I. Der hermeneutische Zirkel
Literatur: Hans Albert, Kritik der reinen Hermeneutik, 1994; Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, 2003; Alexander von Baeyer, Bemerkungen zum Verhältnis von juristischer und philosophischer Hermeneutik, ARSP 54, 1961, 27-42; Emilio Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 1962; Jochen Bung, Einige Grundüberlegungen zur Methode der Rechtsfindung, Ancilla Juris, 2009, 35-52; Helmut Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959; Donald Davidson, Wahrheit und Interpretation, 1986 (Inquiries into Truth and Interpretation, 1984); Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: ders., Gesammelte Schriften, V. Band, 317; Hans Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975; ders., Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe, Rechtstheorie 9 , 1978, 257-274; Winfried Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968; Rainer Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982; Joachim Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972; Vittorio Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, 2018; Ralf Poscher, Rechtsdogmatik als hermeneutische Disziplin, FS Schlink, 2014, 203-219; ders., Hermeneutics and Law, in: Kristin Gjesdal/Michael N. Forster (Hg.), The Cambridge Companion to Hermeneutics, 2019, 326-353; Georg Henrik v. Wright, Erklären und Verstehen, 1974.
Ein erstaunliches Buch, das gerade erst wiederentdeckt wird: Francis Lieber, Legal and Political Hermeneutics, Or, Principles of Interpretation and and Construction in Law and Politics, Boston, 1839. Lieber entwickelte darin einen Satz von Regeln zur Interpretation von Texten (good faith, common sense, Takt).
II. Klassische Hermeneutik
III. Vorverständnis und Methodenwahl 215
IV. Anhang
- Objektive Hermeneutik
Literatur: Detlef Garz/Klaus Kraimer (Hg.), Die Welt als Text. Theorie, Kritik und Praxis der objektiven Hermeneutik, 1994; Monika Knassmüller/Oliver Vettori, Hermeneutische Verfahren, in: Renate Buber/Hartmut H. Holzmüller (Hg.), Qualitative Marktforschung, 2007, 299-317; Ulrich Oevermann, Objektive Hermeneutik als Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt, in: Phil C. Langer u. a. (Hg.), Reflexive Wissensproduktion, 2013, 69-98; Peter Tepe, Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich, 2007.
Objektive Hermeneutik ist eine Methode der qualitativen Sozialforschung, die auf den Soziologen Ulrich Oevermann zurückgeht. Das Verfahren wird für so »objektiv« gehalten, dass es sogar für die Marktforschung gut ist. Es will den Sinngehalt von Symbolen und kommunikativen Akten aus latenten Strukturen erschließen. Die naheliegende Frage nach Verwandtschaft oder Unterschied zur objektiven Auslegung der Juristen ist bisher anscheinend nicht beantwortet.
- Zum Stichwort »Hermeneutik des Verdachts«
Der Sammelband von Garz/Kraimer zur Objektiven Hermeneutik enthält auch einen Beitrag von Heinz Bude mit dem Titel »Das Latente und das Manifeste: Aporien einer ›Hermeneutik des Verdachts‹ « (S. 114-124). Dort (S. 118) findet man eine Definition:
»Mit der doppelten Hermeneutik von manifester Bedeutung und latentem Sinn wird eine analytische Mentalität eingeübt, die man als ›Hermeneutik des Verdachts‹ (Paul Ricœur) bezeichnen kann. Alles und jedes, was auf dem Felde menschlichen Handelns erscheint, fällt unter den Verdacht, daß darin etwas Verborgenes zum Ausdruck kommt, das die Subjekte leitet, ohne daß sie davon wissen.«
Das Stichwort geht auf den französischen Philosophen Paul Ricœur (1913-2005) zurück. Ricœur sprach von einer herméneutique du soupçon. Für Ricœur gehörte zur Interpretation die »Übung des Zweifels«, nämlich »eine Selbstkritik des hermeneutischen Bewussteins«.
»Riœur sieht gerade darin den entscheidenden Beitrag der von ihm so genannten Meister des Zweifels, Marx, Nietzsche und Freud, daß sie nicht mehr die Gegenstände der Erkenntnis in den methodischen Zweifel ziehen, sondern daß sie das Bewußtsein der erkennenden Subjekte in Zweifel ziehen. ›Nach dem Zweifel an der Sache sind wir nun in den Zweifel am Bewußtsein eingetreten.‹ « (Hans Weder, Kritik am Verdacht. Eine neutestamentliche Erprobung der neueren Hermeneutik des Verdachts, Zf Theologie und Kirche 93, 1996, 59-83, S. 72)
Wer ohne genauere Bezugnahme auf Ricœur von einer Hermeneutik des Verdachts redet, will damit in der Regel einen nicht klar ausgesprochenen Ideologieverdacht kritisieren. Die wichtigsten Verdachtskandidaten sind aktuell der Neoliberalismus und das Patiarchat.
- Sinnentwurf als Abduktion
Literatur: Bjarte Askeland, The Potential of Abductive Legal Reasoning, Ratio Juris 2020, 66–81; Igor Douven, Abduction, Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2017; Jo Reichertz, Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, 2. Aufl. 2013; Gerhard Schurz, Die Bedeutung des abduktiven Schließens in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, in: Alfred Schramm (Hg.), Philosophie in Österreich 1996, 91-109; ders., Patterns of Abduction, Synthese 164, 2008, 201-234.
Das unübersichtliche Werk von Charles Sanders Peirce (1839-1914), der auch der amerikanische Kant genannt wird, zitieren wir nach der im Internet verfügbaren Ausgabe der Collected Papers (CP), hg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss (Bd. I-VI, 1931-1935) und Arthur W. Burks (Bd. VII-VIII, 1958). Aus der Sekundärliteratur ragen heraus Jürgen von Kempski, Charles Sanders Peirce und der Pragmatismus, 1952 (eine von Adono betreute Dissertation, wieder abgedruckt in von Kemspi, Gesammelte Schriften Bd. 3, 1962, 193-309) sowie von Karl-Otto Apel, Der Denkweg von Charles Sanders Peirce, 1975.
»Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen.« (Gadamer). Für diesen Entwurf einer Auslegungshypothese wollen manche Autoren auf den von Charles S. Peirce gewählten Begriff der Abduktion zurückgreifen. Als Apagoge (ἀπαγωγή = lat. abductio) hatte Aristoteles in der Zweiten Analytik den Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine bezeichnet. Peirce greift diesen Begriff wieder auf für ein Verfahren, das neben Deduktion und Induktion ein drittes eigenständiges Schlussverfahren bilden soll.
Das berühmte Bohnenbeispiel, an dem Peirce den Unterschied zeigen wollte, ist allerdings ungeeignet, denn es läuft auf eine Induktion hinaus:
Auf einem Tisch liegt ein Sack mit weißen Bohnen. Wenn wir seinen Inhalt schon kennen, können wir deduzieren: Alle Bohnen im Sack sind weiß. Dies sind Bohnen aus dem Sack. Also sind diese Bohnen weiß (Deduktion). Kennen wir die Farbe der Bohnen in dem Sack noch nicht, sind vor dem Sack aber einige weiße Bohnen verstreut, so werden wir vermuten, dass auch die anderen Bohnen im Sack weiß sind. Das wäre ein (quantitativer) Induktionsschluss. Wir können unserer Sache aber erst sicher sein, wenn wir alle Bohnen im Sack auf ihre Farbe überprüft haben. Wissen wir, dass alle Bohnen im Sack weiß sind, und sehen wir verstreute weiße Bohnen, so »abduzieren« wir, d. h., bilden wir die Hypothese: Diese Bohnen sind aus diesem Sack. Dieses anfängliche Erraten einer Hypothese, das auf Grund unserer Erfahrung besser ist als ein Zufallstreffer, nannte Peirce Abduktion. Tatsächlich handelt es sich um eine Induktion, denn unsere Erfahrung sagt uns: Wenn neben einem Sack lose Teile liegen, stammen die häufig aus dem Sack. Später hat Peirce die Untauglichkeit seines Beispiels selbst erkannt und den Abduktionsbegriff auf den Fall reduziert, dass zur Erklärung eine unerklärlichen = überraschenden Beobachtung eine Vermutung oder Hypothese gebildet wird. Zusätzliche Verwirrung entsteht, weil Peirce und sein Interpret Reichertz in unterschiedlicher Weise von qualitativer Induktion sprechen. Diese soll sich von dem Normalfall der Induktion – wir beobachten, dass viele Exemplare von Gegenständen oder Ereignissen eine bestimmte Eigenschaft (oder Ursache) haben und schließen, dass dieselbe Eigenschaft bei allen Exemplaren dieser Art anzutreffen sei. Als qualitative Induktion bezeichnet Peirce den Fall, dass nicht von der Häufigkeit der Merkmale einer Stichprobe auf die Merkmale der gesamten Gattung, sondern von deren besonderer Qualität auf die Zugehörigkeit zu einer Gattung geschlossen wird. Bei Reichertz bildet die qualitative Induktion nur die Umkehrung des quantitativen, indem sie die wahrgenommenen Eigenschaften der Stichprobe mit anderen schon bekannten Merkmalen der Gattung ergänzt. Beispiel: Ich sehe Hufspuren. Ich weiß, dass diese Hufspuren von Pferden stammen und dass Pferde auch Pferdeäpfel hinterlassen. Also werde ich in der Nähe auch Pferdeäpfel finden. Für die Abduktion bleibt danach der Fall, dass eine überraschende (unerklärliche) Beobachtung eine neuartige Erklärung auslöst. Das wäre dann eine Innovation.
Peirce hielt abduction für »präziser« als presumtion. Wir halten diese Begriffsbildung eher für verwirrend. In einer Formulierung von Schurz ist Abduktion ein Schluss auf die beste Erklärung. Aber der Begriff erklärt gar nichts, sondern benennt nur das Phänomen einer innovativen Deutungshypothese, die »irgendwie« auf vorhandenes Vorwissen zurückgreift.
Deshalb ist es kein Fortschritt, wenn der Begriff auch Eingang in die Methodenliteratur findet (z.B. Vanessa Inshakova/Alexander Goncharov, Abduction for Juridical Science and Practice, 2017, SSRN 2949793; Arthur Kaufmann, Die Rolle der Abduktion als Rechtsgewinnungsverfahren, in: Guido Britz/Heinz Müller-Dietz (Hg.), FS für Heinz Müller-Dietz, 2001, 349-360; Ralf Kölbel/Thorsten Berndt/Peter Stegmaier, Abduktion in der justiziellen Entscheidungspraxis RTh 37, 2006, 85-108; Manfred Kraus, Deduktion, Reduktion, Kontradiktion, Rechtstheorie 42, 2011, 417-436, S. 425; Klaus Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle. Abduktion und Falsifikation von Hypothesen im juristischen Entscheidungsprozess. 1972; Ronen Reichman, Abduktives Denken und talmudische Argumentation, 2006, Alexander Somek, Von der Rechtserkenntnis zur Interpretativen Praxis, RTh 23, 1992, 467-490; zurückhaltend Robert Alexy, Arthur Kaufmanns Theorie der Rechtsgewinnung., ARSP Beiheft 100, 2005, 47-66.). Hier gibt es Arbeit für Ockhams Razor.