Literatur: Roland Hagenbüchle/Paul Geyer (Hg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, 2. Aufl, 2002; Douglas R. Hofstadter, Metamagicum, 1991; Wolfgang Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik, 1957; Lawrence B. Solum, LTL: Issue-Level and Metga-Level; Peter Suber, The Paradox of Self-Amendment, 1990; Gerhard Vollmer, Paradoxien und Antinomien, Naturwissenschaften 1990, 49–66; Alfred N. Whitehead/Bertrand Russell, Principia Mathematica, 2. Aufl. Bd. I, 1927, Neudruck 1968.
I. Semantische Antinomien
Zwei Sätze mit Aussagen, von denen nur eine zutreffen kann, bilden einen Widerspruch oder eine Kontradiktion. Wenn der Staatsanwalt behauptet, der Angeklagte habe seine Frau aus dem Fenster gestürzt, und wenn der Angeklagte erwidert, die Frau sei selbst aus dem Fenster gesprungen, dann sind wir davon überzeugt, dass sich, jedenfalls im Prinzip, die Wahrheit der einen Aussage und damit die Falschheit der Gegenbehauptung erweisen lässt (Postulat der Widerspruchsfreiheit). Damit hätte sich der Widerspruch aufgelöst. Wenn im Prozess der Kläger geltend macht, der Beklagte sei zum Schadensersatz verpflichtet, und der Beklagte eine solche Verpflichtung verneint, dann stellen die Parteien kontradiktorische Rechtsgeltungsbehauptungen auf, von denen letztlich nur eine zutreffen kann. Dagegen sprechen wir von einer Paradoxie oder Antinomie, wenn zwei einander widersprechende Sätze aufgestellt werden, die sich anscheinend beide beweisen lassen.
Juristen erzählen als Beispiel einer Antinomie die Anekdote von Protagoras, dem Sophisten, und seinem Schüler Euathlos.
Protagoras erteilte Euathlos Unterricht, weil dieser später als Anwalt auftreten wollte. Zu Beginn zahlte Euathlos eine Hälfte des erheblichen Honorars, und es wurde vereinbart, dass die zweite Hälfte fällig sein sollte, wenn Euathlos seinen ersten Fall vor Gericht gewonnen hätte. Euathlos verzichtete aber darauf, als Rechtsanwalt tätig zu werden. Protagoras, besorgt um sein Ansehen ebenso wie um sein Honorar, entschloss sich zu klagen. Vor Gericht argumentierte er: »Wenn Euathlos meint, er brauche nicht zu zahlen, so irrt er. Siegt Euathlos vor Gericht, so muss er zahlen, weil er seinen ersten Prozess gewonnen hat. Wenn er den Prozess aber verliert, dann muss er mich bezahlen, weil das Gericht es so sagt. Da Euathlos den Prozess entweder gewinnen oder verlieren wird, muss er in jedem Falle zahlen.« Euathlos war ein guter Schüler. Daher erwiderte er: »Protagoras meint, dass ich das Honorar bezahlen müsse. Aber das ist ganz ausgeschlossen. Angenommen nämlich, er gewinnt diesen Prozess. Dann habe ich meinen ersten Prozess verloren, und entsprechend unserer Vereinbarung brauche ich nicht zu zahlen. Angenommen aber, er verliert diesen Prozess, dann bestätigt mir ja das Gericht, dass ich nicht zu zahlen brauche. Da Protagoras entweder gewinnt oder verliert, bin ich in keinem Falle etwas schuldig.«
Wenn wir Protagoras und Euathlos für Menschen ohne Hintergedanken hielten, dann würden wir den zwischen ihnen geschlossenen Vertrag so auslegen, dass mit dem Prozess, von dem die Zahlung des Honorars abhängen sollte, nicht der Prozess über den Honoraranspruch gemeint war. Da Protagoras und Euathlos aber Sophisten waren, denen alles zuzutrauen ist, müssen wir es auch für möglich halten, dass jeder insgeheim von vornherein die Mehrdeutigkeit des Vertrages in Kauf genommen hat, in der Hoffnung, am Ende die ihm günstige Interpretation durchsetzen zu können. Dann wäre der Vertrag wegen »Perplexität« nichtig. Technisch formuliert: hier wird der Identitätsgrundsatz verletzt. In der Anekdote steht der Name des Euathlos einmal für seine Rolle als Schüler und ein anderes Mal für die Rolle der Prozesspartei (Suber Kap. 20 A).
Logiker bevorzugen die Paradoxie vom lügenden Kreter. Wenn ein Kreter behauptet, dass alle Kreter lügen, lügen dann wirklich alle Kreter oder nur der eine, der eben gesprochen hat? Bekannt ist diese Paradoxie auch als Antinomie des Epimenides. Epimenides lässt Eubulides, den Kreter, nur den einen Satz sagen: »Ich lüge jetzt!« Lügt Eubulides nun oder sagt er die Wahrheit?
Seit dem Altertum hat man sich mit den semantischen Antinomien der Sophisten erfolglos herumgeschlagen, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Mathematiker Bertrand Russell und Alfred N. Whitehead ihre Theorie logischer Typen formulierten, mit der es endlich gelang, das Problem, wenn auch nicht zu lösen, so doch zu erklären. Heute zieht man es meistens vor, das zugrunde liegende logische Phänomen mit Hilfe der Sprachstufentheorie zu beschreiben, die auf den polnischen Mathematiker Alfred Tarski zurückgeht. Diese Theorie stellt aber, soweit sie hier interessiert, nur eine andere Formulierung der Theorie der logischen Typen von Russell und Whitehead dar.