§ 11 Rationalität als starke Tochter der Vernunft

Literatur: Raymond Boudon, Beiträge zur allgemeinen Theorie der Rationalität, 2013; Jürgen Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: Theodor W. Adorno/Heinz Maus (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969, 235–266; Susanne Hahn, Rationalität, 2. Aufl. 2017; Max Horkheimer, The End of Reason. ZfSozialforschung 9, 1941, 366-387; Markus Knauff/Wolfgang Spohn (Hg.), The Handbook of Rationality, 2021; Alfred R. Mele/Piers Rawling (Hg.), The Oxford Handbook of Rationality, 2004; Jürgen Mittelstraß, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Bemerkungen zum Rationalitätsbegriff der Wissenschaftstheorie und des Rechts, JöR 61, 2013, 513-524; Jens-Michael Priester, Rationalität und funktionale Analyse, JbRSozRTh 1, 1970, 457-489; Gerhard Preyer/Georg Peter, The Contextualization of Rationality, 2. Aufl. 2014; Nicholas Rescher, Rationalität. Eine philosophische Untersuchung über das Wesen und die Rechtfertigung von Vernunft, 1993 [1988].

I. Zum Verhältnis von Vernunft und Rationalität

Ratio ist das lateinische Wort für Vernunft. Im philosophischen Sprachgebrauch dient Vernunft zur Benennung des menschlichen Denk- und Reflexionsvermögen schlechthin. Seit dem Altertum haben Philosophen die Vernunft gepriesen und von ihr erwartet, dass sie dem Menschen den Weg zur Kenntnis und Ordnung der Welt aufzeigt. Vernunft wird als ganzheitliches Phänomen verstanden. Sie lenkt nicht nur die empirische Wissenschaft, sondern ist als praktische Vernunft auch für Moral und Recht zuständig. Rationalität ist dagegen nur ein Teil der Vernunft. Sie kann, ohne ihr eigenes Revier zu verlassen, das heißt, ohne einen Rückgriff auf wertende Vernunft, nicht zu Entscheidungen gelangen, denn sie scheut vor direkten Werturteilen zurück (nicht aber davor, Werturteile zu ermitteln, zu ordnen und zu kritisieren). In der Folge ist Rationalität relativ, weil sie als Input immer ein »irrationales« Werturteil benötigt. Habermas sprach deshalb von einem »positivistisch halbierten Rationalismus«. Aber er hat die Leistungsfähigkeit eines Rationalismus, der auf direkte Werturteile verzichtet, nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Es gilt nämlich umgekehrt auch: Ohne solche Rationalität ist nur eine halbierte Vernunft zu haben.

Es hat viele Versuche gegeben, den Rationalitätsbegriff zu klären. Sie bleiben unbefriedigend, weil sie zu viel wollen, nämlich theoretische und praktische, subjektive und objektive Rationalität sowie neuere Rationalitätskonzepte (Systemrationalität, kommunikative Rationalität, Eigenrationalität, plurale Rationalität usw.) auf einen Nenner bringen. Für die Rechtswissenschaft ist Rationalität am Ende nicht mehr als ein Bündel von Anforderungen, die in ihrem Zusammenwirken weder Wahrheit noch Gerechtigkeit garantieren, ohne die aber weder die eine noch die andere zu haben ist.

II. Typen rationalen Handelns

Text: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922 (WuG).

III. Praktische Rationalität als Empfänglichkeit für Gründe

Literatur: Philippa Foot, Die Natur des Guten, 2014 (Natural Goodness, 2001).

IV. Störungen der Rationalität

1. Rationalwahl und beschränkte Vernunft

Texte von Herbert A. Simon: A Behavioral Model of Rational Choice, The Quarterly Journal of Economics, 69, 1955, 99–118; Rational Choice and the Structure of the Environment, Psychological Review 63, 1956, 129-138; Models of Man: Social and Rational, 1957; Theories of Decision Making in Economics and Behavioral Science, American Economic Review 49, 1959, 253-283; Theories of Decision Making in Economics and Behavioral Science, American Economic Review 49, 1959, 253-283; From Substantive to Procedural Rationality, in: T. J. Kastelein u. a., 25 Years of Economic Theory, 1976, 65–86; Rational Decision Making in Business Organizations, American Economic Review 69, 1979, 493–513; Invariants of Human Behavior, Annual Review of Psychology 41, 1990, 1–20. Sammelbände: Models of Bounded Rationality, Bd. 1: Economic Analysis and Public Policy, 1982; Bd. 2; Behavioral Economics and Business Organization, 1982; Bd. 3: Empirically Grounded Economic Reason, 1997.

Literatur: Ralph Hertwig/Anastasia Kozyreva, Bounded Rationality: A Vision of Rational Choice in the Real World, in: Markus Knauff/Wolfgang Spohn, The Handbook of Rationality, 2021, 505–515.

2. Heuristiken und kognitive Täuschungen

Literatur: Jörg Berkemann, Die richterliche Entscheidung in psychologischer Sicht, JZ 1971, 537-540 [mit Hinweisen auf ältere Literatur]; Anna Spain Bradley, The Disruptive Neuroscience of Judicial Choice, 2018, SSRN 3263682; Gerd Gigerenzer/Peter M. Todd, Simple Heuristics that Make us Smart, 2001; Daniel Kahneman/Amos Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica 47, 1979, 263-291; dies., Choices, Values, and Frames, 10. Aufl. 2009; Daniel Kahneman, Thinking, Fast and Slow, 2011; Daniel Kahneman/Olivier Sibony/Cass R. Sunstein, Noise, Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können, 2021; Mark Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht, 2005. Eine Flut von Veröffentlichungen hat das DFG-Schwerpunktprogramm 1516 »New Frameworks of Rationality« hervorgebracht.

3. Rationalität und Emotionalität

Literatur: Susan A. Bandes/Jeremy A. Blumenthal, Emotion and the Law, Annual Review of Law and Social Science 8, 2012, 161-181; Jon Elster, Solomonic Judgements. Studies in the Limitations of Rationality, 1989; ders., Jon Elster, Alchemies of the Mind: Transmutation and Misrepresentation, Legal Theory 1997, 133–176; ders., Explaining Social Behavior, 2. Aufl. 2015, S. 158ff; Renata Grossi, Understanding Law and Emotion, Emotion Review 2015, 55–60; Jennifer S. Lerner u. a., Emotion and Decision Making, Annual Review of Psychology 66, 2015, 799-823; Bertram Lomfeld, Emotio Iuris. Skizzen zu einer psychologisch aufgeklärten Methodenlehre des Rechts, in: Sigrid G. Köhler u. a. (Hg.), Recht fühlen, 2017, 19-32; Terry A. Maroney, Law and Emotion: a Proposed Taxonomy of an Emerging Field, Law and Human Behavior 30, 2006, 119–142; Hans-Rüdiger Pfister u. a., Die Psychologie der Entscheidung, 4. Aufl. 2017, 299ff; Sandra Schnädelbach, Entscheidende Gefühle, Rechtsgefühl und juristische Emotionalität vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik, 2020; Somogy Varga, Interpersonal Judgments, Embodied Reasoning, and Juridical Legitimacy, in: The Oxford Hb of 4E Cognition, 2018, 862–874.

[Als Aufarbeitung der einschlägigen Literatur zu diesem Abschnitt vgl. auf Rsozblog die Reihe Der Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.]

V. Objektivität und Perspektivität

1. Der Objektivitätsanspruch der Jurisprudenz

Literatur: Stina Bergman Blix/Åsa Wettergren, Professional Emotions in Court. A Sociological Perspective, 2018; Anna Spain Bradley, The Disruptive Neuroscience of Judicial Choice, UC Irvine Law Review 9, 2028, 1-52; Andreas Funke, Lässt sich juristische Objektivität auf eine »Allgemeine Rechtslehre« gründen?, ARSP Beiheft 103, 2005, 26-37; Åsa Wettergren/Stina Bergman Blix, Comparing Culturally Embedded Frames of Judicial Dispassion, in: Susan A. Bandes u. a. (Hg.), Research Handbook on Law and Emotion, 2021, 147-164; Lorraine Daston, Die Kultur der Objektivität, in: Michael Hagner (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, 2001, 9-39; Terry A. Maroney, The Persistent Cultural Script of Judicial Dispassion, California Law Review 99, 2011, 629-682; Jürgen Ritsert, Was ist wissenschaftliche Objektivität?, Leviathan 1998, 184–198.

2. Die Objektivitätskritik des Feminismus

Literatur: Susanne Baer, Objektiv—neutral—gerecht? Feministische Rechtswissenschaft am Beispiel sexueller Diskriminierung im Erwerbsleben, KritV 77, 1994, 154-178; Katharine T. Bartlett, Feminist Legal Methods, Harvard Law Review 103, 1989, 829-888; Florian Bode, Die Objektiiätskritik der Legal Gender Studies, Bucerius Law Journal , 2021, 39-46; Annegret Künzel, Feministische Theorien und Debatten, in: Lena Foljanty/Ulrike Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, 52-73; Eva Kocher, Die Position der Dritten. Objektivität im bürgerlichen Recht, JöR NF 67, 2019, 403-426; dies., Objektivität und gesellschaftliche Positionalität, KJ 54, 2021, 268-283; Karl Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53, 1925, 577-652; ders., , Ideologie und Utopie, 1929 (beides wieder abgedruckt in: ders., Wissenssoziologie, 2. Aufl. 1970); Christa Müller, Parteilichkeit und Betroffenheit, in: Ruth Becker u. a. (Hg.), Hb Frauen- und Geschlechterforschung, 2010, 340-343; Alissa Rubin Gomez, The Feminist-Neutrality Paradox, Dickinson Law Review 101, 2023, 11, = SSRN 4421701.

3. Macht

Recht ist nicht ohne Macht zu haben. Das ist grundsätzlich kein Problem, solange das Recht von einem demokratisch legitimierten politischen System getragen wird. Dann kommt es allerdings darauf an, dass das Rechtssystem intern so aufgestellt ist, dass es gegen illegitime Macht immun ist. Machtverdacht ist überall, spätestens seit Foucault seine »Mikrophysik der Macht« entwickelt hat. Macht ist nach der berühmten Definition Max Webers »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«. Macht kann daher auf allen denkbaren Einflussmöglichkeiten beruhen. Das Recht ist dagegen auf bestimmte Machmittel beschränkt. In der Rechtstheorie wird die Machtfrage in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Rechtszwangs thematisiert (u. XXX).

VI. Individuelle und »strukturelle« Rationalität

Literatur: Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität, 2001; Helmut Schelsky, Die juridische Rationalität, in: ders., Die Soziologen und das Recht, 1980, 34-76; Patrick Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, 2015.

VII.        »Systemrationalität« und »Eigenrationalität« sind nicht rational.

Literatur: Bernhard Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, 1991; Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, 1984; ders, juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften?, RTh 15 1984, 423-452; ders., Ansätze zu einem Neuen Institutionalismus in der modernen Rechtstheorie der Gegenwart, JZ 1985, 706–714.