Literatur: Raymond Boudon, Beiträge zur allgemeinen Theorie der Rationalität, 2013; Jürgen Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: Theodor W. Adorno/Heinz Maus (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969, 235–266; Susanne Hahn, Rationalität, 2. Aufl. 2017; Max Horkheimer, The End of Reason. ZfSozialforschung 9, 1941, 366-387; Markus Knauff/Wolfgang Spohn (Hg.), The Handbook of Rationality, 2021; Alfred R. Mele/Piers Rawling (Hg.), The Oxford Handbook of Rationality, 2004; Jürgen Mittelstraß, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Bemerkungen zum Rationalitätsbegriff der Wissenschaftstheorie und des Rechts, JöR 61, 2013, 513-524; Jens-Michael Priester, Rationalität und funktionale Analyse, JbRSozRTh 1, 1970, 457-489; Gerhard Preyer/Georg Peter, The Contextualization of Rationality, 2. Aufl. 2014; Nicholas Rescher, Rationalität. Eine philosophische Untersuchung über das Wesen und die Rechtfertigung von Vernunft, 1993 [1988].
I. Zum Verhältnis von Vernunft und Rationalität
Ratio ist das lateinische Wort für Vernunft. Im philosophischen Sprachgebrauch dient Vernunft zur Benennung des menschlichen Denk- und Reflexionsvermögen schlechthin. Seit dem Altertum haben Philosophen die Vernunft gepriesen und von ihr erwartet, dass sie dem Menschen den Weg zur Kenntnis und Ordnung der Welt aufzeigt. Vernunft wird als ganzheitliches Phänomen verstanden. Sie lenkt nicht nur die empirische Wissenschaft, sondern ist als praktische Vernunft auch für Moral und Recht zuständig. Rationalität ist dagegen nur ein Teil der Vernunft. Sie kann, ohne ihr eigenes Revier zu verlassen, das heißt, ohne einen Rückgriff auf wertende Vernunft, nicht zu Entscheidungen gelangen, denn sie scheut vor direkten Werturteilen zurück (nicht aber davor, Werturteile zu ermitteln, zu ordnen und zu kritisieren). In der Folge ist Rationalität relativ, weil sie als Input immer ein »irrationales« Werturteil benötigt. Habermas sprach deshalb von einem »positivistisch halbierten Rationalismus«. Aber er hat die Leistungsfähigkeit eines Rationalismus, der auf direkte Werturteile verzichtet, nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Es gilt nämlich umgekehrt auch: Ohne solche Rationalität ist nur eine halbierte Vernunft zu haben.
Es hat viele Versuche gegeben, den Rationalitätsbegriff zu klären. Sie bleiben unbefriedigend, weil sie zu viel wollen, nämlich theoretische und praktische, subjektive und objektive Rationalität sowie neuere Rationalitätskonzepte (Systemrationalität, kommunikative Rationalität, Eigenrationalität, plurale Rationalität usw.) auf einen Nenner bringen. Für die Rechtswissenschaft ist Rationalität am Ende nicht mehr als ein Bündel von Anforderungen, die in ihrem Zusammenwirken weder Wahrheit noch Gerechtigkeit garantieren, ohne die aber weder die eine noch die andere zu haben ist.
II. Typen rationalen Handelns
Text: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922 (WuG).
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III. Praktische Rationalität als Empfänglichkeit für Gründe
Literatur: Philippa Foot, Die Natur des Guten, 2014 (Natural Goodness, 2001).
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IV. Störungen der Rationalität
1. Rationalwahl und beschränkte Vernunft
Texte von Herbert A. Simon: A Behavioral Model of Rational Choice, The Quarterly Journal of Economics, 69, 1955, 99–118; Rational Choice and the Structure of the Environment, Psychological Review 63, 1956, 129-138; Models of Man: Social and Rational, 1957; Theories of Decision Making in Economics and Behavioral Science, American Economic Review 49, 1959, 253-283; Theories of Decision Making in Economics and Behavioral Science, American Economic Review 49, 1959, 253-283; From Substantive to Procedural Rationality, in: T. J. Kastelein u. a., 25 Years of Economic Theory, 1976, 65–86; Rational Decision Making in Business Organizations, American Economic Review 69, 1979, 493–513; Invariants of Human Behavior, Annual Review of Psychology 41, 1990, 1–20. Sammelbände: Models of Bounded Rationality, Bd. 1: Economic Analysis and Public Policy, 1982; Bd. 2; Behavioral Economics and Business Organization, 1982; Bd. 3: Empirically Grounded Economic Reason, 1997.
Literatur: Ralph Hertwig/Anastasia Kozyreva, Bounded Rationality: A Vision of Rational Choice in the Real World, in: Markus Knauff/Wolfgang Spohn, The Handbook of Rationality, 2021, 505–515.
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2. Heuristiken und kognitive Täuschungen
Literatur: Jörg Berkemann, Die richterliche Entscheidung in psychologischer Sicht, JZ 1971, 537-540 [mit Hinweisen auf ältere Literatur]; Anna Spain Bradley, The Disruptive Neuroscience of Judicial Choice, 2018, SSRN 3263682; Gerd Gigerenzer/Peter M. Todd, Simple Heuristics that Make us Smart, 2001; Daniel Kahneman/Amos Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica 47, 1979, 263-291; dies., Choices, Values, and Frames, 10. Aufl. 2009; Daniel Kahneman, Thinking, Fast and Slow, 2011; Daniel Kahneman/Olivier Sibony/Cass R. Sunstein, Noise, Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können, 2021; Mark Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht, 2005. Eine Flut von Veröffentlichungen hat das DFG-Schwerpunktprogramm 1516 »New Frameworks of Rationality« hervorgebracht.
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3. Rationalität und Emotionalität
Literatur: Susan A. Bandes/Jeremy A. Blumenthal, Emotion and the Law, Annual Review of Law and Social Science 8, 2012, 161-181; Jon Elster, Solomonic Judgements. Studies in the Limitations of Rationality, 1989; ders., Jon Elster, Alchemies of the Mind: Transmutation and Misrepresentation, Legal Theory 1997, 133–176; ders., Explaining Social Behavior, 2. Aufl. 2015, S. 158ff; Renata Grossi, Understanding Law and Emotion, Emotion Review 2015, 55–60; Jennifer S. Lerner u. a., Emotion and Decision Making, Annual Review of Psychology 66, 2015, 799-823; Bertram Lomfeld, Emotio Iuris. Skizzen zu einer psychologisch aufgeklärten Methodenlehre des Rechts, in: Sigrid G. Köhler u. a. (Hg.), Recht fühlen, 2017, 19-32; Terry A. Maroney, Law and Emotion: a Proposed Taxonomy of an Emerging Field, Law and Human Behavior 30, 2006, 119–142; Hans-Rüdiger Pfister u. a., Die Psychologie der Entscheidung, 4. Aufl. 2017, 299ff; Sandra Schnädelbach, Entscheidende Gefühle, Rechtsgefühl und juristische Emotionalität vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik, 2020; Somogy Varga, Interpersonal Judgments, Embodied Reasoning, and Juridical Legitimacy, in: The Oxford Hb of 4E Cognition, 2018, 862–874.
[Als Aufarbeitung der einschlägigen Literatur zu diesem Abschnitt vgl. auf Rsozblog die Reihe Der Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.]
V. Objektivität und Perspektivität
1. Der Objektivitätsanspruch der Jurisprudenz
Literatur: Stina Bergman Blix/Åsa Wettergren, Professional Emotions in Court. A Sociological Perspective, 2018; Anna Spain Bradley, The Disruptive Neuroscience of Judicial Choice, UC Irvine Law Review 9, 2028, 1-52; Andreas Funke, Lässt sich juristische Objektivität auf eine »Allgemeine Rechtslehre« gründen?, ARSP Beiheft 103, 2005, 26-37; Åsa Wettergren/Stina Bergman Blix, Comparing Culturally Embedded Frames of Judicial Dispassion, in: Susan A. Bandes u. a. (Hg.), Research Handbook on Law and Emotion, 2021, 147-164; Lorraine Daston, Die Kultur der Objektivität, in: Michael Hagner (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, 2001, 9-39; Terry A. Maroney, The Persistent Cultural Script of Judicial Dispassion, California Law Review 99, 2011, 629-682; Jürgen Ritsert, Was ist wissenschaftliche Objektivität?, Leviathan 1998, 184–198.
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2. Die Objektivitätskritik des Feminismus
Literatur: Susanne Baer, Objektiv—neutral—gerecht? Feministische Rechtswissenschaft am Beispiel sexueller Diskriminierung im Erwerbsleben, KritV 77, 1994, 154-178; Katharine T. Bartlett, Feminist Legal Methods, Harvard Law Review 103, 1989, 829-888; Florian Bode, Die Objektiiätskritik der Legal Gender Studies, Bucerius Law Journal , 2021, 39-46; Annegret Künzel, Feministische Theorien und Debatten, in: Lena Foljanty/Ulrike Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, 52-73; Eva Kocher, Die Position der Dritten. Objektivität im bürgerlichen Recht, JöR NF 67, 2019, 403-426; dies., Objektivität und gesellschaftliche Positionalität, KJ 54, 2021, 268-283; Karl Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53, 1925, 577-652; ders., , Ideologie und Utopie, 1929 (beides wieder abgedruckt in: ders., Wissenssoziologie, 2. Aufl. 1970); Christa Müller, Parteilichkeit und Betroffenheit, in: Ruth Becker u. a. (Hg.), Hb Frauen- und Geschlechterforschung, 2010, 340-343; Alissa Rubin Gomez, The Feminist-Neutrality Paradox, Dickinson Law Review 101, 2023, 11, = SSRN 4421701.
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3. Macht
Recht ist nicht ohne Macht zu haben. Das ist grundsätzlich kein Problem, solange das Recht von einem demokratisch legitimierten politischen System getragen wird. Dann kommt es allerdings darauf an, dass das Rechtssystem intern so aufgestellt ist, dass es gegen illegitime Macht immun ist. Machtverdacht ist überall, spätestens seit Foucault seine »Mikrophysik der Macht« entwickelt hat. Macht ist nach der berühmten Definition Max Webers »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«. Macht kann daher auf allen denkbaren Einflussmöglichkeiten beruhen. Das Recht ist dagegen auf bestimmte Machmittel beschränkt. In der Rechtstheorie wird die Machtfrage in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Rechtszwangs thematisiert (u. XXX).
VI. Individuelle und »strukturelle« Rationalität
Literatur: Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1980 [1935]; Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität, 2001; Helmut Schelsky, Die juridische Rationalität, in: ders., Die Soziologen und das Recht, 1980, 34-76; Lawrence B. Solum, LTL 007: The Prisoners‘ Dilemma; Patrick Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, 2015.
Vernunft und damit Rationalität erhoffen wir vom Menschen als Individuum. Wir beurteilen daher zunächst individuelle Wahlhandlungen oder Entscheidungen als vernünftig und/oder rational.
Für individuelle Entscheidungen gibt es eine ausgefeilte Entscheidungstheorie. Sie ging ursprünglich von der wirtschaftlichen Entscheidung aus (Gérard Gäfgen, Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, 3. Aufl. 1974), reicht aber heute weit darüber hinaus (Helmut Laux u. a., Entscheidungstheorie, 10. Aufl. 2018).
Auch Max Weber ging für die Konstruktion seiner Rationalitätstypen von Individuen aus, die sich für oder gegen eine Handlung entscheiden. Er übertrug dann die Gesichtspunkte, unter denen er individuelle Handlungen als rational auszeichnete, auf gesellschaftliche Institutionen wie das Recht. Soziologen streiten, ob es möglich ist, mit einem solchen handlungstheoretischen Ansatz gesellschaftliche Phänomene zu erklären.
Individuelle Rationalität funktioniert nach dem Rational-Choice-Modell, in dem der Akteur seine Entscheidung daran orientiert, was er subjektiv als nützlich oder wertvoll betrachtet und mit welcher Aktion er sein Ziel am besten erreichen kann. Der Zweck wird nicht hinterfragt, sondern bleibt der Willkür des Individuums überlassen. Recht und Rechtswissenschaft sollen ihre Entscheidungen an überindividuellen Zwecken und Werten ausrichten, abgekürzt, am Gemeinwohl. Das Gemeinwohl ergibt sich nicht aus einer Addition individueller Zwecke. Die Versuche, individuelle Zwecke auf »rationale« Weise zu kollektiven zu aggregieren, waren bisher erfolglos. Das zeigt sich am Condorcet-Paradox und am Arrow-Theorem (u. §xxx). Mehrheitsentscheidungen sind immerhin ein Notbehelf, der erst im Rahmen einer rechtlichen Verfassung praktisch brauchbar wird.
Überindividuelle Zweckbildung lässt sich durch Kooperation erreichen, bei der subjektiver Nutzen zurückgestellt wird. Das zeigt beispielhaft das berühmte Gefangenendilemma.
A und B haben einen Einbruch in eine Apotheke unternommen und dort größere Mengen Morphium entwendet. Nun sind beide von der Polizei gefasst worden, und die Polizei hat bei ihnen das Morphium gefunden. Man vermutet, dass auch der Einbruch auf ihr Konto geht, hat jedoch keine Beweismittel, es sei denn, einer würde gestehen. Daraus ergibt sich folgende Situation: Beide sitzen beide in Untersuchungshaft und können sich nicht miteinander verständigen. Der Staatsanwalt macht ihnen ein Angebot: Wenn beide gestehen, müssen sie mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen schweren Raubes rechnen. Wenn beide schweigen, so erwartet sie wegen Rauschmittelbesitzes und Hehlerei eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Gesteht jedoch einer, während der andere schweigt, so erhält der Geständige als Kronzeuge nur eine Strafe von sechs Monaten, der andere jedoch die Höchststrafe von zehn Jahren.
Das Dilemma ist folgendes: Wenn beide schweigen (kooperieren), erzielen sie kombiniert die beste Lösung. Eigentlich müssten also beide kooperieren. Dazu müssten die Spieler allerdings Vertrauen zueinander haben. Wenn es an Vertrauen fehlt, so ist die Minimax-Lösung die beste. Das ist die Lösung, die den mit Rücksicht auf die Handlungsmöglichkeiten des anderen größtmöglichen Verlust vermeidet, weil sich der andere mit gleichen Überlegungen ebenfalls gegen Kooperation entscheiden könnte. Sie hat zudem noch den Reiz der Gewinnchance, falls der andere doch schweigen sollte. Verallgemeinert bedeutet das: In vielen Situationen handelt der einzelne rational, wenn er egoistisch handelt.
Eine zentrale Aufgabe von Recht und Rechtswissenschaft besteht darin, für einen Ausweg aus diesem Kooperationsdilemma zu sorgen. Nida-Rümelin hat dafür schon einmal einen Begriff vorgeschlagen. Er spricht von struktureller Rationalität. Diese Substantivierung verbirgt allerdings das Problem. Rationalität steckt nicht in irgendwelchen Strukturen, sondern findet in den Köpfen von Individuen statt. Wenn man dennoch Strukturen als rational bezeichnet, so deshalb, weil sie von Individuen als rational beurteilt werden. Dagegen ist die Rede von der Eigenrationalität von Strukturen irreführend. Rechtswissenschaft wird von Individuen betrieben. Was dabei herauskommt, ist – hoffentlich – in dem von Rümelin gemeinten Sinne rational. Doch jenseits der angestrebten »strukturellen« Rationalität des Rechts entwickeln die Anstrengungen der Vielzahl von Juristenindividuen eine Rechtsstruktur mit nichtintendierten Qualitäten. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Im Hintergrund steht das Mikro-Makro-Problem, das zentrale Problem soziologischer Theorie.
Dazu gibt es aus unserer Sicht nichts Besseres als den Band »Soziologie. Spezielle Grundlagen, Band 1: Situationslogik und Handeln, 3. Aufl. 2002, von Hartmut Esser. Zum Mikro-Makroproblem ferner Georg Kneer, Die Konzeptualisierung »nicht-intendierter Folgen« in der Theorie rationalen Handelns und der Systemtheorie. Ein Vergleich, in: Rainer Greshoff u. a. (Hg.), Die Transintentionalität des Sozialen, 2003, 303–335.
Weil es an einer Formel für den Übergang von individuellen Handlungen zu sozialen Tatbeständen und Strukturen fehlt, entsteht Verwirrung, wenn der Rationalitätsbegriff sowohl auf individuelles Entscheiden als auch für soziale Strukturen verwendet wird.
Niemand ist allein auf der Welt. Wissen(schaft)ssoziologie hat uns darüber belehrt, wie sehr das Wissen im Alltag und in der Wissenschaft sozial geprägt wird. Durch Ludwik Fleck verfügen wir über den Begriff des Denkkollektivs. Erkennen vollzieht sich stets im Denkkollektiv »als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen« (Fleck S. 54). Wer wollte das bestreiten? Und dennoch, nachdenken im wahren Sinne des Wortes muss jeder für sich allein. Das Denkkollektiv prägt einen Denkstil, und darüber sagte Fleck (S. 56f):
»Das Individuum hat nie, oder fast nie das Bewußtsein des kollektiven Denkstils, der fast immer einen unbedingten Zwang auf sein Denken ausübt und gegen den ein Widerspruch einfach undenkbar ist.«
Freilich hat Fleck selbst dazu beigetragen, dass auch Juristen über ihre Einbindung in einen Denkstil reflektieren und sich jedenfalls punktuell davon befreien können.
Klar ist immerhin: Soziale Strukturen bestimmen die situativen Gegebenheiten für individuelles Entscheiden. Sie können individuelle Rationalität stützen oder behindern. Individuelle Rationalität wird behindert, wenn soziale Strukturen Ziele vorgeben und keinen Raum für die Auswahl der Mittel lassen. Wo die Strukturen dagegen auf die Reflexion von Handlungszielen und Mittelauswahl angelegt sind, kann man von strukturgestützter individueller Rationalität sprechen. In diesem Sinne verstehen wir Allgemeine Rechtslehre als strukturelle Stütze individueller Rationalität.
Auf den ersten Blick scheint es, als stünde gerade das positivistisch verstandene Rechtssystem im Widerspruch zu individueller Rationalität, gibt es doch für die meisten der zu treffenden Handlungsziele Zweck und Mittel vor. Hier ist Rekursivität im Spiel. Der Jurist wird zum Rechtswissenschaftler, weil er kraft individueller Reflexion = Rationalität das positive Rechtssystem, das er nicht erfunden, sondern vorgefunden hat, als das beste gegenwärtig verfügbare Mittel ansieht, um die Gesellschaft auf das Gemeinwohl auszurichten. Damit wird die Zweck-Mittelrelation vorübergehend ausgeblendet und durch Wertrationalität = Selbstverpflichtung auf die Grundelemente ersetzt (= Wertrelativität der formalen Rationalität). Diese Selbstverpflichtung ist kein einmaliger Akt, sondern bleibt eine Daueraufgabe. Auf dieser Basis können die individuellen Bemühungen sich darauf konzentrieren, das System mit seinen Ecken und Kanten zu optimieren.
Strukturgestützte Rationalität des Rechtsdenkens gewinnt Gestalt durch die Einbettung von Entscheidungen in Institutionen und Verfahren, welche den dezisionistischen Charakter des individuell subjektiven Werturteils entschärft. Sie wächst in einem arbeitsteilig organisierten Prozess, an dem jeweils mehrere, je für sich selbständige Akteure beteiligt sind; in der Politik Regierung und Opposition, Parteien und Parlamente, in der Justiz Richter und Staatsanwälte, Verteidiger und Sachverständige. Nicht zuletzt die Rechtswissenschaft ist Teil dieser Organisation.
Wie juristische Rationalität zu institutionalisieren ist, ist wiederum ein Rationalitätsproblem, über das laufend zu diskutieren ist. Pauschal lässt sich aber sagen, dass sich dafür die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats eignen. Ein wichtiger Teil sind Verfahren der Entscheidungsfindung, die für Verfahrensrationalität sorgen. Dazu gehören Kollegialgerichte und ein Instanzenzug, die freilich von der Politik ausgedünnt worden sind. Teil des Arrangements ist die institutionelle Verklammerung von Theorie und Praxis im Recht (u. VIII). Verfahren sichern Pluralität und sie entschleunigen den Entscheidungsvorgang. Entschleunigung ist wichtig, weil sie hilft, Emotionen herauszufiltern und langfristige Folgen zu berücksichtigen.
Struktur stützt individuelle Rationalität ferner dadurch, dass konkrete Entscheidungen nicht von einem Nullpunkt her entwickelt werden müssen, sondern auf Vorleistungen aufbauen können, die allerdings immer wieder überprüft und revidiert werden müssen. Objektive Vorleistungen stecken in der Rechtswissenschaft und im positiven Recht. Juristische Ausbildung und Berufserfahrung dienen als subjektive Vorleistungen.
Das alles zusammen ist nicht die »juridische Rationalität« Helmut Schelskys, erst recht nicht Systemrationalität oder Eigenrationalität und schon gar nicht »objektiver Geist«.
»Die juridische Rationalität entsteht dagegen grundsätzlich nicht im Einzelbewusstsein, sondern in einem institutionellen, nach Regeln arbeitsteilig organisierten Prozeß. Sie zielt nicht auf ein Denkprodukt, sondern das Gesetz oder das Urteil wollen ›richtiges Verhalten‹ bei anderen im sozialen Zusammenhang bewirken. Nicht das ›Wahre‹, sondern das im gegenseitigen Handeln in Sozialbeziehungen ›Gewisse‹, das ›Sichere‹, auf das man sich verlassen kann, weil man es selbst als das ›Richtige‹ tut, ist das Wesentliche der juridischen Rationalität.« (Schelsky S. 35)
Aus diesem Zitat passt auf die von uns gemeinte strukturgestützte Rationalität nur der nach Regeln arbeitsteilig organisierte Prozess. Doch anders als Schelsky suchen wir die Rationalität im Einzelbewusstsein. Letzteres bietet für Schelsky nur eine »zweitrangige, Hilfsdienste leistende ›Rationalität‹, die zur juridischen Vernünftigkeit erst in dem Augenblick wird, wo sie unter institutionellem Führungszwang die Ebene der Argumentation abschließend überwindet« (S. 41). Wir sehen die Dinge gerade umgekehrt. Rationalität ist und bleibt individuell. Institutionen und Verfahren, überindividuelle Strukturen also, sind nur Stützen (oder Barrieren) individueller Vernunft. Deshalb ist die weit verbreitete Rede von Systemrationalität und Eigenrationalität verfehlt. Der Systemrationalität fehlt der Handlungsbezug. Der bestimmt aber die Perspektive des Juristen oder Richters, der über rechtliche Gestaltungen zu entscheiden hat. Das ist auch die Perspektive der Allgemeinen Rechtslehre.
VII. »Systemrationalität« und »Eigenrationalität« sind nicht rational.
Literatur: Bernhard Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, 1991; Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, 1984; ders, juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften?, RTh 15 1984, 423-452; ders., Ansätze zu einem Neuen Institutionalismus in der modernen Rechtstheorie der Gegenwart, JZ 1985, 706–714; Gunther Teubner, Verfassungsfragmente, 2012; ders., Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie, in: Stefan Grundmann/Jan Thiessen, Recht und Sozialtheorie im Rechtsvergleich, 2015, 141–164.
Von Schelkys Schüler Krawietz sagt Peters (S. 113), er habe »umstandslos« den Übergang zur »Systemrationalität« vollzogen. Die Systemtheorie hat die Rede von den »Eigenlogiken« oder »Eigenrationalitäten« gesellschaftlicher Teilsysteme salonfähig gemacht. »Systemrationalität« ergibt sich aus dem Zusammenwirken der Elemente, das dem System zu seiner Identität verhilft, sozusagen dem Systemcode bei der Arbeit. Die Benennung als Systemrationalität hat mehrere Bedeutungen, die freilich miteinander zusammenhängen.
»Systemrationalität« soll zunächst hervorheben, dass das System eine selbstverständliche, nicht hintergehbare Perspektive für Selbstreflexion und Weltverständnis bietet. Dahinter stecken oberflächlich die vielen Selbstverständlichkeiten, das implizite Wissen, das den Alltag bestimmt. Dahinter stecken ferner die Hintergrundtheorien, von denen in § 1 VI die Rede war, und dahinter steckt letztlich die von Karl Mannheim so genannte Seinsverbundenheit des Denkens (o. V). Dass die aus alledem resultierende Perspektivität des Denkens nicht hintergehbar sei, ist aber schlicht unzutreffend, denn indem man die »Systemrationalität« beobachtet, hat man sie schon hintergangen.
Sodann ist gemeint, dass Systeme bestimmten Sachzwängen oder funktionalen Imperativen gehorchen und/oder, dass sie eine relative Autonomie besitzen. Wo zwei Systeme aufeinandertreffen, ist dann von Rationalitätenkonflikten die Rede: Die Wirtschaft arbeitet nach einer anderen »Logik« als die Politik; Religion und Wissenschaft können sich schwer verstehen; der Arbeitsmarkt fordert den räumlich und zeitlich mobilen Arbeitnehmer (Arbeitsmarktlogik), der den Anforderungen einer Familie (Familienlogik) kaum genügen kann, usw. Solche »Rationalitäten« liegen auf der Makroebene gesellschaftlicher Strukturen. Sie haben fraglos Einfluss auf individuelles Handeln, erscheinen aus individueller Sicht aber oft geradezu als irrational. Tatsächlich handelt es sich nicht um Rationalitätenkonflikte, sondern um Zielkonflikte. Zielkonflikte ergeben sich daraus, dass die unterschiedlichen Systeme jeweils unterschiedliche situative Gegebenheiten für individuelles Handeln schaffen. Solche Gegebenheiten führen dann zu einer Eigendynamik, die als Autonomie bezeichnet wird. Der Autonomiebegriff ist hier ebenso missverständlich wie der Rationalitätsbegriff, weil er primär auf individuelle Selbstbestimmung hindeutet.
Wir wehren uns deshalb gegen die Rede von Rationalitäten Plural. Rationalität, wie wir sie verstehen, ist immer und überall dieselbe. Verfehlt ist daher ein Rationalitätspluralismus, wie ihn Lomfeld und Wielsch für die Rechtstheorie adoptiert haben:
»Pluralism is the very idea of modern society. At a fundamental level this applies to the transformation of the concept of reason. Modernity rejects the traditional notion of a substantial reason that is directed at understanding a pregiven order and a teleologically determined world. Instead, reason thought of as procedural, as a capacity to create a meaningful world by using specific methods, arguments, and theories. For better or worse, what counts as reasonable is decided by each field of human endeavor according to its own standards. Reason becomes plural.« (The Public Dimension of Contract, Law and Contemporary Problems 76, 2013, H. 2, 1.)
Darin steckt eine Ebenenvertauschung, die durch die Verwendung der mehrdeutigen Vokabel reason verdeckt wird. Was dort reason genannt wird, sind die Werte, über die qua Rationalität reflektiert wird.
Unvermeidlich stößt man auch auf die Eigenlogik oder Eigenrationalität des Rechtssystems. Bei Amstutz etwa lesen wir, die
»Eigenlogik des Rechtsystems markiert nun gerade die äußerste Grenze der Variabilität seiner Normen.« (Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 184).
Neben die »Eigenlogik« der Systeme tritt ihre Eigennormativität. Dabei handelt es sich nur um einen Unterfall von Systemrationalität, nämlich darum, dass das System Situationen formt, die bestimmte Handlungsweisen nahelegen. Früher hätte man vielleicht von der Natur der Sache gesprochen.
Schwierig ist insbesondere Gunther Teubners Umgang mit dem Rationalitätsbegriff, billigt er doch jedem gesellschaftlichen Funktionssystem eine »Eigenrationalität« und »Eigennormativität«, ein »Eigenrecht« oder eine »Eigenverfassung« zu (2012 S. 58). Zu Unrecht beruft Teubner sich auf Max Weber (2015, S.160). Dessen vier Rationalitäten sind bloße Formen.
Von Teubner erfahren wir, dass die Globalisierung sich »polyzentrisch« entwickelt; es entsteht eine Vielzahl von transnationalen Rechtsregimen, die den »Eigenlogiken« der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme folgen, die sich als solche zu Weltsystemen entwickelt haben. Teubners Fragestellung ist sicher höchst relevant. Er fragt nämlich, ob und wie die Grundrechte, die im staatlichen Rechtssystem kodifiziert sind, sich in den transnationalen Funktionssystemen der Gesellschaft behaupten können oder umgekehrt, wie sich das Rechtssystem gegen die »Eigennormativität« des politischen, des ökonomischen oder des Wissenschaftssystems wehren und dabei zugleich der Pluralität der »Eigenrationalitäten« gesellschaftlicher Teilsysteme Rechnung tragen kann. Wenn dafür aber auch »Selbstbeschreibungen«, »Eigenlogiken«, »Selbstbegrenzung« und »Sebstkonstituierung« abgestellt, in der Fußnote auch noch Durkheim angeführt und das ganze Verfassungsfrage thematisiert wird (2012 S. 40 und passim), wird der Sprung von der Makro- zur Mikroebene unterschlagen und die Makroebene gesellschaftlicher Phänomene analog zur Mikroebene behandelt. Was Teubner dann zu dem »komplizierten Übersetzungsprozeß« ausführt, mit dem das Recht »dogmatischen Mehrwert« kreieren soll, liest sich als metaphorische Analyse der Werturteilsbildung.
Von der Eigenrationalität des Rechtssystems ist bei anderen Autoren auch in kritischer Absicht die Rede. »Juristische Rationalität« wird zu einer kollektiven Professionsüberzeugung, oder – mit einem Begriff Bourdieus – zu einer feldspezifischen illusio degradiert.
»Bourdieu identifiziert als Illusio des juristischen Feldes dessen Glauben, Rechtsordnung, Rechtslehre, Rechtsanwendung und Rechtsprechung seien gerade nicht arbiträr, sondern folgten einer abstrakten Ordnung und höheren Logik, die Rationalität und Universalität sicherstellen.« (Anja Böning, ZDRW 1, 2014, 195-211, S. 204)
In der Kritik fallen zwei Gesichtspunkte ineinander. Was hier mit Hilfe Bourdieus als illusio angesprochen wird, entspricht dem, was Max Weber die formale Rationalität des Rechts genannt hatte. Davon hat sich die Rechtstheorie längst verabschiedet. Und in der Rechtspraxis ist man ohnehin zynisch. Der andere Gesichtspunkt betrifft die Strategien, mit denen das Rechtssystem seine Funktionen erfüllt. Dazu gehört insbesondere immer wieder die Isolierung von »Fällen« aus ihrem lebensweltlichen und sozialen Kontext mit dem Ziel, sie entscheidbar zu machen. Das wird dann zur Eigenlogik oder Eigenrationalität des Rechts stilisiert. Auch darüber wird rechtsintern reflektiert. Deshalb kann die Jurisprudenz heute für sich in Anspruch nehmen kann, die illusio durchschaut zu haben. Eine durchschaute Illusion ist keine mehr.
Bourdieu ist fraglos bedeutend, nicht nur, weil er weltweit häufiger zitiert wird als Luhmann. Seine besondere Anziehungskraft beruht nicht zuletzt darauf, dass seine Konzepte so wunderbar unscharf sind, dass sie sich als universell verwendbar erweisen. Es kommt hinzu, dass er für die Mehrzahl seiner Begriffe Metaphern nutzt, die in der Sache unbegründete und überflüssige Konnotationen tragen, an denen kritische Geister sich gerne aufrichten. Das gilt insbesondere für die Begriffe symbolische Gewalt, Illusio und Hypokrisie. So ist hypocrisie oder in der Übersetzung Heuchelei die Leitmetapher seines kurzen Textes über die Juristen (Les juristes, gardiens de l’hypocrisie collective, in: François Chazel/Jacques Commaille (Hg.), Normes juridiques et régulation sociale, Bd. 1, 1991, 95-99). Streicht man diese Metapher und ihren Bezugnahmen heraus, so rennt der Text mit seinen prägnanten Formulierungen in Rechtssoziologie und Rechtstheorie offene Türen ein. Dort formuliert man die Differenz zwischen dem juridischen Spiel auf dem Feld des Rechts und anderen Feldern der Gesellschaft durch die Unterscheidung von Teilnehmer- und Beobachtertheorien. Hypokrisie oder Heuchelei bringen die Konnotation bewusster Verstellung mit sich, und die ist einfach nur infam.
Die Phänomene, die mit Begriffen wie Systemrationalität, Eigenlogik oder Eigennormativität beschrieben werden sollen, sind als solche nicht zu leugnen. Aber sie haben nichts mit Rationalität oder Logik oder gültigen Rechtsnormen zu tun. Vielmehr handelt sich hier um die Eigendynamik, die als Rekursivitätsphänomen überall zu beobachten ist.
Dazu kann auf Rechtssoziologie-online § 71 über »Komplexität, Eigendynamik und Selbstorganisation« verwiesen werden.
Es geht uns nicht um eine Kritik der soziologischen Systemtheorie. Diese beschreibt mit ihren Begriffen erfolgreich die Eigendynamik der Gesellschaft. Es geht allein darum, dass die sozialwissenschaftlich geprägten Begriffe wie Eigenrationalität, Eigenlogik oder Eigennormativität wohl in der Rechtssoziologie, nicht aber in der Rechtstheorie ihren Platz haben. Nur Individuen werden von Normen und Systemzwängen in einer Weise angesprochen, die zu rechtlich relevanten Handlungen führt. Juristen müssen entscheiden oder Entscheidungen vorschlagen. Dabei denken, fühlen und handeln sie als Individuen. Als Individuen können sie nicht nur über Systemzwänge, sondern auch darüber reflektieren, dass sie selbst Teil eines oder mehrerer Systeme sind.
Sinnvoll bleibt die Situationslogik als Begriff der soziologischen Handlungstheorie. Gemeint ist, dass Situationen stets nur beschränkte Handlungsmöglichkeiten bieten, andererseits aber auch Aufforderungscharakter haben. Bei Glatteis kann man nur langsam oder gar nicht mit dem Auto fahren. Eine Parkbank lädt zum Sitzen ein.
VIII. Verbindung von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis
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