodied Cognition in Unreflective Action, Mind 2008, 973–1001; H. H. Ritter, Normal, Normalität, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Sp. 919-927.

1. Natürliche und soziale Normalität

90 % der Menschen sind Rechtshänder, 95 % können Farben erkennen. Aber 10 % sind Linkshänder und etwa 5 % sind farbenblind. Fast alle Menschen können nach ihren Genen und nach den äußeren Geschlechtsmerkmalen als Mann oder Frau erkannt werden. Bei etwa 2 % ist die Zuordnung unklar. Bis zu 10 % fühlen nicht entsprechend der äußerlichen biologischen Zuordnung. Man kann zunächst wertfrei feststellen: Rechtshändigkeit ist normal; Farbenblindheit ist nicht normal. Immer noch wertfrei kann man festhalten: Linkshändigkeit hat für die Betroffenen an sich keine funktionellen Nachteile. Nachteile entstehen erst dadurch, dass die Welt für die Mehrheit der Rechtshänder eingerichtet ist. Farbenblindheit wäre dagegen funktional nachteilig, selbst wenn niemand bunte Bilder malen oder Filme zeigen würde, denn schon die Differenzierung der natürlichen Farben fällt schwer. Abweichungen von der geschlechtlichen Identität sind für die biologische Reproduktion unfunktional. Sie haben in der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft sekundäre funktionale Nachteile.

Auch menschliches Verhalten ist mehr oder weniger normal. Normalerweise schläft man des nachts und wacht am Tage. Fast alle Menschen führen ein Handy bei sich, wenn sie aus dem Haus gehen. Niemand ist verpflichtet, nachts zu schlafen. Aber wer nicht gerade Nachtarbeiter ist, kann sonst kaum etwas Besseres tun. Niemand ist verpflichtet, ein Handy mit sich zu führen. Aber wer darauf verzichtet, lässt sich Kontakt- und Informationsmöglichkeiten entgehen.

In der Rechtssoziologie gab man sich einmal große Mühe, zwischen bei der Einteilung der Verhaltensmuster zwischen bloßen Verhaltensgleichförmigkeiten und verbindlichen Normen zu unterscheiden. Ein Beispiel aus der Ethnologie (nach Siegfried S. Nadel, Social Control and Self-Regulation, Social Forces 31, 1953, 256-273): In einfachen Stammesgesellschaften waren, obwohl eine Norm fehlte, die das Heiraten vorschrieb, sind fast alle verheiratet. Der Grund dafür liegt in den Nachteilen, die mit der Position des Ledigen verbunden sind. Er hat kein besonderes Ansehen in der Gesellschaft, er hat ökonomische Nachteile, weil ihm niemand bei der Arbeit hilft. Da er keine Kinder hat, ist er in Krankheit und Alter ohne Schutz. Diese negativen Konsequenzen, die von Seiten der Umgebung nicht als Strafen gemeint sind, reichen für eine Verhaltensuniformität aus. Der Übergang von bloß funktionaler Konformität zu sozialem Konformitätsdruck ist fließend.

Zwischen natürlicher und sozialer Normalität steht der Standard. Eine Standardisierung setzt schon im Altertum mit der Festlegung von Maßen, Gewichten und Münzwerten ein. Sie entwickelt sich in der Neuzeit im Militär und bei Manufakturen, und wird zum unverzichtbaren Instrument für die Rationalisierung von Technik, Wirtschaft und Kommunikation.

Das Normale ist per se keine soziale Norm. Aber gegenüber dem Normalen zeigen Menschen sich lernbereit, weil das Normale normalerweise auch funktional ist. Die Orientierung am Normalen erleichtert die Qual der Wahl und ist oft zweckmäßig, so dass eine Abweichung sich selbsttätig rächt. Wer bei Regen keinen Schirm benutzt, wird nass. Wer sich nicht an die üblichen Essenzeiten hält, wird schwer eine Mahlzeit finden. Wer kein Handy bei sich trägt, verzichtet auf Kontaktmöglichkeiten und Informationen. Wer sich nicht normal verhält, zieht Aufmerksamkeit auf sich. Das kann erwünscht sein, ist aber oft unerwünscht. Wer sich verhält, wie mehr oder weniger alle anderen, vermeidet Risiken, auch wenn ihm gelegentlich Chancen entgehen. Das Normale ist self-executing, auch wenn es nicht sozial eingefordert wird.

Künstler finden Normalität langweilig oder trivial. Reformer und Revolutionäre entdecken in der Normalität die Unterdrückung des Besonderen und Abweichenden. Aber die normale Reaktion auf das Anormale scheint negativ zu sein. Wenn es »normal« ist, dass normales Verhalten sozial eingefordert wird, so wird Normalität zum Problem.

2. Normal, normativ und anomal

Im Normalitätsbegriff scheinen Sein und Sollen unlösbar miteinander verkoppelt zu sein. Aber die Verschränkung von Normalität und Normativität lässt sich semantisch entwirren und psychologisch erklären.

Hält man sich an die Etymologie, so ist der Normbegriff von vornherein zweideutig, weil ein Maßstab nicht nur buchstäblich wie das Winkelmaß an unbelebte Gegenstände angelegt werden kann, sondern im übertragenen Sinne auch an menschliches Verhalten. Dagegen hat der Ausdruck »Anomalie« deskriptive Bedeutung.

Geläufig sind uns die Vokabeln normal und anormal. Aber manchmal ist auch die Rede von Anomalität und anomal oder anomisch, alle ohne das r, aber mit langem O. Anormal und anomal haben ähnliche Bedeutung, aber sprachlich nichts miteinander zu tun. Normal kommt von dem lateinischen norma. Das ist das Winkelmaß, aber auch der der rechte Winkel, im übertragenen Sinne die Regel. Anomal, so meinen viele, stamme vom griechischen Wort νόμος = Gesetz. Das könnte die Bedeutungsähnlichkeit erklären. Aber das ist ein verbreiteter Irrtum. Tatsächlich steckt dahinter das griechische Wort ἀνώμαλός. Das ist die Negativform von homalós (ὁμαλός), was eben oder gleichmäßig bedeutet. Wir kennen diesen Wortstamm aus dem Wort »homogen«. Merkwürdigerweise wird anomal nur mit dem Alpha privativum, also mit der negierenden Vorsilbe verwendet. Nomal als eine positive Version ist nicht gebräuchlich. Das liegt wohl daran, dass es nicht nomal, sondern homal heißen müsste, so dass das Wort als Gegenbegriff zu anomal nicht mehr ohne weiteres erkennbar wäre. Das Wort ὁμαλός beginnt im Griechischen mit einem Omikron, das einen Spiritus asper trägt, also ein diakritisches Zeichen, das wie ein H gesprochen wird. In der altgriechischen Negativform ἀνώμαλός wird aus dem kurzen Omikron ein langes Omega, und der Spiritus asper und damit der H-Laut verschwinden. Wie die Griechen das Wort früher ausgesprochen haben, ist unklar. Jedenfalls für uns heute ist der ursprüngliche Wortstamm von der Aussprache her nicht zu erkennen.

Wenn norma der rechte Winkel ist, dann kann man beschreibend feststellen, dass eine Linie senkrecht steht oder vom Lot abweicht. Dabei bewegt man sich ganz im Deskriptiven. Der Winkel wird zur Norm, wenn eine Bauordnung bestimmt, dass die Dachneigung 45° betragen soll. Die ordnungsgemäß erlassene Bauordnung als Norm ist wiederum bloß ein Maßstab und damit eine Tatsache. Erst die Überzeugung von ihrer Geltung macht sie zur Soll-Norm. Ein Urteil, das ein Faktum von einer Norm her qualifiziert, ist wiederum deskriptiv. Normativ im Sinne von wertend wird das Urteil erst, wenn es implizit besagt: Und das ist gut so. Damit wird in dasjenige, was faktisch einer Norm entspricht, die Normgeltung hineingelesen. Komplizierter noch wird die Sache dadurch, oft auch ohne vorgängige Norm in normales = gleichförmiges Verhalten eine Norm hineingelesen wird, ein Effekt, den wir sogleich als die normative Kraft des Faktischen einordnen werden.

Der Normalitätsbegriff stiftet durch seine »Ambiguitäten« der viel Verwirrung. Als Ausweg bleibt nur die Möglichkeit der Unterscheidung von Normalität und Normativität mit Hilfe einer Nominaldefinition, die besagt: Die Ausdrücke »normal« und »Normalität« verwenden wir deskriptiv, also für empirisch beobachtbare Gleichförmigkeiten. Das hat zur Folge, dass auch »anormal« empirisch verwendet werden muss. »Normativ« und »Normativität« sollen dagegen bedeuten, dass die so gekennzeichneten Verhaltensweisen in irgendeiner Weise sozial – und das kann auch heißen: rechtlich – eingefordert werden.

3. Normalisierung

Zwischen Normalität und Normativität besteht eine starke empirische Verbindung, die der Staatsrechtler Georg Jellinek die »normative Kraft des Faktischen« genannt hatte (o. II). Jellinek dachte dabei nur an soziale Regelmäßigkeiten. Mit dem Faktischen meinte er das soziale Faktum der Übung oder Gewohnheit: Was alle oder jedenfalls die meisten tun, erscheint gut und richtig und wird deshalb befolgt. Aber die normative Kraft des Faktischen reicht weiter. Aber auch wie alle sind, ohne dass sie es ändern könnten, erscheint erstrebenswert. Im Zusammenhang etwa mit Behinderung und Geschlecht muss man auch die normative Kraft naturhafter Normalität bedenken.

Für die Beobachtung der Normalität waren Menschen über Jahrtausende auf ihre Lebenswelt und Alltagserfahrungen angewiesen. Die Zähl- und Messtechnik der Statistik, wie sie seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr systematisch wird, macht natürliche und soziale Normalität sichtbar. Aber sie produziert auch selbst neue Normalitäten und Standards, weil sie für ihre Arbeit auf Operationalisierungen angewiesen ist, das heißt auf beobachtbare Messgrössen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung machte der Soziologe Michel Foucault »Normalisierung« zu einem Schlüsselbegriff machtkritischer Gesellschaftstheorie, und darauf baut der (von Jürgen Link angeführte) kritische Normalitätsdiskurs: Normalität »gibt« es nicht, sondern sie wird in den maßgeblichen Diskursen definiert.

Jürgen Links großer »Versuch über den Normalismus« (3. Aufl. 2006) bietet eine sozialphilosophische Theorie, die den Leser ebenso bewundernd wie ratlos zurücklässt. Link besteht auf einer »kategorialen Differenzierung zwischen Normalität und Normativität« (S. 17), derart, dass er »normativ« für den Bereich intentional gesetzter, also wesenhaft kultureller, teleologischer und präskriptiver, etwa juristischer Normen reserviert« (S. 111). Das entspricht der hier verwendeten Unterscheidung von Normalität und Normativität.

Links Thema ist aber nicht ein überzeitliches (analytisches oder empirisches) Konzept von Normalität und Normativität. Seine Aufmerksamkeit gehört vielmehr der unendlichen Vielfalt, mit der von Normalität geredet wird. Hier kommt der Literaturwissenschaftler zum Vorschein. So widmet Link sich den verschiedenen Haupt- und Nebendiskursen, in denen »Normalität« eine Rolle spielt, um schließlich die Moderne mit kritischem Unterton als Zeitalter des Normalismus zu interpretieren und den Normalismus als Dispositiv im Sinne Foucaults einzuordnen. Normalismus ist mithin der Gesamtkomplex der Verfahren und Institutionen, durch die Normalitäten und entsprechend Anormalitäten produziert und reproduziert werden. Link teilt die Epoche des Normalismus in eine ältere, die er protonormalistisch nennt, und in eine jüngere, die als flexibel normalistisch charakterisiert wird. In der jüngeren Epoche, die mit dem Ende des zweiten Weltkriegs einsetzt, hat die Starrheit der Normierungen und Einteilungen abgenommen, exemplarisch erkennbar etwa an den Kinsey-Reports, die als »diskursives Ereignis« zum Durchbruch des flexiblen Normalismus geführt haben sollen. Der Protonormalismus dagegen kannte relativ scharfe Normalitätsgrenzen. Der flexible Normalismus ist toleranter. Die immerhin vorhanden Grenzen verschieben sich laufend. Doch aufs Ganze gesehen wird Normalität zum normativen Leitbild und löst die Orientierung durch materielle Ideologien ab.

Wiewohl Foucault und Link das Phänomen empirischer Normalität nicht in Abrede stellen, werden sie doch weitgehend dahin rezipiert, dass »Normalität« nicht über die kognitive Wahrnehmung eines empirischen Phänomens wirkt, sondern der Gesellschaft als diskursgeprägte soziale Konstruktion ihren Stempel aufdrückt.

4. Die (Un-)Möglichkeit der Differenzierung von Normalität und Anormalität

Die These von der sozialen Konstruktion von Normalität wird unter anderem darauf gestützt, dass die Wirklichkeit nur gleitende Übergänge kenne, während Normalität eine künstliche Rechengröße sei. Dahinter steht eine Kontinuitätsthese, die besagt, dass der Unterschied Normalität und Anormalität nur quantitativer Natur sei. Die These lässt mit Hilfe der Gauß’schen Glockenkurve anschaulich machen. Mit dieser Kurve werden statistisch ermittelte Werte dargestellt, die die sogenannte Normalverteilung aufweisen.

Dazu ein Beispiel von der Webseite »Mathe-Guru« von Wanja Hemmerich:

»Die Körpergröße des Menschen ist für ein Geschlecht betrachtet normalverteilt. Laut einer Statistik des sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus dem Jahr 2006 liegt der Erwartungswert der Durchschnittsgröße µ bei Frauen in Deutschland bei 165,4 cm, und die Standardabweichung σ bei 4,5 cm. Aus der 68-95-99,7-Regel folgt, dass 68% aller deutschen Frauen eine Körpergröße zwischen 160,9 cm (µ-σ) und 169,9 cm (µ+σ) haben 95% aller deutschen Frauen eine Körpergröße zwischen 156,4 cm (µ-2σ) und 174,4 cm (µ+2σ) haben 99,7% aller deutschen Frauen eine Körpergröße zwischen 151,9 cm (µ-3σ) und 178,9 cm (µ+3σ) haben.«

Was ist da noch normal?

Man kann sich schnell darauf einigen, dass Normalität nicht einfach der Durchschnitt oder der Median ist, wiewohl beide Werte im Bereich des Normalen liegen. Irgendwann, irgendwie, irgendwo scheint Quantität in Qualität umzuschlagen. Aber eine Normalitätsschwelle ist aus den Zahlen nicht erkennbar, und deshalb liegt die Annahme nahe, dass Normalität eben doch sozial konstruiert sei. Dagegen steht eine Diskontinuitätsthese. Sie kann zunächst darauf verweisen, dass längst nicht alle Werte »normalverteilt« sind, sondern oft qualitative Unterschiede bestehen wie bei der Händigkeit, die in der Regel eindeutig ausgeprägt ist. Sie behauptet aber auch, dass Werte, die als kontinuierlich gemessen werden können, in der sozialen Praxis als diskontinuierlich wahrgenommen werden. So hat man in der Regel keine Probleme, andere Menschen als groß, klein oder normal einzuordnen. Phänomenologen würden sagen, dass die Einheit der Lebenswelt eine intersubjektiv geteilte Normalitätssphäre begründet. »Normalerweise« kommt es auf eine scharfe Abgrenzung gar nicht an, weil die Kandidaten in einem sicheren Bereich liegen. Insoweit haben wir es mit dem bekannten Phänomen der Vagheit zu tun. Man hilft sich mit Typenbildung oder dem Erkennen von Familienähnlichkeiten. Computer haben inzwischen gelernt, Muster zu erkennen. Kommt es doch einmal darauf an, so muss der Beobachter bei kontinuierlichen Phänomenen die fehlende Grenze durch sein Werturteil ersetzen.

Canguilhem und die Normativität des Lebens

Literatur: Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, 1974 [Le normal et le pathologique, 1966]; Wolf Lepenies, Normalität und Anormalität. Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften vom Leben und den Sozialwissenschaften. Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften vom Leben u. den Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert, KZfSS 26, 1974, 492-596; Gabriele Vissio, Reasoning in Life: Values and Normativity in Georges Canguilhem, International Journal for the Semiotics of Law = Revue internationale de semiotique juridique 33, 2020, 1019-1031. Zu Leben und Werk Canguilhems ausführlich Gerhard Danzer, Wer sind wir? Auf der Suche nach der Formel des Menschen; Anthropologie für das 21. Jahrhundert; Mediziner, Philosophen und ihre Theorien, Ideen und Konzepte, 2011, 447-459.

Im 19. Jahrhundert wurde Normalität zum Thema, nachdem die Naturwissenschaften in die Medizin Einzug gehalten hatten. Der französische Arzt Broussais löste den einst selbstverständlichen Gegensatz von Gesundheit und Krankheit in ein Kontinuum physiologischer Reizzustände auf. Deshalb wird in diesem Zusammenhang oft die medizinhistorische Dissertation von Georges Canguilhem zitiert.

Canguilhem (1904–1995) war als Absolvent der École Normale Supérieure bereits Gymnasiallehrer für Philosophie, bevor er 1943 ein Zweitstudium der Medizin mit der Dissertation über »Das Normale und das Pathologische« abschloss. Die Arbeit wurde 1966, ergänzt um drei jüngere Aufsätze, noch einmal gedruckt wurde. (Die Seitenangaben beziehen sich auf die deutsche Ausgabe von 1974.) 1955 übernahm Canguilhem als Nachfolger von Gaston Bachelard den Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte an der Sarbonne. Er begutachtete die beiden ersten wichtigen Arbeiten Foucaults, »Wahnsinn und Gesellschaft [1961] und »Die Geburt der Klinik« [1963]. Canguilhem wird deshalb als »Doktorvater« Foucaults genannt. Im Vorwort zur englischen Ausgabe von »Le normal et le pathologique« schreibt Foucault, ohne Canguilhem könne man die Generation der Pariser Meisterphilosophen (unser Ausdruck) der 1960er Jahre nicht verstehen. Die Rezeption der Arbeit Canguilhems in Deutschland haben Wolf Lepenies und Jürgen Link besorgt.

Bahnbrechend an Canguilhems Arbeit von 1943 war der kritische wissenschaftshistorische Zugang zu epistemologischen Fragen. Canguilhem setzte sich mit dem »nosologischen« Prinzip des Arztes Broussais auseinander, nach dem »die pathologischen Phänomene identisch sind mit den entsprechenden normalen Phänomenen und nur quantitativ von ihnen abweichen« (S. 16). Dieses Prinzip wurde im 19. Jahrhundert heiß diskutiert. An der Diskussion war auch der Gründervater der Soziologie, Auguste Comte, auf der Seite Broussais‘ beteiligt. Canguilhems gelangte zu dem Schluss, die von Broussais vertretene Ansicht, es gebe bei lebenden Organismen keine Qualitätsschwelle zwischen dem normalen und einem pathologischen Zustand, sei nicht haltbar.

»So gesehen, ist die These durch und durch unberechtigt, der Krankheitszustand sei in Wirklichkeit bloß die quantitative Abweichung vom physiologischen Zustand nach oben oder unten« (S. 71)

Canguilhem führte das Problem zu einem Teil auf eine unbedachte Gleichsetzung von anormal und anomisch zurück. Entsprechend der Etymologie des Wortes konstatierte er:

»In der Anatomie muß der Terminus Anomalie also strikt die Bedeutung unüblich, ungewohnt behalten; anomal sein heißt dann für einen Organismus: seiner Organisation nach von der großen Mehrheit jener Lebewesen verschieden sein, mit denen er verglichen werden muß.« (S. 87)

Der Normalitätsbegriff hat für Canguilhem einen Doppelcharakter. Seine begriffsimmanente »Ambiguität« (S. 82) lässt sich auch analytisch nicht auflösen. Dagegen war die Anomalie für Canguilhem »ein rein empirischer oder deskriptiver Terminus« (S. 87). Als Beispiele nannte er »Phänomene wie angeborener Klumpfuß, Homosexualität, Diabetes und Schizophrenie« (S. 15). Eine Anomalie kann, muss aber nicht funktionelle Auswirkungen haben (S. 89). Sie ist als solche nicht pathologisch (S. 90, 93). Sie beeinträchtigt selten die Lebensfähigkeit des Individuums. Noch seltener erweist sie sich als evolutionär.

Es scheint zunächst, als ob Canguilhem an der Kontinuitätsthese festhält, wenn er kategorisch erklärt:

»Es gibt keine objektive Pathologie.« (S. 154)

Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass es Kranke gibt. Canguilhem verwies daher für den Krankheitsbegriff auf die Klinik, wo sich die Menschen melden, die unter ihrem Zustand leiden. Er fand also die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit im Verhalten der betroffenen Menschen. Dagegen sollte Foucault alsbald für die Ausgrenzung der »Anormalen« gesellschaftliche Strukturen verantwortlich machen.

Wenn Canguilhem dennoch im Gegensatz zur »nosologischen« eine ontologische Krankheitsvorstellung vertrat, so begründete er dies nicht mit der Diskontinuierlichkeit des Geschehens oder mit einem sonst irgendwie erkennbaren Umschlag von Quantität in Qualität. Vielmehr postulierte er jenseits empirischer Normalität einerseits und sozialer oder ethischer Normativität andererseits eine Normativität des Lebens.

»Nur im Verhältnis zu einer Norm … kann bei physiologischen Funktionen und Bedürfnissen von einem Mehr oder Weniger die Rede sein.« (S. 72)

Diese Norm fand Canguilhem in den »Normen des Lebens« (S. 82ff). »Biologische Normativität« ist für ihn keine rein empirische Angelegenheit. In ihr arbeitet »die dynamische Polarität des Lebens«, die den »Lebenswert« ausmacht (S. 83); »das Leben [ist] letzlich eine normative Aktivität« (S. 82). Canguilhem hält es daher für sinnlos, einer »objektiven Definition des Normalen« nachzujagen; es gelte vielmehr, »die spezifische Normativität des Lebens zu erkennen« (S. 120).

»Es gibt biologische Normen der Gesundheit, und es gibt pathologische Normen: diese sind qualitativ nicht identisch mit jenen.« (S. 84)

»Das Leben selbst und nicht erst das medizinische Urteil macht aus dem biologisch Normalen einen Wertbegriff, der mehr als eine bloß statistische Wirklichkeit bezeichnet.« (S. 85f)

»Es gibt kein Normales oder Pathologisches an sich. Auch Anomalie oder Mutation sind nicht per se pathologisch. Sie zeugen vielmehr von möglichen anderen Lebensnormen. Sind diese – gemessen an Stabilität, Reproduktions- und Wandlungsfähigkeit des Lebens – minderwertiger als die früheren artspezifischen Normen, so gelten sie als pathologisch.« (S. 96)

»Objektiv zu definieren sind nur Abarten und Differenzen, denen kein positiver oder negativer Lebenswert zukommt.)« (S. 154)

Die »Lebensnorm« begründet den »polemischen Charakter« des Normalitätsbegriffs:

»Das Normale ist kein statischer und friedlicher Begriff, sondern ein dynamischer und polemischer … Normieren und normalisieren, das bedeutet: einem Daseienden, Gegebenen eine Forderung aufzwingen, von der aus sich die Vielfalt und Disparatheit dieses Gegebenen als ein nicht bloß fremdes, sondern feindliches Unbestimmtes darstellen.« (S. 163)

Eine vergleichbare Normativität gibt es im Organismus der Gesellschaft nicht, weshalb Comte nach Ansicht Canguilhems mit der Übertragung von Broussais‘ Prinzip auf die Gesellschaft scheitern musste (S. 172ff).

So zeigt der Begriff des Normalen bei Canguilhem nicht bloß die übliche Zweideutigkeit. Normativität wird vielmehr zu einem vitalistischen Konzept, das zur Beschreibung und Erklärung der Lebensphänomene spezifische Antriebe postuliert, die sich nicht auf chemische und physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückführen lassen, aber ebenso wenig als soziale oder ethische Normen zu qualifizieren sind. Letzlich postulierte Canguilhem auch für die vitale Funktion des begrifflichen Denkens eine inhärente Normativität. Diese Ambiguität lässt nicht entwirren, indem man Canguilhems »biologische Normativität« funktionalistisch interpretiert, wofür Hinweise auf »organische Regulation und Homöostase« im Organismus (S. 174) deuten könnten. Canguilhems Vitalismus war von existenzieller Art (Vissio).

Auch wenn man Canguilhems Vitalismus nicht teilt, wird man gerne seiner Aussage zustimmen,

»daß es an sich und a priori keine ontologische Differenz zwischen gelungenen und verfehlten Gebilden des Lebens gibt«.

In Gelsenkirchen wurden 2019 drei Kinder geboren, bei denen an einer Hand keine Finger ausgebildet waren. Darunter leiden die Kinder und ihre Eltern. Die Anomalien lassen sich nicht weginterpretieren. Aber niemand wird deshalb den Wert der Kinder als Menschen in Frage stellen.

Die Normalitätsfrage ist durch Canguilhem nicht einfacher geworden, da er sich nicht mit der Unterscheidung zwischen empirischer Normalität einerseits und sozialer oder ethischer Normativität andererseits begnügt, sondern einen vitalistischen Standpunkt einnimmt, der dem Leben Normen und Normativität zuschreibt. Aber als zentrale Aussage kann man festhalten: Wer aus der Norm fällt, ist deshalb nicht krank. Auch Anomalien sind per se keine Krankheiten.

6. Normativität als Situationsadäquanz

Literatur: Erik Rietveld, Situated Normativity: The Normative Aspect of Embodied Cognition in Unreflective Action, Mind 2008, 973–1001.