§ 22 Von der Aussagenlogik zur deontischen Logik

VI.    Informale Logik: Induktion, Abduktion und Analogie

Literatur: Trudy Govier, Analogies and Missing Premises, Informal Logic 11, 1989, 141-152; dies., A Practical Study of Argument, 7. Aufl. 2014. S. 327f; Ulrich Klug, Juristische Logik, 3. Aufl. 1966;Willard van Orman Quine/Joseph Silbert Ullian, The Web of Belief, 2. Aufl. 1978. Ausführlich über Analogie und Abduktion als informale Argumente 16 Postings einer Serie über »Die Analogie als Entdeckungsverfahren und Gleichmacher« (2022) auf rsozblog.de.

(Formale) Logik erschöpft sich in Deduktionen, die keine neuen Inhalte hevorbringen, sondern nur analytisch zeigen, welche Inhalte in den betrachteten Sätzen schon enthalten sind. Neue Inhalte gewinnt man nur durch Induktion und vielleicht durch Abduktion und Analogie. Insoweit spricht man von informaler Logik. Wir rechnen diese Schlussweisen zur Argumentationsheorie (u. § 30xxx).

Induktion, die Verallgemeinerung von Einzelfällen, ist die Mutter aller Wissenschaft, wiewohl man von David Hume (An Enquiry Concerning Human Understanding, 1758) weiß, dass selbst von vielen Einzelfällen kein logischer Schluss auf die Verallgemeinerung führt. Man streitet, ob auch Abduktion und Analogie eigenständige Schlussweisen oder Argumente bilden, wie es für die Abduktion von Charles Sanders Peirce und für die Analogie von der kanadischen Philosophin Trudy Govier behauptet wird. Wir sehen in dem, was Peirce Abduktion genannt hat, nur eine intuitive, formlose Induktion (o. S. 205).

Auch die Alltagsform der Analogie arbeitet mit einer impliziten Induktion. Quine/Ullian (S. 57) sprechen von einer slurrred-over induction. Die juristische Gesetzesanalogie wird in der einschlägigen Literatur als »ein aus Induktion und Syllogismus zusammengesetzte[r] Schluß« interpretiert, bei dem »zunächst induktiv ein allgemeiner Satz gewonnen, aus dem dann deduktiv der gesuchte Satz abgeleitet wird« (Klug S. 108).

VII.     Nichtmonotone Logik und die prinzipielle Unvollständigkeit des Rechts

Literatur: Michel de Araujo Kurth, Legal defeasibility, materielle Gründe und die Werteperspektive des Rechts, 2022; Carsten Bäcker, Rules, Principles, and Defeasibility, ARSP Beiheft 119, 2010, 79-91; Bartosz Brożek, Defeasibility of Legal Reasoning, 2004; Leonard G. Boonin, Concerning the Defeasibility of Legal Rules, Philosophy and Phenomenological Research 36, 1966, 371-378; Jordi Beltrán Ferrer/Giovanni Battista Ratti (Hg.), The Logic of Legal Requirements: Essays on Defeasibility, 2012; Jaap Hage, Law and Defeasibility, Artificial Intelligence and Law 11, 2003, 221-243; Francesca Poggi, Defeasibility, Law, and Argumentation: A Critical View from an Interpretative Standpoint, Argumentation 35, 2021, 409-434; Giovanni Sartor, Defeasibility in Legal Reasoning, RTh 24, 1993, 281–316; Gerhard Schurz, What Is »Normal«? An Evolution-Theoretic Foundation for Normic Laws and Their Relation to Statistical Normality, Philosophy of Science 2001, 476–497; Jan-Reinard Sieckmann, »Defeasible Reasoning« und die Fragmentierung der deontischen Logik, RphZ 8, 2022, 59-80, Peng-Hsiang Wang, Defeasibility in der juristischen Begründung, 2004.

Um eine Analogie handelt es sich, wenn eine Vorschrift angewendet wird, obwohl nicht alle ihre Voraussetzungen gegeben sind. Dagegen spricht man von defeasability, wenn eine Vorschrift nicht anwendbar ist, obwohl alle ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Ein deutscher Begriff fehlt bisher. Da es sich um ein Gegenstück zur Analogie handelt, bietet sich die Benennung als Dislogie an. Wir sprechen von Regelausnahmen.

Logische Schlüsse verlieren ihre zwingende Kraft mit der Einführung zusätzlicher Prämissen. Anders formuliert: Wenn sich die Voraussetzungen, die einer Entscheidung zugrundegelegt werden, verändern sich, sei es, dass relevantes Wissen hinzukommt, sei es, dass für gesichert gehaltenes Wissen sich als ungültig erweist, dann muss man neu entscheiden. Das ist eigentlich trivial, wird aber von Sartor und anderen formalisiert und zur nicht monotonen Logik hochstilisiert. Für uns handelt es sich dabei um eine Erscheinungsform »informaler Logik«, die im Rahmen der Argumentationstheorie bewältigt werden muss.

Wer einen anderen Menschen vorsätzlich tötet, wird wegen Totschlags bestraft (§ 212 StGB).

Bademeister B hat beobachtet, dass Schwimmer S mit dem Ertrinken kämpfte, ist ihm aber nicht zur Hilfe gekommen.

Der Subsumtionsschluss ist unabweisbar:

B wird bestraft.

Aber der logische Schluss kann mit der Einführung zusätzlicher Prämissen seine Eindeutigkeit verlieren:

B ist ins Wasser gesprungen, um zwei Kinder zu retten, die gleichfalls zu ertrinken drohten.

so lautet der Schluss:

T wird (ausnahmsweise) nicht bestraft.

Ausnahmen oder Erweiterungen einer Regel werden häufig in unmittelbarem Zusammenhang mit der Regel formuliert, eingeleitet etwa mit der Formulierung »es sei denn …«. Oft ergeben die Ausnahmen sich aus Allgemeinen Teilen des Rechts, etwa aus den für Zivilrecht und Strafrecht allgemein formulierten Rechtfertigungsgründen. Zivilrechtliche Ansprüche scheitern, wenn als zusätzliche Prämissen einschlägige Einwendungen oder Einreden in den Prozess eingeführt werden. Im Beispiel greift der nicht gesetzlich statuierte, aber allgemein anerkannte Rechtfertigungsgrund des übergesetzlichen Notstands. Auch insoweit kann ohne weiteres subsumiert werden. Anders, wenn in den in letzter Zeit aktuellen Verfahren gegen die sog. Klimakleber jedenfalls erwogen wird, ob auf die an sich regelkonforme Verurteilung wegen Sachbeschädigung, Störung des Straßenverkehrs oder Nötigung verzichtet werden kann, wenn als zusätzliche Prämisse die guten Absichten der Täter berücksichtigt werden. Anders wiederum, wenn Fridays for Future den Straßenverkehr durch eine Demonstration lahmlegt. Hier gehen die spezielleren Regeln des Versammlungsrechts dem Straßenverkehrsrecht vor.

Ein häufig zitiertes Beispiel, das anscheinend aus einem Kongressvortrag von Giovanni Sartor stammt, hilft nicht weiter: Tweety ist ein Vogel. Vögel können fliegen. Aber Tweety ist ein Pinguin, der nicht fliegen kann. Die (allgemeine) Regel gilt nicht mehr, wenn der umgangssprachliche Begriff des Vogels durch den zoologischen ersetzt wird. Besser ist ein juristisches Beispiel: Das Parken vor Grundstückseinfahrten ist verboten (§ 12 StVO). Das gilt jedoch nicht für den Grundstückseigentümer selbst. Aber das ist nur die Kehrseite der aus jederAbstraktion folgenden Unschärfe der Begriffe. Diese Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass die semantische Auslegung der Regel zu einem klaren Ergebnis führt, das aber mit Hilfe der gängigen Auslegungsmethoden gelegentlich durch eine Ausnahme korrigiert wird, im Falle des Parkverbots durch eine teleologische Reduktion. Bei dem Konflikt zwischen Straßenverkehrs- und Versammlungsrecht greift eine Konkurrenzregel. Neben die explizit formulierten Ausnahmen einer Regel treten damit solche, die sich durch Auslegung gewinnen lassen. Sie stellen sich als bloße Randkorrekturen dar, so dass man sie als implizite Ausnahmen bezeichnen mag.

Unter der Überschrift legal defeasibility werden jedoch Regelausnahmen aus prinzipiellen Gründen thematisiert, nämlich aus Gründen, welche die Basis der Regel, ein hinter ihr stehendes Prinzip und damit die Regel selbst angreifen. Dann ist die Lösung nicht länger mit Hilfe der anerkannten Auslegungsmethoden zu gewinnen, sondern muss durch eine Abwägung gefunden werden. Der Klimakleber-Fall ist insofern schon relativ komplex, weil hier nicht nur deliktisch geschützte Rechtsgüter gegen das Rechtsgut des Klimaschutzes (Art. 20a GG) stehen, sondern weil darüber hinaus die Bestandskraft klar formulierten positiven Rechts als Rechtssicherheit ins Gewicht fällt. Als Beispiel dienen daher meistens Fälle, in denen weniger konkret ausgebildete Regeln konfligieren, wie die Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG und das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I GG.

Das hier aufscheinende Verhältnis von Regel und Ausnahme lässt sich auch mit einer Begrifflichkeit fassen, die auf einen Klassiker der Moralphilosophie, auf das Buch »The Right and the Good« von William David Ross (1930) zurückgeht. In vielen Situationen ergeben sich moralische Pflichten, über die man kaum streiten wird, und die Ross als Prima-Facie-Pflichten bezeichnete (S. 19). Beispiele sind etwa die Pflicht nicht zu töten, ein Versprechen zu halten oder nicht zu lügen. Sie gelten jedoch nur solange, wie sie nicht von einer anderen konkurrierenden Pflicht aufgehoben werden, die als solche ihrerseits außer Streit stehen.

Zwei Konstellationen kommen in Betracht: Abwägung im Einzelfall und Abwägung zur Normgewinnung. Die erstere kann dazu führen, dass eine bei semantischer Interpretation für anwendbar gehaltene Regel durch außerordentliche Umstände durchbrochen wird. Traditionell wird hier der Gesichtspunkt der Billigkeit herangezogen. Der Einzelfall erscheint als so einmalig, dass es sich nicht verlohnt, eine Ausnahme als Subregel zu formulieren. Für typische Konstellationen ermuntern gesetzliche Generalklauseln wie § 313 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) oder § 765a ZPO (Vollstreckungsschutz wegen unzumutbarer Härte zur Einzelfallabwägung. Nicht selten werden werden die Einzelfallabwägungen über Präjudizien dann doch verregelt. Auch insoweit geht es aber nur um Randkorrekturen von Regeln.

Rechtstheoretisch größere Beachtung findet die Bildung von Regelausnahmen, die künftig als neue Regel zur Anwendung kommen sollen. Hier geht es an die Substanz der Ausgangsregel, die nicht bloß für einen ganz ungewöhnlichen Einzelfall, sondern für einen als wiederholbar gedachten Problemfall eingeschränkt wird. Dazu rekurriert man von der Regelebene auf eine übergordnete Ebene, der die Regel ihre Legitimation entnimmt. Beide Fälle werden unter der Überschrift legal defeasibility behandelt. De Araujo Kurth übersetzt defeasibility als Anfechtbarkeit der Regel, ein anfechtbarer Sprachgebrauch, ist doch die Anfechtung als juristischen Begriff schon belegt. Als »Anfechtungsgründe« kommen Werte und Prinzipien in Betracht, die in erster Linie auf Grund- und Menschenrechte, aber gelegentlich auch auf Ethik und Moral gestützt werden.

Praktisch erfolgt die Ausnahmebildung meist unter dem Aspekt der Verfassungswidrigkeit der Regel. Theoretisch wird die Diskussion unter dem Gesichtspunkt der Abwägung von Werten oder Prinzipien geführt. Teils wird auch das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit und damit auch der Dauerstreit um ein angemessenes Verständnis des Rechtspositivismus als Problem der »Regelanfechtbarkeit« ausformuliert. So werden unter der (nicht mehr ganz) neuen Überschrift »Defeasibility« altbekannte Probleme verhandelt. Das spiegelt sich unbeabsichtigt in der neueren Monografie von Michel de Araujo Kurth. Wir setzen daher bei dem umfangreichen Schrifttum zu legal defeasibility Ockhams Razor an.

Neben der prinzipiellen Vagheit der Sprache, der Kontextabhängigkeit von Bedeutung und dem fundamentalistischen Rekursivitätsargument Kripkes dient auch das Phänomen der Regelausnahmen zur Begründung des verbreiteten Regelskeptizismus. Da sei hier abschließend darauf hingewiesen, dass in Biologie und Kultur alle Gesetzmäßigkeiten = Regeln nur den Charakter von Prototypen haben, dass sie deshalb aber empirisch nicht gehaltlos sind. Dafür sie hier auf die Darstellung von Gerhard Schurz verwiesen.