§ 20 Recht und Literatur

I.        Überblick

Literatur: Benjamin Cardozo, Law and Literature [1925], in: ders., Law and Literature and Other Essays and Addresses, Littleton, Col., 1931; Guyora Binder/Robert Weisberg, Literary Criticisms of Law, Princeton University Press, 2000; Kieran Dolin, A Critical Introduction to Law and Literature, Cambridge University Press, 2007; Richard Posner, Law and Literature: A Misunderstood Relationship, Harvard University Press, (1988) 3. Aufl. 2009. Bei Routledge erscheint eine offen zugängliche Online-Zeitschrift »Law and Literature«.

Von der Hermeneutik führt ein kurzer Weg zur Literaturwissenschaft (u. II.) Doch zuvor ist ein Seitenblick auf das Gesamtthema »Recht und Literatur« angezeigt.

»Law and Literature« ist eines der Law & Something-Fächer, die sich in den USA etabliert haben. Bahnbrechend war 1925 ein Aufsatz von Cardozo, in dem er juristische Texte, vor allem Urteilstexte, in die Nähe von Literatur rückte. Einerseits will man mit den Methoden der Literaturkritik Struktur und Rhetorik juristischer Texte entschlüsseln (Recht als Literatur – law as literature = Interpretationsansatz). Andererseits soll das Verständnis für typische Problemlagen des Rechts vertieft werden, indem ihre Behandlung in der (schöngeistigen) Literatur heran gezogen wird (Recht in der Literatur – law in literature = Verständnisansatz). Tatsächlich hat jeder halbwegs gebildete Jurist Kafkas »Prozeß« gelesen und ihn als Warnung verstanden, wie leicht Recht und Prozess zum Selbstzweck werden und dem Bürger die ihm gebührende Rolle verweigern. Dieser zweite Gesichtspunkt war und ist in Deutschland vorherrschend. Einen dritten Gesichtspunkt wählt der Narrationsansatz, der auf die Wirkmächtigkeit kleiner und großer »Erzählungen« in Theorie und Praxis des Rechts hinweist (u. III).

Gelegentlich wird unter dem Titel »Recht und Literatur« auch das Thema »Literatur im Recht« behandelt. Dazu gehören besonders das Urheberrecht und die Frage nach den Grenzen, die literarischen Äußerungen durch das Strafrecht und die Persönlichkeitsrechte Dritter gezogen werden. Das ist aber ein konventionelles juristisches Thema.

Eine große Gesamtdarstellung von »Law und Literature« bietet Richard Posner. Während er in der ersten Auflage seines Buches von 1988 noch meinte, Literaturtheorie und Jurisprudenz hätten nicht mehr miteinander gemeinsam als den Begriff »Interpretation«, heißt es in der dritten Auflage von 2009 (S. 6): »I have come to praise Ceasar, not to bury him. Law and literature is a rich and promising field.« Das hindert ihn freilich nicht, am Beispiel der Bände von Binder/Weisberg und Dolin die Weltverbesserungsideen dieser und anderer Autoren heftig zu kritisieren und vor der Gefahr der »attractiveness of interdisciplinarity to weak scholars as a method of concealing weakness« (S. 7) zu warnen.

Zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft hat das Konzept der Intertextualität seinen Platz. Es behandelt das Phänomen, dass alles, was gesagt und geschrieben wird, also alle Texte, in irgendeiner Weise auf andere Texte Bezug nehmen. Für juristische Texte ist das eher trivial. Es überrascht daher wenig, dass die Ausarbeitung dieses Konzepts für Rechtstexte weitgehend zu einer Reformulierung aktuell geläufiger Standpunkte der Rechtstheorie gerät. So sagt Krüper, man könne »im Befund von Intertextualität eine Reformulierung des für das Recht konstitutiven hermeneutischen Paradigmas sehen«. Es war notwendig, das Konzept der Intertextualität für Rechtstexte auszuprobieren. Weiterführend sind jetzt eher empirische Arbeiten, die zeigen, wie Rechtstexte tatsächlich aufeinander Beug nehmen. Solche Arbeiten sind aus der Netzwerkanalyse bekannt. Literatur zur Inertextualität: Julian Krüper, Über | Rechts | Zwischen | Texte, Überlegungen zu intertextueller (De-)Stabilisierung des Rechts, in: Andreas Funke/Konrad Lachmayer (Hg.), Formate der Rechtswissenschaft, 2016, 211-236; Martin Morlok, Intertextualität und Hypertextualität im Recht, in: Friedemann Vogel (Hg.), Zugänge zur Rechtssemantik, 2015, 69-90.

II.     Zum Interpretationsansatz

Im Zusammenhang mit der Juristischen Hermeneutik interessiert der Interpretationsansatz, dieser wiederum zugespitzt auf die Frage, ob die Methoden der Kritik und Interpretation von literarischen Texten für den Umgang mit Rechtstexten hilfreich sein könnte. In der Literaturtheorie unterscheidet man drei Theoriegruppen. Sie sind autorbezogen, textbezogen oder leserbezogen. Diese drei Theoriecluster bilden bis zu einem gewissen Grade auch aufeinander folgende Phasen.

Zwischen den Methoden der Gesetzesauslegung und den verschiedenen Literaturtheorien gibt es mehr oder weniger deutliche Parallelen. Historisch-kritische Methoden der Literaturtheorie, die den Autor und seine Intention als relevante Instanz der Textbedeutung sehen, finden ihre Entsprechung in der genetischen Auslegung. Textbezogene Methoden, die im Sinne eines hermeneutischen Objektivismus nach der Bedeutung im Text suchen, entsprechen der objektiven Auslegung. Dagegen haben Methoden, die Texte formal und strukturalistisch analysieren, keine Entsprechung in der juristischen Methodenlehre. Hier könnte man immerhin an den Strukturalismus der Allgemeinen Rechtslehre (Andreas Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004) denken. Gegenwärtig dominieren Rezeptionstheorien, die auf Leserreaktionen abstellen. Leserorientierte Theorien beschreiben die autonome Auslegung (o. § 15 II 2.) als Normalität. Sie scheinen solchen juristischen Methoden zu entsprechen, die die Bindung an das Gesetz lockern und den Gerichten größere Freiräume zugestehen.

Wegen solcher Parallelen oder gar Konvergenzen drängt sich interdisziplinäres Arbeiten zwischen Rechtstheorie und Literaturtheorie auf. Auch wenn unterschiedliche Textsorten und Auslegungsziele einem direkten Import literatur­wissenschaftlicher Interpretationstheorien entgegenstehen, können sie doch bei der Abklärung des eigenen Standpunkts helfen. Deshalb sollen hier drei (immer noch) aktuelle Rezeptionstheorien angeführt werden.

III.  Literaturwissenschaftliche Rezeptionstheorien

Literatur: Roland Barthes, Der Tod des Autors [La mort de l’auteur, 1968], in: Fortis Jannidis u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Bd. 18058, [Nachdr.], 2009, S. 185-193; Jonathan D. Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, 1999; Michael Dellwing, Derrida, Fish, und das Gesetz, ZfRSoz 29, 2008, 261-278; Stanley E. Fish, Literature in the Reader: Affective Stylistics, New Literary History 2, 1970, 123-162; Aufsatzsammlungen von Fish: Is There a Text in This Class: The Authority of Interpretative Communities, 1980; Doing What Comes Naturally. Change Rhetoric and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, 1989; Das Recht möchte formal sein, 2011; Robert C. Holub, Zur amerikanischen Rezeption der Rezeptionsästhetik, in: Frank Trommler (Hg.), Germanistik in den USA, 1989, 196-220; Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, 1970, Hans Robert Jauss, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 1967 (im Text zitiert aus dem Abdruck im Sammelband »Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik«, 1991); Leonard Kaplan, Without Foundation: Stanley Fish and the Legal Academy, (Rezension von Stanley Fish, Doing What Comes Naturally), Law and Social Inquiry 16, 1991, 593-613; Lois Tyson, Critical Theory Today, A User-Friendly Guide, 3. Aufl., 2015.

Wie immer gibt es Vorläufer. Aber die gängigen (subjektiven) Rezeptionstheorien sind innerhalb von zehn Jahren nach der Konstanzer Antrittsvorlesung von Karl Robert Jauß (1966) formuliert worden, und zwar zunächst ganz unabhängig von einander. Sie rücken alle gemeinsam den Leser an Stelle des Autors und des Textes in den Mittelpunkt des Interesses.

1968 hat Roland Barthes den Tod des Autors verkündet. Der Jurist wird diesen Text als eine Aufforderung zum Übergang von der subjektiven und/oder historisch-kritischen Auslegung zu einem objektiven Textverständnis lesen. Bemerkenswert ist dabei die Begründung. Der Text wird zu einem »Gewebe von Zitaten« erklärt mit der Folge, dass die kreative Eigenleistung des Autors ganz in den Hintergrund tritt. Daraus lässt sich gut ein Argument für die objektive Auslegung gewinnen, ist doch jedes neue Gesetz und jedes neue Präjudiz nur ein Glied in der von Dworkin so genannten chain story des Rechts. Technisch redet man von Intertextualität.

Barthes schließt: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.« Vernachlässigt man, dass er die Möglichkeit einer historisch-kritischen und einer autorzentrierten Interpretation keineswegs verneint, sondern nur normativ dazu aufgerufen hat, den Leser in den Mittelpunkt zu stellen, so gelangt man zur Rezeptionstheorie, wie sie in Deutschland von der »Konstanzer Schule« durch Karl Robert Jauß und Wolfgang Iser begründet wurde. Sie stellt darauf ab, dass es tatsächlich immer wieder die Leser sind, die einem Text zu Bedeutung und Sinn verhelfen.

Das Startzeichen setzte der Konstanzer Romanist Hans Robert Jauß – der posthum noch einmal durch seine Vergangenheit als SS-Offizier Aufsehen erregte – mit seiner Antrittsvorlesung, die 1967 unter dem Titel »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft« veröffentlicht wurde. Jauß wollte der Geschichtlichkeit der Literatur dadurch Rechnung tragen, dass er ihre Rezeption und Wirkung jenseits einer möglicherweise darstellenden oder expressiven Funktion als geschichtsbildenden Prozess betrachte. Dazu betonte er die aktive Rolle des Lesers.

»Im Dreieck von Autor, Werk und Publikum ist das letztere nicht nur der passive Teil, keine Kette bloßer Reaktionen, sondern selbst wieder eine geschichtsbildende Energie.« (S. 169)

Die Vorstellung, »daß im literarischen Text ein »objektiver, ein für allemal geprägter Sinn dem Interpreten jederzeit unmittelbar zugänglich sei«, verwarf Jauß »als ein platonisierendes Dogma der philologischen Metaphysik« (S. 183). Das bedeutet freilich nicht, dass die Rezeption völlig dem Leserindividuum überlassen bleibt, denn der Leser geht mit einem historisch geprägten Erwartungshorizont an die Lektüre.

»Der Ereigniszusammenhang der Literatur wird primär im Erwartungshorizont der literarischen Erfahrung zeitgenössischer und späterer Leser, Kritiker und Autoren vermittelt.«

Jauß hält diesen Erwartungshorizont für objektivierbar und sieht in seiner Explikation geradezu das »methodologische Kernstück« seiner Theorie. Der Erwartungshorizont deckt sich zum Teil mit dem, was Juristen als Vorverständnis geläufig ist. Aber er wird auch durch Strukturen und Signale aus dem Text selbst beeinflusst.

»Der psychische Vorgang bei der Aufnahme eines Textes ist im primären Horizont der ästhetischen Erfahrung keineswegs nur eine willkürliche Folge nur subjektiver Eindrücke, sondern der Vollzug bestimmter Anweisungen in einem Prozeß gelenkter Wahrnehmung, der nach seinen konstituierenden Motivationen und auslösenden Signalen erfaßt und auch textlinguistisch beschrieben werden kann. … Der neue Text evoziert für den Leser (Hörer) den aus früheren Texten vertrauten Horizont von Erwartungen und Spielregeln, die alsdann variiert, korrigiert, abgeändert oder auch nur reproduziert werden.« (S. 175)

So verläuft der Rezeptionsvorgang am Ende erstaunlich konventionell.

1970 veröffentlichte der Anglist Wolfgang Iser (1926-2007) einen Text, mit dem er zum zweiten Pfeiler der Konstanzer Schule wurde: »Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa«. Iser fragt:

»Sollte am Ende Interpretation nichts weiter als ein kultiviertes Leseerlebnis und damit nur eine der möglichen Aktualisierungen des Textes sein? Verhält es sich so, dann heißt dies: Texte werden überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Produkt einr Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt. Generiert der Leser die Bedeutung eines Textes, so ist es nur zwangsläufig, wenn diese in einer je individuellen Gestalt erscheint.« (S. 7)

Eine eine radikal subjektive Rezeptionstheorie müsste auf diese Fragen mit einem klaren Ja antworten. Iser ist freilich nicht besonders radikal. Die unbegrenzte Interpretierbarkeit behauptet er nur für literarische Texte. Dagegen kennt er andere, die »einen Gegenstand vorstellen oder mitteilbar machen, der eine vom Text unabhängige Existenz besitzt« (S. 10), sei es, dass dieser Gegenstand in der realen Lebenswelt vorzufinden ist, sei es, dass der Text ihn erst als solchen konstituiert. Zu der zweiten Gruppe rechnet Iser

»beispielsweise alle Texte, die Forderungen stellen, Ziele angeben oder Zwecke formulieren, ebenfalls neue Gegenstände, die jedoch erst durch das vom Text entwickelte Maß an Bestimmtheit ihren Gegenstandscharakter gewinnen. Gesetzestexte bilden den paradigmatischen Fall solcher Formen der Sprachlichkeit. Das von ihnen Gemeinte gibt es dann als verbindliche Verhaltensnorm im menschlichen Umgang.« (S10)

Nur literarische Texte sind für Iser schlechthin »fiktional«. Nur für sie gilt:

»In literarischen Werken indes geschieht eine Interaktion, in deren Verlauf der Leser den Sinn des Textes dadurch ›empfängt‹, daß er ihn konstituiert! Daraus folgt, daß man die alte Frage, was dieses Gedicht, dieses Drama, dieser Roman bedeutet, durch die Frage ersetzen muß, was dem Leser geschieht, wenn er fiktionale Texte durch die Lektüre zum Leben erweckt.« (Der Akt des Lesens S 39, 41)

Die Literatureigenschaft eines Textes findet Iser in dem Text selbst, denn literarische Texte sollen sich durch eine Unbestimmtheitsdimension auszeichnen. Dazu benennt Iser »formale Bedingungen, die im Text selbst Unbestimmtheit hervorbringen« (S. 11) und behauptet, »daß die Unbestimmtheit in literarischen Texten seit dem 18. Jahrhundert ständig im Wachsen begriffen ist« (S. 24). Eine »Unbestimmtheitsdimension« ist Juristen aus Rechtstexten nur zu gut vertraut. Ihr Problem stellt sich gerade mit der Frage, ob die Bestimmtheit oder Umbestimmtheit objektive Eigenschaften des Textes sind. Deshalb wirkt die Qualifizierung von literarischen Texten mit Hilfe einer »Unbestimmtheitsdimension« im Hinblick auf die Rezeptionsmöglichkeiten der Leser zirkulär.

Im Übrigen ist das Leseergebnis auch bei literarischen Texten für Iser nicht subjektiv beliebig. Der Text hat zwar keine »Bedeutung«, aber doch »Sinnpotentiale«, und auch wenn diese »niemals vollkommen, sondern immer nur partiell eingelöst werden« können, so können doch die »Voraussetzungen, die die Sinkonstitution bedingen«, analysiert werden.

»So individuell daher auch die Färbungen des konstituierten Sinnes im Einzelfall sind, so besitzt der Konstitutionsakt selbst angebbare Charakteristika, die den je individuellen Realisierunger des Textes zugrundeliegen und folglich intersubjektiver Natur sind.« (Der Akt des Lesens S. 42)

In der Rechtstheorie wurde zunächst nur die unbhängig von der Konstanzer Schule etwa gleichzeitig enstandene Rezeptionstheorie von Stanley Fish wahrgenommen, die als Reader Response Theorie bekannt ist. Das hat damit zu tun, dass die Literaturtheorie in den USA weitgehend als politisch kritische betrieben wird (vgl. die Darstellung von Tyson).

Die Reader-Response-Theorie ist radikaler als die Konstanzer Rezeptionstheorie. Danach hat ein Text keine eigene Bedeutung, über die man reden könnte: Sinn oder Bedeutung entstehen allein durch den Rezeptionsvorgang. Das Textverständnis des Autors und das des Lesers haben nichts miteinander zu tun, denn der Leser begegnet dem Text mit einem ihm eigenen Raster, mit dem er sich die Welt erschließt. Die Texte stehen dem Interpreten zur beliebigen Verfügung. Seine Deutungsmacht erfährt aus dem Text selbst keine Begrenzung, weil dieser seinen Leser nicht zwingen kann, ein bestimmtes Deutungsschema anzulegen. Selbst wenn ein Text von sich behauptet, er sei nicht ironisch gemeint, könnte der Leser doch diese Behauptung wiederum für Ironie ansehen. Der Inhalt des Textes wird also allein durch die interpretativen Muster des Lesers bestimmt. Das Ergebnis ist die Dekonstruktion des Textes, die jede Fixierung von Bedeutung in Texten leugnet.

Die Dekonstruktion von Texten ist eigentlich das Markenzeichen Jacques Derridas. Beim Lesen philosophischer und literarischer Texte hält er geradezu sophistisch nach Marginalien Ausschau, die seine philosophische Pointe untermauem sollen (Holub S. 215). Auch für Derrida wird die Bedeutung eines Textes erst im Zuge seiner Lektüre hergestellt. Er betont besonders die interne Heterogenität von Texten und die Einmaligkeit jeder Lektüre. Derridas Dekonstruktivismus, den man als indirekte Rezeptionstheorie einordnen kann, fand seit Ende der 1960er Jahre besonders in den USA viel Anklang, und zwar auch bei Juristen.

Stanley Fish, wiewohl von Hause aus Literaturwissenschaftler, war simultan auch Law-School-Professor. So lag es nahe, dass er sich als einer der ersten auch für juristische Texte auf die Reader-Response-Theorie berief (ob eigenständig oder in »Iteration« Derridascher Gedanken kann hier dahinstehen; dazu Dellwing 2008). Anfangs hatte Fish durchaus den individuellen Leser gemeint. Wohl unter dem Eindruck der Kritik nahm er seit 1976 die unterschiedlichen Lesestrategien etwa von Literaturwissenschaftlern oder Juristen in den Blick und nutzte dazu einen bereits von Peirce geprägten Begriff, mit dem er auch zum Rechtstheoretiker avancierte, die Interpretationsgemeinschaft. Die Interpretation wird nun also doch dadurch diszipliniert, dass der Interpret einer Gemeinschaft angehört, die mit dem gleichen Deutungsschema an den Text herangeht. Mitglied einer solchen Gemeinschaft wird man, indem man die in ihr verbreiteten Konventionen und Deutungsansätze übernimmt. Das geschieht etwa bei Juristen, indem sie eine »berufliche Initiation oder einen Trainingskurs durchlaufen« (1989, 140). Dann geht Fish noch einen Schritt weiter: Schon bei der Produktion von Texten ist die interpretative Gemeinschaft am Werk. Damit sind wir auch bei Fish zurück beim Vorverständnis, denn was die Interpretationsgemeinschaft konstituiert, ist eben ein geteiltes Vorverständnis.

Es gibt noch eine weitere Parallele zwischen Stanley Fish und Josef Esser. Die gängigen Auslegungsmethoden, so Esser, helfen letztlich nicht, weil die verschiedenen Methoden zu abweichenden Ergebnissen führen können und weil es keine Metamethode gibt, um die maßgebliche Methode festzulegen (o. III). Ähnlich hat Stanley Fish gegen Owen M Fiss eingewandt, dass Interpretationsregeln selbst interpretationsfähig sind. Nach Fiss ist die Rezeption eines Textes durch einen kompetenten Richter weder ganz willkürlich noch völlig mechanisch. Sie verläuft vielmehr auf einem Mittelweg, auf dem die subjektiven wie die objektiven Dimensionen menschlicher Erkenntnis zum tragen kommen. Fiss führt dazu disciplining rules an, die der richterlichen Diskretion Grenzen ziehen und für eine bounded objectivity sorgen. Fish argumentiert dagegen, dass auch solche Regeln Texte darstellen, die interpretiert werden müssen, und daher nicht selbst die Interpretation lenken können. (Owen M. Fiss, Objectivity and Interpretation, Stanford Law Review 34, 1981/82, 739-763; Stanley Fish, Fish v. Fiss, Stanford Law Review 36, 1984, 1325-1347). Diese Kritik von Fish beruht auf einem gängigen Irrtum der Postmoderne; der Annahme nämlich, dass Rekursivität Stabilität ausschießt. Tatsächlich kann man aber auch auf schwankendem Boden ganz gut stehen.

Will man diese Gedanken weiterführen, so bietet sich ein Ausflug in die Wissenssoziologie von Pierre Bourdieu an (Entwurf einer Theorie der Praxis, 1979; Die feinen Unterschiede, 1984). Von Bourdieu kann man erfahren, dass eine gleichförmige Praxis nicht unbedingt aus der gehorsamen Erfüllung von Regeln hervorgeht. Bourdieu findet eine Ursache für Regelmäßigkeiten und abgestimmtes Verhalten vielmehr in einem gruppen- oder klassenspezifischen »Habitus«. In diese Richtung gehen Martin Morlok/Ralf Kölbel, Rechtspraxis und Habitus, RTh 32, 2001, 289.

Bemerkenswert ist die Konvergenz zwischen den theoretischen Überlegungen der literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorien und der sprachphilosophisch informierten Linguistik einer bestimmten Wittgenstein-Tradition (o.Kapitel 1§ 5 Kapitel 1§ 5). Auf letztere stützt sich die Strukturierende Rechtslehre von Müller und Christensen (u. § 81 X), wenn sie den Normtext als ein erst noch vom Rechtsanwender auszufüllendes Textformular begreift.

Eine gewisse Ironie des Reader‑Response Criticism ist nicht zu übersehen. Man kann also durchaus mit den Rezeptionstheorien deutscher oder amerikanischer Provenienz der Ansicht sein, dass es zwischen Sprache und einer immanenten oder transzendenten Wirklichkeit keine feststellbare Beziehung im Sinne einer Referenz gibt, sondern dass alle »Realität« nur im Leseerlebnis zur Geltung kommt. Aber dieses Leseerlebnis ist doch wiederum durch die Zugehörigkeit von Textproduzenten und Rezipienten zu »interpretativen Gemeinschaften«, durch »Erwartungshorizonte« und auch durch Appellstrukturen des Textes selbst so massiv präformiert, dass der Text nicht bedeutungslos ist. Nicht nur sprachliche Strukturen und Sprachkonventionen legen seinen Interpreten gewisse Schranken auf. Vor allem das gemeinsame Vorverständnis der Interpretationsgemeinschaft, die die Autoren und die Rezipienten umschließt, bewirkt eine Stabilisierung von Bedeutung.

Der Schwerpunkt der rechtstheoretischen Bezugnahmen betrifft solche literatur­wissenschaftlichen Theorien, die sich zur Kritik der in der juristischen Methodenlehre etablierten Auslegungsverfahren eignen. Deshalb sei jedenfalls darauf hingewiesen, dass der Literaturwissenschaftler Peter Tepe Textinterpretation als Erfahrungs­wissen­schaft möglich hält (Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich, 2007). Er beschränkt seine Ausführungen zwar streng auf litera­rische Texte. In der Sache besteht aber Übereinstimmung mit der historisch kritischen Auslegung, wie sie als juristische Methode vertraut ist.

IV.   Zum Narrations-Ansatz

Literatur: Shulamit Almog, How Digital Technologies Are Changing the Practice of Law, 2007 (Kapitel 2: Cyberspace, Narrative and Law, S. 75-117); W. Lance Bennett, Storytelling in Criminal Trials: A Model of Social Judgement, The Quarterly Journal of Speech 64, 1978, 1-22; ders., Rhetorical Transformation of Evidence in Criminal Trials: Creating Grounds for Legal Judgement, The Quarterly Journal of Speech 65, 1979, 311-323; W. Lance Bennett/Martha S. Feldman, Reconstructing Reality in the Courtroom, 1981; Robert M. Cover, Nomos and Narrative, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword, Harvard Law Review 97, 1983-84, 4-68; David M. Engel, Origin Myths. Narratives of Authority, Resistance, Disability, and Law, LSR 27, 1993, 785-826; Patricia Ewick/Susan Silbey, Subversive Stories and Hegemonic Tales: Toward a Sociology of Narrative, LSR 29, 1995, 197-226; dies., The Common Place of Law, 1998; Benjamin Fleury-Steiner, Narratives of the Death Sentence: Toward a Theory of Legal Narrativity, LSR 36, 2002, 549-576; Paul Gewirtz, Narrative and Rhetoric in Law, in: Peter Brooks/Paul Gewirtz (Hg.), Law’s Stories, Narrative and Rhetoric in the Law, New Haven; London 1996, 2-13; Bernard S. Jackson Law, Fact and Narrative Coherence, 1988; ders. Making Sense in Law. Linguistic, Psychological and Semiotic Perspectives, 1995; ders., Making Sense in Jurisprudence, 1996; Douglas W. Maynard, Narratives and Narrative Structure in Plea Bargaining, LSR 22, 1988, 449-481; Christian Salmon, »Storytelling«. La machine à fabrique des histoires et à formater les esprits, 2007. Mehr einschlägige Texte als man lesen kann druckt die Zeitschrift »Law and Humanities« (Routledge).

Die Law-and-Literature-Bewegung hat maßgeblich dazu beigetragen, die Bedeutung von Narrativen für das Rechtsgeschehen wahrzunehmen. James Boyd White hat wohl als erster deutlich den Unterschied zwischen Narration und Argumentation formuliert:

»I think a fundamental distinction can be drawn between the mind that tells a story and the mind that gives reasons: one finds its meaning in representations of events as they occur in time, in imagined experience; the other in systematic or theoretical explanations, in the exposition of conceptual order or structure. One is given to narrative, the other to analysis.«

Geschichten aller Art, wenn sie denn gut sind, helfen bei der Legitimation (oder Delegitimation) des Rechts.

»Wahr ist das gut Erzählte« (Titel in der FAZ vom 22. 12. 2012)

»Metaphern und Geschichten sind (leider) viel stärker als Ideen. Außerdem kann man sie leichter behalten und es macht mehr Spaß, sie zu lesen. … Ideen kommen und gehen, Geschichten bleiben bestehen.« (Taleb, Der Schwarze Schwan, S. 13).

Narratologie oder Erzählforschung hat als philologische Methode zum Umgang mit literarischen Texten begonnen. Doch erzählt wird überall, nicht nur in der Literatur, sondern auch und vor allem im Alltag, bei der Begegnung mit Institutionen, also bei Gericht, beim Arzt, in den Medien und sogar in der Wissenschaft. Daher ist die Erzählforschung über den ursprünglichen Gegenstandsbereich hinaus zu einer Methode der Volkskunde, Ethnologie und schließlich auch der Soziologie geworden. Sie geht davon aus, dass »Geschichten«, nämlich verknüpfende Darstellungen von Zustandsveränderungen, ein Grundmuster der Kommunikation bilden, mit dem sich die Menschen in der Welt orientieren und Sinn erzeugen. Aufgabe der Forschung ist es dann, typische Erzählmuster zu beschreiben und der Wirkung bestimmter Erzählungen nachzugehen. Eine beträchtliche Anzahl rechtssoziologischer Arbeiten baut auf die Annahme, dass Menschen den Zugang zum Recht über Narrative finden und dass die Erforschung von Narrativen daher auch einen Zugang zum Rechtsbewusstsein der Menschen eröffnet. Das Recht ist von Erzählungen umgeben, die Institutionen des Rechts gewinnen für den Einzelnen Gestalt, indem sie Teil seiner eigenen Geschichte werden. Narrative konkurrieren mit analytischen Diskursen.

Die Erzählforschung ist nicht bloß ein theoretischer Ansatz zur Analyse des Rechts, sondern auch Grundlage für einen kritischen Aktivismus. Die Vertreter dieses Ansatzes wollen den juristischen Fachdiskurs anreichern, indem sie die Gefühle und Wünsche der Betroffenen durch eine »dichte Beschreibung« einbringen. Erzählforschung soll u. a. dazu dienen, den spezifischen Erfahrungen von Frauen in einer von Männern geprägten Umgebung oder von Farbigen in einer »weißen« Umwelt Gehör zu verschaffen.

Das große Interesse, das die Erzählforschung hat zur Mode werden lassen, war wohl eine Reaktion sowohl auf den abstrakt politisierenden Ansatz der Critical Legal Studies als auch auf den scientistischen Ansatz der Ökonomischen Analyse des Rechts (Gerwitz 1996 S. 13). Und es fügt sich auch in das kulturwissenschaftliche Interesse am Recht.

Wenn Juristen von narrativen Normen reden, meinen sie nur, dass diese Normen keinen Regelungsgehalt mit Rechtsfolgenanordnung haben, sondern lediglich aufzählunen von und Hinweise auf andere Normen geben. Ein Beispiel ist Art. 3 EGBGB (Erik Jayme, Narrative Normen im internationalen Privat-und Verfahrensrecht, 1993).

Mit Almog kann man drei typische Narrative unterscheiden:

  • Gründungsmythen (generative narratives)
  • strukturierende Erzählungen (conceptualising narratives)
  • operative Erzählungen (functional narratives).

Zu 1: Gründungsmythen beschreiben den Übergang von einem vorrechtlichen zum Rechtszustand. Die wichtigsten gehören zur religiösen Überlieferung oder zum klassischen Bestand der Weltliteratur, so die Orestie des Äschylos. Auch biblische Geschichten prägen immer noch das Rechtsverständnis. Die prominenteste ist natürlich die Entgegennahme der zehn Gebote durch Moses auf dem Berg Sinai.

Rechtsphilosophie betont immer wieder, dass das Recht nicht seine eigene Geltung begründen könne (es sei denn, man akzeptierte die hochabstrakte Lösung der autopoietischen Systemtheorie). Derrida (o. § 13IV) fragte, wie man zwischen der Gewalt des Rechts als einer legitimen Macht und originären Gewalt, die diese Macht erst begründet hat, unterscheiden könne, und betonte, dass es Gewalt gewesen sein müsse, die das Recht erst hervorgebracht habe. Aber wortlose Gewalt hätte kaum genügt, einen Rechtszustand zu schaffen. Dazu bedarf es der Überzeugungskraft einer Erzählung, die dem Übergang eine moralische Qualität verleiht.

Wenn Jean-François Lyotard in seiner Studie »Das postmoderne Wissen« (La condition postmoderne, 1979; o. § 13II) das »Ende der großen Erzählungen« verkündete, so sprach er damit nicht nur den traditionellen Geschichten, sondern auch den klassischen philosophischen Systemen ihre Fähigkeit ab, als Legitimation zu dienen. Seither interpretieren kritische Beobachter auch die Basistheorien der Rechtsphilosophie als Narrative. Um die richtige Interpretation des Rechts konkurrieren danach drei große Mythen. Der Entwicklungsmythos erzählt, wie sich das Recht aus vorrechtlichen Sitten und Gebräuchen entwickelt. Diese Geschichte dient der Legitimation des Rechts, indem sie dieses als bloße Fortsetzung vorrechtlicher gesellschaftlicher Ordnung darstellt, und weil sie zugleich eine Geschichte des Fortschritts ist; denn mit der Veränderung der Gesellschaft entwickelt sich auch das Recht weiter. Die zweite Story ist die Geschichte vom Gesellschaftsvertrag, also die Vorstellung, dass der der Staat das Ergebnis einer freien und vernünftigen Entscheidung seiner Bürger bilde. Der postmoderne Gegenmythos beschreibt das Recht als reine Machtkonstellation. Die Ursprünge des Rechts liegen in Vergewaltigung oder Eroberung. Das Motiv der Mächtigen ist ihr Selbstinteresse, und man gehorcht ihnen aus Furcht und Not. Der Vertragsmythos ist aus dieser Sicht eine Fiktion, der Entwicklungsmythos bloße Spekulation. Doch überall findet der Gewaltmythos Beweise dafür, dass das Recht der Gesellschaft aufgezwungen wird, durch Eroberung oder Kolonialisierung oder durch Machtkämpfe zwischen Nord und Süd, Arm und Reich, Weiß und Schwarz, Mann und Frau. Das Ziel kritischer Wissenschaft besteht deshalb darin, alle Beobachtung über das Recht in diesen Gegenmythos einzupassen.

Zu 2: Strukturierende Erzählungen bringen Grundfragen des Rechts ins Bewusstsein, insbesondere den immer wieder aufscheinenden Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit. Auch diese Geschichten haben oft literarische Quellen. Zu den geläufigsten gehören Kafkas »Prozeß« und die Geschichte, die Heinrich von Kleist in seiner 1810 erschienenen Novelle »Michael Kohlhaas« erzählt.

Zu 3: Operative Erzählungen sind solche auf der Mikroebene des Alltags, mit denen Menschen rechtliche Ansprüche erheben oder abwehren. Wer einen Anspruch erheben will, muss einen Gegner definieren, eine Abfolge von Ereignissen darstellen, die ihn selbst als Opfer erscheinen lassen und seiner Forderung einen moralischen Anstrich geben. Wenn man so will, kann man auch Zeugenaussagen, den Vortrag von Anwalt oder Staatsanwalt oder gar die Begründung des Gerichts als – mehr oder weniger abweichende – Erzählung interpretieren. Schon immer gehörte das Storytelling zur Kunst des juristischen Plädoyers. Nun erscheint es in multimedialem Gewand in der Gestalt von Day-in-the-Life- oder Victim-Impact Videos.

Zu den operativen Erzählungen gehören auch die Fallerzählungen der Juristen. Bei der Formierung und Weitergabe juristischen Wissens spielen Fallerzählungen eine große Rolle. Allerdings fehlt den juristischen »Fällen« oft das Fleisch. Die Akteure sind auf bloße Buchstaben reduziert, sie sind alters- und geschlechtslos, sie leben ohne Bindungen und Verbindungen und handeln jenseits von Raum und Zeit. Die Akteure bekommen nur das Mindestmaß an Attributen zugeteilt, auf das es unter dem Aspekt der erläuterten Normen ankommen soll, etwa nach dem Muster: A will B erschießen. Er verwechselt jedoch C mit B. Fälle dieser Art sind wegen ihrer (beabsichtigten) Lebensfremdheit als »Lehrbuchkriminalität«[1] sprichwörtlich. Ihre Aufgabe besteht darin, bestimmte Normkonstellationen zu verdeutlichen, und dazu sind sie unentbehrlich. Neben solchen Fällen, die von vornherein daraufhin konstruiert sind, eine bestimmte Normkonstellation zu demonstrieren, gibt es andere, die etwas gehaltvoller sind, weil sie sog. »Probleme« verdeutlichen sollen, d. h. Fragen, die sich nicht konstruktiv aus der Anwendung einer Norm oder dem Zusammenwirken mehrerer Normen lösen lassen, sondern zu ihrer Beantwortung einer zusätzlichen Wertung bedürfen. Meistens werden solche Fälle der Rechtsprechung entnommen. Häufiger erhalten diese Fälle heute (nach amerikanischem Muster) als solche einen Namen, der sich als – mehr oder weniger anschauliches – Merkwort eignet, z. B. Maastricht I und II, Kruzifix, Caroline von Monaco.

In der Rechtssoziologie glaubte man zeitweise, mit der Entdeckung der Deformation der juristischen Fallerzählungen einen Ansatz zu Kritik vor allem der juristischen Ausbildung gefunden zu haben. Es ist natürlich richtig, dass die »Fälle« nicht das »wahre Leben« widerspiegeln. Aber das haben eigentlich auch Juristen immer gewusst. Das Problem, wenn es denn hier überhaupt eines gibt, liegt darin, wie die Fallstrukturen im Interesse der Anschaulichkeit und des Unterhaltungseffekts ausgeschmückt werden. In der Präsenzveranstaltung werden sie oft in eine drastische Story eingekleidet, oder die Personen erhalten sinnfällige, nicht immer druckfähige Namen. In solchen an sich überflüssigen Zutaten können sich dann Idiosynkrasien des Fallenstellers zeigen. Besonders sexistisch gefärbte Erzählungen waren sehr verbreitet. Das sollte sich inzwischen geändert haben.

Robert M. Cover hat eine Rechtsphilosophie von »Nomos and Narrative« entwickelt. Sie akzeptiert den Unterschied von Argument und Narration, fordert aber, dass die argumentierende Justiz sich auf die Narrative der Gesellschaft einlässt. Das Narrativ ist für Cover freilich kein bloßer Text, sondern gelebte Normativität. Sein zentrales Beispiel ist das jüdische Recht. (Eine ausführliche Darstellung bei Seinecke, das Recht des Rechtspluralismus, 2015, 260-281)

V.      Zum Verständnisansatz

Rechtstheorie und juristische Methodenlehre haben ihre Lektion gelernt. Sie sind bei der Suche nach einem verbindlich an Normtexte fixierten Sinn vorsichtig geworden und nehmen die Juristische Rhetorik (u. § 27II) ernst. Wichtig bleibt die mittelbare Bedeutung von Literatur durch ihren Einfluss auf das Rechtsbewusstsein. Drei Angriffspunkte verdienen Erwähnung:

  • Literatur ist mehr oder weniger vom Gerechtigkeitsmotiv durchdrungen.
  • Das Recht kann die Verschiedenheit und damit die individuelle Identität aller Menschen nur abstrakt postulieren, denn sonst müsste es Inhalte zuteilen und würde damit die Individualität zerstören. Literatur und Kunst machen dagegen die Vorstellung von der Verschiedenheit aller Menschen konkret und lebendig.
  • Das Recht scheitert nicht selten bei der Lösung moralischer Probleme, darf aber sein Scheitern nicht zugeben. Literatur dagegen zeigt, dass tragisches Scheitern unvermeidlich ist.

Eine Sammlung von Abhandlungen über Recht in der Literatur bei Heinrich von Kleist, Calderón de la Barca, Søren Kierkegaard, Walter Scott, Robert Louis Stevenson, Anatole France, John Steinbeck, George Orwell, Jorge Luis Borges, José Saramago und Gabriel Garcia Marquez bietet der Band 4 der Oñati Socio-Legal Series von 2014 [http://opo.iisj.net/index.php/osls/issue/view/35].

Der Verständnisansatz lässt sich leicht auf das Verhältnis von Recht und (bildender) Kunst und sogar auf »Recht und Musik« übertragen. Von dort ist es nicht weit zur Thematisierung von »Recht im Film«. Musik, Film und Fernsehen bilden eine Brücke zwischen Hochkultur und Volkskultur. Seit über 30 Jahren finden die vielen Gerichts- und Anwaltsserien die Aufmerksamkeit der Law-and-Society-Bewegung. Seither hat Law and Popular Culture sich zu einem stattlichen Forschungsgebiet entwickelt.

Stefan Machura, Und die Moral von der Geschicht‘: Rechtspolitische Botschaften in Rechtsfilmen und Fernsehserien, in: Franziska Stuermer/Patrick Meier (Hg.), Recht populär, 2015; Klaus F. Röhl, Law and Popular Culture: Popular Culture als Media Legal Culture, in: Dieter Strempel u. a. (Hg.), Empirische Rechtssoziologie, 2002, 315–323; Richard K. Sherwin, When Law Goes Pop, The Vanishing Line Between Law and Popular Culture, 2002.

So dient die Beschäftigung mit Literatur und Kunst bis zu einem gewissen Grade als Ersatz oder Ergänzung der Rechtsphilosophie

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[1] Nach Herbert Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1973, S. 300-306.