§ 118 »Falsche« Auslegung als Verfassungsverstoß

I. Verstoß gegen »spezifisches« Verfassungsrecht

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II. Verfassungsverschleiß

Literatur: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen: zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, 1990; Ernst Forsthoff, Der Staat in der Industriegesellschaft, 2. Aufl. 1971; Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999; Stefan Lenz, Das Elfes-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1957, RW 7, 2016, 149-176; Bodo Pieroth, Der Wert der Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG, AöR 115, 1990, 33-44; Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003; Eberhard Schmidt-Aßmann, Grundrechtswirkungen im Verwaltungsrecht, FS Redeker, 1993, 225; Fritz Werner, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, DVBl. 1959, 527-533; Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, 401-409.

Wenn ich mein Auto nicht parken darf, wo ich möchte, wenn ich meinen Kamin nur zu bestimmten Stunden heizen darf, wenn ich verpflichtet werde, mich impfen zu lassen oder Steuern zu zahlen, stets wird mindestens die allgemeine Handlungsfreiheit eingeschränkt. Dazu bedarf es eines Gesetzes, das wiederum an den verfassungsrechtlichen Schranken-Schranken, zumeist am Verhältnismäßigkeitsprinzip, gemessen wird. Damit lässt sich für jede Trivialität die Verfassung bemühen. Um die Vorstellung zu kritisieren, dass das gesamte Recht nichts anderes als eine Konkretisierung der Verfassung bildet, sprach Forsthoff (S. 144) von der »Verfassung als juristische(m) Weltenei, aus dem alles hervorgeht vom Strafgesetzbuch bis zum Gesetz über die Herstellung von Fieberthermometern«.

Aus einer studentischen Examenshausarbeit: Eine Behörde erlässt einen Gebührenbescheid. Der Widerspruch des Gebührenschuldners bleibt erfolglos. Um die Klagebefugnis zu begründen, bemüht der Bearbeiter Art. 2 I GG; denn wer zahlen müsse, werde in seiner Handlungsfreiheit betroffen. Das ist natürlich nicht falsch, zeigt aber fehlendes Augenmaß. Eine Klagebefugnis lässt sich auch ohne Hilfe der Verfassung begründen. Der Kläger bestreitet hier eine konkrete Zahlungsverpflichtung. Eine Verpflichtung ist die Kehrseite eines subjektiven Rechts. Wer mit Rechtspflichten belegt wird, ist ebenso in seinen Rechten betroffen, wie ein anderer, dem ein positives Recht genommen wird. Das genau besagt die Adressatentheorie (o. § 47 V). Doch der Student befindet sich in guter Gesellschaft. Der BGH bemüht Art. 1 und 2 GG, um herauszufinden, dass Polizeibeamte außerhalb des Dienstes als Privatleute nicht die gleichen Pflichten haben wie während des Dienstes (BGHSt 38, 388/391). Das BVerwG mag dem Eigentümer oder Besitzer eines Briefkastens nur mit Hilfe der Verfassung die Befugnis zugestehen, die unerwünschte Zusendung von Werbematerial zu untersagen (BVerwGE 82, 29). Der BFH strapaziert die Menschenwürde (Art. 1 GG), das Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG) und das Grundrecht der Informationsfreiheit (Art. 5 I 1 GG), um die Unpfändbarkeit eines Farbfernsehers nach § 811 Nr. 1 ZPO zu begründen (dazu kritisch Lüke/Beck, JuS 1994, 22). Ronellenfitsch (DAR 1992, 321/322) hat die Frage aufgeworfen, ob im Hinblick auf Art. 2 I GG das Verlassen der Autobahn »über verkehrssichere freie, aber nicht als Ausfahrten gekennzeichnete (vgl. § 18 XI StVO) Flächen überhaupt verboten werden kann« – und sich damit den Spott eines Journalisten zugezogen (»Off Road«, FAZ v. 10.11.1992, S. 33).

Werden alle Probleme auf die Verfassung abgeladen, geht das Gefühl dafür verloren, welche Probleme wirklich wichtig sind und deshalb den Schutz der Verfassung verdienen. Die Verfassung wird überanstrengt. Darunter leiden sowohl die Rechtsanwendung als auch die rechtlich nicht greifbaren, deshalb aber nicht weniger wichtigen symbolischen Funktionen der Verfassung (Wahl).

Das Bundesverfassungsgericht selbst hat das Tor zur Verfassung weit geöffnet, indem es der allgemeinen Handlungsfreiheit über Art. 2 I GG Grundrechtsschutz zubilligt.

»Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.« (BVerfGE 6, 32/41 – Elfes)

Der Verfassungsrichter Grimm hat in einem Sondervotum die daraus folgende »Banalisierung der Grundrechte« beklagt (E 80, 137/164). Das Gericht musste sich etwa damit befassen, ob das Taubenfüttern in öffentlichen Anlagen oder das Reiten auf privaten Wegen im Walde verboten werden darf (E 54, 143; E 80, 137). Grimm hält der Auslegung von Art. 2 I GG als Auffanggrundrecht die »Persönlichkeitskerntheorie« entgegen, die in Art. 2 I GG in engerer Anlehnung an den Wortlaut ein spezifiziertes Grundrecht erblickt, das nur bestimmte, rechtlich anerkannte Erscheinungsformen der Persönlichkeitsentfaltung schützt. Er weist jedoch auch darauf hin, dass die Bedeutung von Art. 2 I 1 GG als Auffanggrundrecht eigentlich nur auf verfahrensrechtlichem Gebiet liege, denn wenn die allgemeine Handlungsfreiheit Grundrechtsschutz genieße, könne jede Einschränkung mit der Individualbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG verfolgt werden.

Eine engere Auslegung des Art. 2 I GG änderte nichts an der Verfassungsabhängigkeit allen Rechts. Auch ohne Grundrechtsschutz bedürfte jede Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit einer verfassungsfesten Rechtsgrundlage. Daher kann nach Art. 100 GG jede freiheitsbeschränkende Norm durch Richtervorlage vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden mit der Folge, dass sie dann in vollem Umfang, also unter Einschluss der Staatszielbestimmungen, der übrigen Grundrechte sowie sämtlicher Kompetenz- und Verfahrensvorschriften, an der Verfassung gemessen werden muss. Allerdings hat dieser verfahrensrechtliche Aspekt insofern erhebliche praktische Bedeutung, als die Fachgerichte eher geneigt sind, die Selbständigkeit des Gesetzesrechts zu achten und daher seltener als betroffene Individuen das Verfassungsgericht anrufen.

Zumal die Menschenwürde wird entwürdigt, wenn sie ubiquitär für alles was man besser machen könnte und vielleicht auch müsste, in Anspruch genommen wird. In diesem Sinne hatte Günter Dürig (in: Maunz/Dürig, GG, 1958, Art. 1 Rn. 16), kommentiert:

»Wie man aber Art. 1 I im Privatrecht auch realisiert, eines ist wichtig: Art. 1 I ist keine ›kleine Münze‹, – etwa im Sinne eines erweiterten Ehrenschutzes oder einer Abwehr von Geschmacklosigkeiten. Genau so schlimm wie seine Nichtbeachtung wäre seine ›Abnutzung‹.«

Eine gängige Zeitdiagnose beklagt eine Moralisierung der Politik, die als Endstufe Verrechtlichung fordert.

»[Dadurch] wird der Vollzugsmodus des Politischen verändert, weil entsprechende Gestaltungsfragen nicht mehr als eine Auseinandersetzung über Interessen, sondern als Disput über gute und schlechte Standpunkte, letztlich über Haltungen geführt wird. Die Moralisierung der Politik hat über den Würdebegriff und den universellen Menschenrechtsschutz eine direkte Verknüpfung zum Recht.« (Frank Schorkopf, Staat und Diversität, 2017, S. 54).

Die Abgrenzung von Verfassung und einfachem Recht hängt letztlich an der Frage, wie die Verfassungsabhängigkeit des einfachen Rechts zu verstehen ist. Versteht man das einfache Recht als bloße Konkretisierung der Verfassung, so gibt es in der Tat keine Möglichkeit, den Rückgriff auf die Verfassung zu vermeiden. In diesem Sinne wird heute der prinzipientheoretischen Deutung der Grundrechte vorgeworfen, sie erweise sich als »Konstitutionalisierungsfalle« (Poscher, S. 69 ff.). In dieser Deutung enthalte die Verfassung – so Böckenförde (S. 188/190) – in den auf Optimierung angelegten Prinzipien »die Rechtsordnung insgesamt«; der demokratische Prozess verliere seine Bedeutung, es vollziehe sich der Übergang vom parlamentarischen Verfassungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat.

Eine Allgemeine Rechtslehre, die sich auf die Stufenbautheorie gründet, kann die Verfassung nur als Rahmenordnung ansehen.  Die Stufenbautheorie (o. § 36 IIxxx) besagt, dass alles einfache Recht zwar seine Geltung, nicht aber seinen Inhalt, aus der Verfassung ableitet. Zur Stufenbautheorie gehört auch die Lehre vom Anwendungsvorrang der im Stufenbau niedrigeren Norm. Grundsätzlich darf die Rechtsanwendung nicht auf der Ebene der ranghöheren Norm ansetzen, wenn für den konkreten Fall eine Regel auf einer niedrigeren Stufe vorhanden ist. Die rangniedrigere Norm entfaltet eine Sperrwirkung mit der Folge, dass die höhere Norm nur als Maßstab für die Rechtmäßigkeit der niedrigeren herangezogen werden kann. Aus dieser Sicht führt die Rede von der Konkretisierung der Verfassung durch das einfache Recht in die Irre. Einfaches Recht ist konkreter als die Verfassung, aber es lässt sich in seinem konkreten Gehalt doch nicht aus der Verfassung selbst, sondern nur durch Entscheidung gewinnen.

Im Baurecht taucht immer wieder die Frage auf, ob sich ein Nachbar gegen eine Baubewilligung auf Art. 14 I GG berufen kann oder ob allein das BBauG, insbesondere dessen §§ 30ff, maßgeblich sind. Das BVerwG (E 101, 364/373) meint, Nachbarschutz bestehe grundsätzlich nur, soweit ihn der Gesetzgeber auch normiert habe. Es muss zwar die Frage erlaubt bleiben, ob die Normierung des BBauG gegen Art. 14 GG verstößt. Aber dann kann das erkennende Gericht nicht einfach eine Vorschrift des BBauG verwerfen, sondern muss sie dem BVerfG vorlegen. Die Gerichte haben ihren Spielraum dadurch erweitert, dass sie zur Anwendung des BBauG mit dem baurechtliche »Gebot der Rücksichtnahme« eine Generalklausel entwickelt haben.

Doch damit sind die praktischen Probleme nicht gelöst. Helfen kann nur jenes Augenmaß, das sich allein durch ein intensives Studium des geltenden Rechts und seiner Einbettung in Geschichte und Gesellschaft und nicht ganz ohne Lebenserfahrung erwerben lässt. Die Verfassung darf nicht unter Wert verschlissen werden. Wir sollten das Grundgesetz für die wirklich wichtigen Probleme reservieren, indem wir das einfache Recht zu seinem Recht kommen lassen.