§ 109 Soziologische Jurisprudenz

I. Richtungen soziologischer Jurisprudenz

Die interdisziplinäre Ausrichtung der juristischen Methode auf die Sozialwissenschaften im weitesten Sinne trägt traditionell den Namen soziologische Jurisprudenz. Sie tritt mit dem Anspruch auf, soziologisches Wissen für die Rechtsgewinnung de lege lata nutzbar zu machen. Ihre Geschichte reicht bis vor den Ersten Weltkrieg zurück. Die erste Absicht war, die Jurisprudenz an die Lebenswirklichkeit heranzuführen. Dazu wollte man die Lebenserfahrung der Juristen durch eine wissenschaftlich gewonnene Kenntnis von der sie umgebenden Gesellschaft ersetzen oder jedenfalls korrigieren. Herausgestellt wurde die Unbestimmtheit des Rechts und damit die Offenheit des juristischen Urteils, um als Konsequenz einen größeren Spielraum für die Gerichte zu reklamieren. Schon zwischen den Weltkriegen, vor allem aber seit den 1960er Jahren wurde soziologische Jurisprudenz zu einem kritisch-politischen Unternehmen. Aktuell gibt es einen neuen Anlauf, unter dem Titel Soziologischer Jurisprudenz Interdisziplinarität in die Rechtswissenschaft einzubringen.

Soziologische Jurisprudenz verfügt über keine konsolidierte Theorie und ebenso wenig über eine ausgearbeitete Methode. Aber es zeichnen sich zwei Richtungen ab. Eine eher pluralistische Richtung steht in der Tradition von Leon Petrazycky und Eugen Ehrlich und sei deshalb hier als die Bukowina-Richtung bezeichnet. Die andere Richtung zu einer responsiven Rechtswissenschaft haben ursprünglich Nonet und Selznick gewiesen. Beide Richtungen stützen sich heute auf das faszinierende Werk von Gunther Teubner.

Soziologische Jurisprudenz darf nicht mit sozialer Jurisprudenz verwechselt werden, und doch geht beides weithin miteinander einher. Das hat seinen Grund darin, dass die Forderung nach Interdisziplinarität ihren wohl stärksten Antrieb aus der Rechtskritik (o. § 107 IV) erfährt. Man darf wohl sagen: Soziologische Jurisprudenz hat eine soziale Agenda: Mobilisierung von Recht zugunsten diskriminierter und unterprivilegierter Gruppen und diffuser Interessen.

II. Die soziologische Jurisprudenz Gunther Teubners

Texte von Gunther Teubner: Den Schleier des Vertrags zerreißen? Zur rechtlichen Verantwortung ökonomisch »effizienter« Vertragsnetzwerke, KritV 76, 1993, 367-393; Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in Vergleichender Perspektive, ARSP 1982, 13-59; Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe. Folgenorientiertes Argumentieren in rechtsvergleichender Sicht, 1995; Netzwerk als Vertragsverbund. Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004; Digitale Rechtssubjekte? Zum privatrechtlichen Status autonomer Softwareagenten, AcP 218, 2018, 155-205 (ähnlich in Ancilla Iuris 2018, 35-78); Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie, in: Stefan Grundmann/Jan Thiessen (Hg.), Recht und Sozialtheorie 2015, 141-164.

Literatur: Philipp Sahm, Methode und (Zivil-)Recht bei Gunther Teubner (geb. 1944), in: Joachim Rückert/Ralf Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. 2017, S. 447-470 (erweiterte Fassung = Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2017, SSRN 2284145); Lars Viellechner (Hg.), Verfassung ohne Staat. Gunther Teubners Verständnis von Recht und Gesellschaft, 2019.

III.  Alte und neue Bukowina

Literatur: Uwe Blaurock u. a. (Hg.), Das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft. Zum Gedenken an Hans Großmann- Doerth (1894 – 1944), 2005; Hans Grossmann-Doerth, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft und staatliches Recht, 1933; Eugen Ehrlich, Das lebende Recht der Völker der Bukowina Fragebogen für das Seminar für Lebendes Recht mit Einleitung, 1912, abgedruckt in Ehrlich, Recht und Leben, 1967, S. 55-60; Karl-Heinz Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000; Adrian Vermeule, The Invisible Hand in Legal Theory, SSRN 2009, 1483846; Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007.

I. Responsives Recht als soziologische Jurisprudenz

Literatur: Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie – Theoriegeschichte in systematischer Absicht, 2023; Michael Grünberger, Verträge über digitale Güter, AcP 218, 2018, 213-296; ders., Responsive Rechtsdogmatik – Eine Skizze. Erwiderung auf Karl Riesenhuber, AcP 219, 2019, 924-942; Michael Grünberger/André Reinelt, Konfliktlinien im Nichtdiskriminierungsrecht. Das Rechtsdurchsetzungsregime aus Sicht soziologischer Jurisprudenz, 2020; Karl Riesenhuber, Neue Methode und Dogmatik eines Rechts der Digitalisierung? – Zu Grünbergers »responsiver Rechtsdogmatik«, AcP 219, 2019, 892-923.

[Auf Rsozblog: Soziologische Jurisprudenz, ein Fall für Hautarzt und Psychiater?]