I. Realitätsferne des Postmodernismus
II. Geschlecht als Konstruktion
Literatur: Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, 8. Aufl. 2008 (Le deuxième sexe, 1949); Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991 (Gender Trouble, 1990); dies., Körper von Gewicht, 1995 (Bodies that Matter, 1993); dies., Who’s Afraid of Gender?, 2024; Barbara Duden, Die Frau ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung, Feministische Studien 11/2, 1993, 24-33; Regine Gildemeister/Angelika Wetterer, Wie Geschlechter gemacht werden, in: Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, 1992, 201-254; Carol Hagemann-White, Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren…, in: dies./Maria Rerrich, FrauenMännerBilder, 1988, 224-235; Stefan Hirschauer, Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, ZfSoziologie 43, 2014, 170-191; Adrienne Rich, Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence, Signs 5, 1980, 631-660; Candace West/Don H. Zimmerman, Doing Gender, Gender and Society 1, 1987, 125-151.
Der kulturalistische Konstruktivismus wurde, zunächst in den USA, vom Feminismus und der LGBTI-Community aufgegriffen. Ihnen bot sich die Möglichkeit, die Geschlechterdifferenz als ein bloß soziales Konstrukt und damit als unwirklich und formbar darzustellen, so dass von einem natürlichen Geschlecht wenig oder gar nichts übrig bleibt.
Die »Dekonstruktion« des natürlichen Geschlechts vollzog sich in drei Schritten. Den ersten tat 1949 Simone de Beauvoir, indem sie die Idee entwickelte, dass »die Frau« eine kulturelle Schöpfung sei. Die biologische Differenz ließ Beauvoir gelten. Aber die soziale Rolle der Frau war für sie ein soziales Konstrukt. Das ist heute zur Selbstverständlichkeit geworden.
Da das deutsche Wort »Geschlecht« die Unterscheidung zwischen Biologie und Soziologie nicht erkennen lässt, wurde es üblich, das englische Lehnwort Gender zur Bezeichnung der sozial zugeschriebenen Geschlechtsrolle zu verwenden. Wer von Gender redet, hält aber noch daran fest, dass dem sozialen ein biologisches Geschlecht vorausgeht, das jedoch durch Kultur überformt ist.
Der zweite Schritt entwickelte sich aus dem LGBTI-Phänomen. Seit der Mitte des 20 Jahrhunderts beteiligten sich mehr und mehr Betroffene am wissenschaftlichen Diskurs. Sie konnten darauf verweisen, dass ein gewisser Prozentsatz der Neugeborenen nicht auf ein anatomisches Geschlecht festzulegen ist, dass einige Menschen mit ihrem anatomischen Geschlecht unglücklich sind und dass nicht wenige Menschen gleichgeschlechtliche Präferenzen entwickeln. Soweit diese Tatsachen nicht überhaupt geleugnet wurden, wurden sie lange als »unnatürlich« abgewertet und bekämpft. Daher waren LGBTIs als aus der zweigeschlechtlichen Normalität fallend starken Diskriminierungen ausgesetzt. Auch darüber kann man nicht ernsthaft streiten.
Aus heutiger Sicht waren die berühmten Kinsey-Reports über das sexuelle Verhalten von Mann und Frau, die seit 1948 eine Welle der sexuellen Aufklärung, wenn nicht gar Revolution anstießen, der Versuch eines homosexuellen Wissenschaftlers, Homosexualität als »normal« darzustellen. Aber die LGBTIs sind und bleiben eine Minderheit. Ihr Anteil an der Bevölkerung liegt in einer Größenordnung unter 10%. Wie bei Minderheiten die Regel, verbindet sich mit diesem Status ein großes Diskriminierungspotential.
Wie keine andere Minderheit haben die LGBTIs es jedoch geschafft, als Strategie zur Bekämpfung ihrer Diskriminierung den Minderheitenstatus mit der Queer-Theorie konstruktivistisch weg zu interpretieren. Dazu wurde die Zweigeschlechtlichkeit als natürliches Phänomen in Abrede gestellt und und zu einem hegemonialen sozialen Deutungs- und Ordnungsmuster erklärt (Butler, Rich). Als intellektuelle Waffe gegen die Natürlichkeitsvorstellungen des Publikums dient die so genannte Null-Hypothese, nach der »es keine notwendige, naturhaft vorgeschriebene Zweigeschlechtlichkeit gibt, sondern nur verschiedene kulturelle Konstruktionen von Geschlecht« (Hagemann-White 1988, 230). Das bedeutet also, dass die soziale Identität als Mann oder Frau oder LGBTI nichts mit körperlichen Unterschieden zu tun haben soll, sondern von vornherein und durch und durch kulturell geprägt ist. Als wissenschaftliche Basis dient eine queer-feministische Epistemologie, mit deren Hilfe die Realität von empirischen Normalitäten in Abrede gestellt wird. In der so genannten Essentialismus-Konstruktivismus-Kontroverse wurden große Anstrengungen unternommen, eine Argumentation mit der Natur und Biologie der Geschlechter schon auf wissenschaftstheoretischer Ebene auszuschalten.
Jenni Brichzin/Felix Kronau, Essentialismus revisited?, Leviathan 2024, 168-204; Arne Dekker, Was wurde eigentlich aus… der Essentialismus-Konstruktivismus-Kontroverse?, 2019.
Prominent ist die anti-essentialistische Perspektive durch Judith Butler geworden. Sie stellt die Frage, wie Menschen zu Männern und Frauen werden und antwortet, dass die Unterscheidung zwischen einem biologisch-anatomischen Geschlecht und einem sozialen Geschlecht selbst noch sozial konstruiert sei. Butler sagt von sich,
»daß diese abgehobene Theoretikerin zugesteht, daß zumindest minimale, nach Geschlecht differenzierte Körperteile, Tätigkeiten und Fähigkeiten und hormonelle sowie in den Chromosomen verankerte Unterschiede vorhanden sind, die ohne Bezugnahme auf eine ›Konstruktion‹ eingeräumt werden können.« (Körper von Gewicht, S. 33)
Doch davon bleibt wenig oder gar nichts, denn der kleine materielle Unterschied, das biologische Geschlecht, »ist nie einfach nur eine Funktion materieller Unterschiede, die nicht in irgendeiner Weise von diskursiven Praktiken markiert und geformt wären«. Sie sind »von Anfang an normativ« (S. 21). Es sind
»die regulierenden Normen des ›biologischen Geschlechts‹, die in performativer Wirkungsweise die Materialität der Körper konstitutieren … Die Materie der Körper wird neu gefaßt als die Wirkung einer Machtdynamik, so daß die Materie der Körper nicht zu trennen sein wird von den regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen. … Das ›biologische Geschlecht‹ wird nicht mehr als ein körperlich Gegebenes ausgelegt, dem das Konstrukt des sozialen Geschlechts künstlich auferlegt wird, sondern als eine kulturelle die die Materialisierung von Körpern regiert.« (S. 22f).
Regulierende Norm ist die der »Zwangsheterosexualität« oder, wie Butler sie nennt, die »heterosexuelle Matrix«, die sozial verbreitete und wirksame Vorstellung von der Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit. Dahinter verberge sich, wie hinter jeder Wahrheitsbehauptung, ein Machtanspruch, in diesem Falle die »hegemoniale Heterosexualität«.
Als Beleg für die »Erfindung« der Differenz zwischen den Geschlechtern wird gerne die historische Genese wechselnder unterschiedlicher Beschreibungen der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mann und Frau herangezogen. Als Grundlage dient meistens das Buch von amerikanischen Historikers Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, 1992 [1990]. Ebenso beruft man sich auf Berichte von Ethnologen über die Vorstellungen über Geschlechterunterschiede in vormodernen Gesellschaften. Das ist, als ob man die Perspektivität des kopernikanischen Weltbildes damit begründen wollte, dass bis in die Neuzeit hinein das geozentrische ptolemäische Weltbild Anhänger fand.
Heinz-Jürgen Voß (Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, 2010) nimmt für sich in Anspruch, in seiner bei Rüdiger Lautmann entstandenen Dissertation den Nachweis geführt zu haben, dass die Geschlechterdifferenz kulturell produziert und daher auch änderbar ist, weil die Geschlechterbiologie insofern immer von Vorannahmen ausgegangen sei, dass Geschlecht tatsächlich aber immer erst im Laufe der Zellentwicklung festgelegt werde. Das letztere ist vermutlich richtig, ändert aber nichts daran, dass am Ende der Zellentwicklung eine Differenzierung in zwei Geschlechter steht.
Die radikale Dekonstruktion des biologischen Geschlechts ist ein anerkennenswerter und sogar weitgehend erfolgreicher Versuch, durch Wissenschaft den LGBTIs ihren Minderheitsstatus und die damit vielfach verbundenen Diskriminierungen zu nehmen. Der Wissenschaft leistet es jedoch einen schlechten Dienst. Es gibt Grenzen der Interpretierbarkeit. Auch wenn biologische und psychische Qualitäten und Gesetzmäßigkeiten nicht so eindeutig festgelegt sind wie chemische und physikalische, sind sie doch nicht schlechthin sozial und kulturell verfügbar. Der kulturalistische Konstruktivismus, der die biologischen Geschlechtsunterschiede einebnet, beschädigt das Renommee der Wissenschaft, ohne das Publikum zu überzeugen.
Inzwischen hat sich der politische Wind gedreht. Autoritäre Politik wendet sich gegen die von ihr so genannte Gender Ideologie. Ihr gegenüber gilt es, Minderheiten, die aus der zweigeschlechtlichen Normalität fallen, als selbstverständlich zu akzeptieren und gegen Diskriminierung zu schützen.