§ 106 Interdisziplinarität als Problem

Literatur: Christian Boulanger u. .a. (Hg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung, 2019; Eric Hilgendorf, Interdisziplinarität, in: Hb Rechtsphilosophie, 2017, 441-446; Lorenz Kähler, Die asymmetrische Interdisziplinarität der Rechtswissenschaft, in: Markus Rehberg (Hg.), Der Erkenntniswert von Rechtswissenschaft für andere Disziplinen, 2017, 105-151; Julie Thompson Klein, Interdisciplinarity. History, Theory, and Practice, 1993; dies., Crossing Boundaries. Knowledge, Disciplinarities, and Interdisciplinarities, 1996; Stephan Kirste (Hg.), Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften, 2016; Hans-Harald Müller, Was war eigentlich Interdisziplinarität – und was ist aus ihr geworden?, in: Marcel Lepper/Hans-Harald Müller (Hg.), Interdisziplinarität und Disziplinenkonfiguration: Germanistik 1780-1920, 2018, 9-19; Wolfgang Naucke, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, 1972 (Nachdruck 1995); Hans Christian Röhl, Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode durch Internationalität und Interdisziplinarität, VVDStRL 74, 2015, 5-37; Klaus F. Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, 1974.

Wissenschaftsrat: Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen, 2012 (in JZ 2013 Heft 14 = S. 696ff Stellungnahmen von Stefan Grundmann, Thomas Gutmann, Christian Hillgruber, Stephan Lorenz, Stephan Rixen und Michael Stolleis); Wissenschaft im Spannungsfeld von Disziplinarität und Interdisziplinarität, Positionspapier 2020.

I. Überblick

In diesem Kapitel wird explizit über Interdisziplinarität geredet. Daraus könnte leicht der Eindruck entstehen, dass damit die Möglichkeiten interdisziplinärer Arbeit für die Rechtswissenschaft erschöpft wären. Der Eindruck wäre verfehlt, denn es gibt kaum einen Abschnitt in diesem Buch, der nicht auf Wissensbestände aus anderen Disziplinen zurückgreift. Schon das 1. Kapitel stützt sich auf Linguistik und Medientheorie. Im 2. Kapitel wird die außerhalb der Jurisprudenz entwickelte Wissenschaftstheorie herangezogen. Auch im weiteren Verlauf bleibt keine Wahl, als immer wieder mit anderen Disziplinen zu diskutieren. Explizit geschieht das in § 17 über »Recht und Literatur«, in § 18 über die »Ästhetik des Rechts«, in § 19 über »Juristische Logik« und in § 49 über den »Feministischen Gerechtigkeitsdiskurs«. Von dem letztgenannten Abschnitt abgesehen betrifft die Interdisziplinarität allerdings nur die Formen und Medien juristischen Denkens. In der Einleitung war metaphorisch vom Betriebssystem der Rechtswissenschaft die Rede. Dieses Kapitel konzentriert sich dagegen auf Interdisziplinarität für das operative Geschäft der Jurisprudenz, bei dem es darum geht, welchen Inhalt Rechtsnormen haben könnten und sollten.

Allgemein gilt die Rechtssoziologie als Basis juristischer Interdisziplinarität. In der Rechtstheorie greift man im Zusammenhang mit der Diskussion um Interdisziplinarität immer wieder auf drei Theorieansätze zurück, nämlich auf die Systemtheorie, die Netzwerktheorie und die ökonomische Analyse des Rechts (ÖAR). In diesem Buch fehlt der Platz, um diese Ansätze jedenfalls kurz zu referieren, wie es in der Vorauflage mit der Systemtheorie geschah. Wollten wir auch nur die Systemtheorie an dieser Stelle behandeln, müsste die alte Darstellung um Abschnitte zur Selbstregulierung, Komplexität und Evolution erweitert werden. Wir verweisen deshalb auf separate Texte, die im Internet zugänglich sind:

Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie-online Kapitel 13: § 69 Der systemtheoretische Ansatz und § 70 Das Recht als autopoietisches System.

ders.,»Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt«, in: Aarnio Aulis u. a. (Hg.), Positivität, Normativität und Institutionalität des Rechts, Festschrift für Werner Krawietz zum 80. Geburtstag, Berlin 2013, S. 537-565

II. Der Interdisziplinaritätsimperativ

»Alle reden von Interdisziplinarität, aber keiner tut es« (Veronika Fuest, UNIVERSITASonline 2004).

Jedenfalls passen sich alle an, denn sie stehen unter dem Diktat der für die Wissenschaftsorganisation und Finanzierung zuständigen Instanzen, die bei Mittelanträgen, Akkreditierungen oder Evaluationen im Wissenschaftssystem Interdisziplinarität als Kriterium verwenden, vermutlich auch, weil dieses Kriterium einfacher zu handhaben ist als Qualität in der Sache.

Es gibt gute Gründe für die Forderung nach Interdisziplinarität. Wissenschaft hat sich in einer langen Geschichte in Disziplinen organisiert. Den Anfang machte die mittelalterliche Universität mit ihren vier Fakultäten, den Artes Liberales, Recht, Theologie und Medizin. Seit dem 18. Jahrhundert ist die Zahl der Disziplinen gewachsen. Im 20. Jahrhundert häuften sich die Spezialisierungen. Einen Eindruck von der Fülle der Fächer vermittelt die »Fachsystematik der Deutschen Forschungs­gemeinschaft«. Die historisch verfestigten Disziplinen, so die Befürchtung, hindern die Wissenschaft daran, die Probleme der modernen Welt zu verstehen, denn die Probleme halten sich nicht an Fächergrenzen. Vielmehr hängt in der Welt vieles mit vielem (aber nicht alles mit allem) zusammen.

In Deutschland startete die Diskussion um Interdisziplinarität in den Dekaden der Universitätsneugründungen nach 1960. In Bochum wurden alle 17 Fakultäten auf einem Campus angesiedelt in der Hoffnung, die räumliche Nähe werde zu sachlicher Kooperation führen. Ähnlich wurden die Universitäten in Bielefeld – hier unter der Ägide von Helmut Schelsky – und in Konstanz – dort mit Ralf Dahrendorf als Vordenker – daraufhin geplant, die Disziplinen zur Zusammenarbeit anzuhalten. Ein Erbe aus dieser Zeit ist das Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld.

Von Anfang an war und ist Interdisziplinarität in erster Linie ein Problem der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Die MINT-Fächer haben damit weniger Schwierigkeiten, weil sie mit einem einheitlichen Wissenschaftsverständnis zur Sache gehen. Die inzwischen auch bei uns so genannten Humanities dagegen kämpfen und konkurrieren vorab um ihr Wissenschaftsverständnis. Die außerhalb der Rechtswissen­schaft gewachsene postmoderne Epistemologie hat disziplinübergeordnete Vorstellungen von Rationalität oder gar Objektivität und Wahrheit durch Perspektivis­mus ersetzt. Die Konsequenz ist aber kein toleranter und kooperativer Multiperspekti­vismus, sondern ein Konkurrenzkampf um die Durchsetzung der eigenen, für überlegen angesehenen Perspektive.

Wie keine andere Disziplin sieht sich die Rechtswissenschaft der Forderung nach Interdisziplinarität ausgesetzt. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu den Herausforderungen der rechtswissenschaftlichen Forschung von 2012 gingen von der Vorstellung einer abgekapselten Jurisprudenz aus, wenn sie »die Öffnung der Rechtswissenschaft in das Wissenschaftssystem« für notwendig hielten. Andere Disziplinen blieben von einem so massiven Öffnungsimperativ verschont.

In dem Positionspapier des Wissenschaftsrats von 2020 haben sich die Akzente verschoben. »Das Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität [sei] neu zu betrachten und dabei auch die Funktionen der Disziplinen genauer zu bewerten.« Besondere Aufmerksamkeit erhalten interdisziplinäre Studiengänge. Das »Ein-Fach-Studium« der Rechtswissenschaft wird als solches genannt, aber nicht abgewertet.

Die Aufforderung zur Interdisziplinarität hat viel damit zu tun, dass die Rechtswissenschaft in der Außenansicht auf Rechtsdogmatik reduziert wird. Der Angriffs­punkt ist letztlich das Werturteilsproblem, das sich nicht ausräumen, sondern nur einhegen lässt. Deshalb erstreckt sich die Forderung an die Jurisprudenz praktisch vor allem auf die Einbeziehung der so genannten Nachbarwissenschaften, die alle gemeinsam haben, dass sie sich in irgendeiner Weise mit Normen, Werten oder Wertungen befassen. Nachbarschaft ist ein zweiseitiges Verhältnis. Doch gewöhnlich sprechen nur die Juristen von Nachbarwissenschaften. Nachbar­wissen­schaften in diesem Sinne sind mehr oder weniger alle Geistes- und Gesellschafts­wissenschaften. Sie alle könnten für die Einhegung des Werturteilsproblems hilfreich sein, solange sie das Problem als solches akzeptieren.

Wenn und soweit Fremddisziplinen ihre eigenen Wertungen mitbringen, kann man sagen: Interdisziplinarität ist politisch. Soziologie wird angetrieben von dem Phäno­men sozialer Ungleichheit. Die Bekämpfung von Ungleichheit ist ein zentraler Wert auch für Recht und die Rechtswissenschaft. Die Frage, welche Ungleichheiten es zu bekämp­fen gilt und mit welchen Mitteln das geschehen soll, steht dann allerdings schnell im Streit.

Die prononcierte Interdisziplinarität innerhalb juristischer und sozialwissenschaftlicher Fakultäten war lange typisch mit einem Linksdrall verbunden (David M. Trubek, Looking Back and to the Left: From the Bremen Conference to the Present, German Law Journal 12, 2011, 28-33). Mit anderen Worten: Interdisziplinarität unterliegt einem »Concept Creep to the Left« (Jonathan Haidt, Why Concepts Creep to the Left, Psychological Inquiry 27, 2016, 40-45; jetzt auch Cass R. Sunstein, The Power of the Normal, 2018, SSRN 3239204).

Oft wird die Forderung nach Interdisziplinarität von sozialen Bewegungen vorgetragen, die darüber Einfluss auf die Rechtsentwicklung nehmen wollen. Die Forderung ist dann nicht selten selektiv, das heißt, Interdisziplinarität ist nur gefragt, wenn sie den Zielen der Bewegung dient. Das ist deutlich bei den Gender Studies, die sich von Anthropologie, Psychologie und Biologie verabschiedet haben. Auch Sprachwissenschaft ist nicht erwünscht, wenn sprachliches Gendering verhandelt wird. Man redet hegemonial über (hegemoniale) Wissensbestände, soziale Praktiken und Narrative, ohne auf die Substanz der »ontologisierenden« Fächer einzugehen. Auch die Rechtswissenschaft ist nur passiv beteiligt. Interdisziplinarität wird zur Einbahnstraße (Kähler).

So viel Dezisionismus muss sein: Das Werturteilsproblem zu akzeptieren heißt zu akzeptieren, dass die Festlegungen, die in einer pluralistischen Gesellschaft zu treffen sind, wenn die Politik insoweit keine Klarheit schafft und wenn sie darüber hinaus argumentativ offen bleiben, in letzter Instanz qua Zuständigkeit entschieden werden. Diese Zuständigkeit liegt in der Gesellschaft, in der wir leben, im Rechtssystem. Zwar werden die Wertungen, um die es geht, auch von Theologen, Philosophen und Soziologen durchdekliniert. Aber wenn es an die juristische Entscheidung geht, sind die Fremddisziplinen nur mittelbar beteiligt, ähnlich wie die politischen Parteien und sozialen Bewegungen in der Politik. Was immer sie der Jurisprudenz anbieten, bleibt unverbindlich. Anders formuliert: Alles Fremdwissen muss seinen Weg durch das Nadelöhr eines im Rechtssystem getroffenen Werturteils nehmen. Das wollen die Fremddisziplinen nicht akzeptieren. Sie wollen näher an das Recht heran, im Extremfall, indem sie sich an seine Stelle setzen. Hinter den Abgrenzungsstreitigkeiten steht, wenn man so will, ein Machtkampf (der Disziplinen).

III. Recht im Kontext

Literatur: Daniel L. Feldman, Should Judges Justify Recourse to Broader Contexts When Interpreting Statutes?, International Journal for the Semiotics of Law = Revue internationale de semiotique juridique 34, 2021, 377-388; Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009; Ulrich Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext Bd. I, 3. Aufl. 2017; Rüdiger Lautmann, Soziologie und Rechtswissenschaft, in: Dieter Grimm (Hg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaft Bd. 1, 1973, 35-48; Friedrich Müller, Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, ARSP 56, 1970, 493-509.

Kontext und Abstraktion

Die Anfänge der Rechtssoziologie waren von einem Pathos der Lebensnähe und des Wirklichkeitsbezugs getragen. Interdisziplinarität sollte mittelbar über ein besseres »Verständnis« auf das Recht Einfluss nehmen. Dieses, wenn man so will, hermeneutische Unternehmen konkurrierte alsbald mit anderen Ansätzen, die wir im nächsten Abschnitt als Modelle der Interdisziplinarität aufzählen werden. Die Formel Law in Context führt wieder zum Verständnisansatz zurück:

» ›Kontext‹ ist der zentrale Brückenbegriff des Denkens über ›Verfassung‹ zu anderen Kulturwissenschaften hin, insbesondere zu Philosophie und Ethik, Religion und Pädagogik, aber auch zu Politikwissenschaften, Ökonomie und Ökologie, so fragmentarisch der Brückenschlag bleibt. Kontext meint: ›Verständnis durch Hinzudenken‹.« (Häberle S. 11)

»Kontext« ist eine andere Vokabel für »Zusammenhang«, die im Sprach­zusammenhang ihren Ursprung hat und von da her einen Siegeszug als Metapher angetreten hat. Die Kontextformel als Interdisziplinaritätsforderung stellt in Frage, was eigentlich durch Recht fraglos gestellt werden soll, nämlich die Unabhängigkeit genereller Regeln von ihrem gesellschaftlichen Hintergrund ebenso wie von den Umständen des Einzelfalls. Regelbildung bedeutet Abstraktion und damit Dekontextualisierung. Die Forderung, Recht im Kontext zu betrachten, kehrt diesen Vorgang um. Für die Rechtspolitik ist solche Umkehrung selbstverständlich. Auch die Rechtsanwendung kommt nicht ohne Rücksicht auf den Kontext aus, denn Regeln müssen ausgelegt werden, und Auslegung ist immer kontextabhängig. Aber was heißt das? Klar ist nur, dass Auslegung stets aus dem sprachlichen Kontext und gelegentlich aus dem Systemzusammenhang schöpft. Dahinter öffnet sich als »Kontext« die weite Welt.

Seit 1970 erscheint bei Cambridge University Press die Buchreihe »Law in Context«. Auf der Verlagsseite heißt es dazu: »The series is a vehicle for the publication of innovative monographs and texts that treat law and legal phenomena critically in their cultural, social, political, technological, environmental and economic contexts. A contextual approach involves treating legal subjects broadly, using materials from other humanities and social sciences, and from any other discipline that helps to explain the operation in practice of the particular legal field or legal phenomena under investigation.« Ein Blick in die Liste der inzwischen 96 Titel zeigt die Konturenlosigkeit des Kontextbegriffs. Sanne Taekema/Jeanne Gaakeer/Marc Loth nutzen »Recht in context« als Titel ihrer 2020 in 6. Aufl. erschienenen Einführung in die Rechtswissenschaft.

Der Kontext ist grenzenlos, wenn man ihn nicht, wie Ulrich Haltern, spezifiziert. Haltern will für ein »vertieftes Verständnis« insbesondere das Europarecht »mit seiner Gemengelage von Interessen und Einflüssen, die reiner Rationalität zuwiderlaufen«, dessen Entwicklung »in ihrem historischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontext nachzeichnen«. Daraus sollen sich »drei Kreise der rechtswissenschaftlichen Arbeit« ergeben. Den inneren Kreis bildet die Rechtsdogmatik. Im zweiten Kreis steht das law in action, das heißt, die Wirkungen und Wirkungsbedingen des Rechts, die es interdisziplinär aufzuhellen gilt. Ein dritter äußerer Kreis beleuchtet das Recht als kulturelles Phänomen und Symbol. Diesen Kreis will Haltern allerdings »nur im Ausnahmefall« betreten. Doch obwohl Haltern, jedenfalls in Deutschland, der Kontextformel wie kein anderer verbunden ist, hat die Formel sich verselbständigt.

Die Kontextformel lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass die Jurisprudenz schon mit dem Eintritt in die semantische Interpretation und vor einer explizit sozialtechnologischen Zweck-Mittel-Betrachtung unvermeidlich mit Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit arbeitet. Der Gesetzgeber hatte Vorstellungen über die gesellschaftlichen Zustände, die er mit seinen Gesetzen beeinflussen wollte. Jede einzelne Norm trifft auf einen Ausschnitt aus der Realität, oder, in der Ausdrucksweise von Friedrich Müller, auf den Normbereich.

Müller und seine Schule verbinden mit diesem Begriff freilich mehr, nämlich eine Überwindung der Trennung von »Recht« und »Wirklichkeit«, denn Ausschnitte der Wirklichkeit seien jeweils Bestandteile der Rechtsnormen. Diesen Anspruch lösen sie nicht ein. Der Begriff bleibt aber für die Interpretation von Normen hilfreich. Der Normbereich ist enger als der gesamtgesellschaftliche Kontext, aber doch weiter als der Normtatbestand.

Es geht um Kenntnisse über den Regelungsbereich des Rechts, über die Arbeitswelt, über familiale Beziehungen, Wohnverhältnisse, Lebensverhältnisse von Immigranten und Asylanten, Techniken und Technologien, über moderne Medien und Umweltprobleme und nicht zuletzt über Kriminalität und Wirtschaft. Die Liste lässt sich leicht verlängern. Wissen über die Wirklichkeit ist für die Rechtsgewinnung mehr oder weniger überall relevant. Insofern ist Auslegung immer kontextabhängig. Aber diese pauschale Aussage hilft nicht weiter. Der Wissenshorizont ist unendlich. Es fällt nicht schwer, Weltwissen und Alltagstheorien der Juristen zu kritisieren. In jedem Einzelfall lässt sich das Wissen der an der Rechtsgewinnung beteiligten Juristen als defizitär behaupten. Das ist, denkt man an das Konzept der bounded rationality von Herbert A. Simon (o. § 11 IV 1), trivial.

Man muss allerdings davon ausgehen, dass die (Wert-)Urteile, mit denen Juristen die Komplexität der Welt abarbeiten, »irgendwie« von ihrem Weltwissen geprägt werden. Dieses Wissen resultiert in erster Linie aus Erfahrung und Allgemeinbildung. Der Bildungskanon der Juristen war lange vom römischen Recht geprägt. Die erforderlichen Lateinkenntnisse waren in eine breitere humanistische Bildung eingebettet. Bildung hatte immer schon starke historische, philosophische und politische Komponenten. Die rasante Entwicklung postklassischer Nachbarwissenschaften lässt das klassische Bildungsideal als defizitär erscheinen. Das führt dazu, dass die Juristen mit der Kontextformel aufgefordert werden, ihr Weltwissen mit den modernen Nachbarwissenschaften aufzubessern. Die Schwerpunkte einer »guten« Allgemeinbildung haben sich fraglos verlagert. Aber die Ablösung der klassischen humanistischen Allgemeinbildung durch eine wie auch immer inhaltlich gefüllte modernere hat nichts mit Interdisziplinarität in der Jurisprudenz zu tun.

Kontext als Weltkunde für Juristen

Der Kontext ist grenzenlos. Am Ende bleibt von der Kontextformel nicht mehr als eine Generalklausel für Interdisziplinarität.

Kontext und Bilaterismusargument

Literatur: Andreas Abegg, Die Bedeutung der Wissenschaft für das Recht, Ancilla Juris, 2006, 29-32; Jules L. Coleman, The Practice of Principle 2003 (Lecture Two— Bilateralism, S. 13-24); Stefan Huster, Rechte und Ziele, 1993; Karl-Heinz Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74, 1988, 218-238; Dieter Schmidtchen, Prävention und Menschenwürde. Kants Instrumentalisierungsverbot im Lichte der ökonomischen Theorie der Strafe, in: FS Ernst-Joachim Lampe 2003, 245-274.

IV. Modelle von Interdisziplinarität

Literatur: Jack M. Balkin, Interdisciplinarity as Colonization, Washington and Lee Law Review 53, 1995, 949-970; Roger Cotterrell, A Socio-Legal Quest: From Jurisprudence to Sociology of Law and Back Again, Journal of Law and Society 50, 2023, 3–16; Bart van Klink/Sanne Taekema, A Dynamic Model of Interdisciplinarity. Moving from Multidisciplinary to Interdisciplinary or Transdisciplinary Legal Research, in: Stephan Kirste (Hg.), Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften, 2016, 87-102; Mathias M. Siems, The Taxonomy of Iinterdisciplinary Legal Research, Journal of Commonwealth Law and Legal Education 7, 2009, 5-17.

Für die inhaltliche Verbindung oder Durchdringung von Jurisprudenz und Fremddisziplinen werden immer neue Modelle und Typisierungen entwickelt. Das hindert uns nicht, die verschiedenen Ansätze zur Interdisziplinarität unter allgemeinen Gesichtspunkten zu sortieren, indem wir zehn Modelle unterscheiden, die sich, wie immer bei solchen Typisierungen, an den Rändern überschneiden.

    • Das Abolitionsmodell schafft die Jurisprudenz als eigenständige Wissenschaft ab. Danach soll Rechtswissenschaft von vornherein als Sozialwissenschaft oder als Kulturwissenschaft betrieben werden oder in Kybernetik aufgehen. In ihrer Aufbruchszeit bestritt soziologische Jurisprudenz die Wissenschaftlichkeit der herkömmlichen Rechtswissenschaft und forderte sie auf, sich zur Sozialwissenschaft zu transformieren. Diese Forderung ist zwar nirgends zu einer vollständigen juristischen Methode ausgearbeitet worden. Der Ansatz findet sich jedoch bei Leon Petrazycky und Eugen Ehrlich. Jetzt reklamiert die Kulturwissenschaft alle Themen und Bereiche für sich. Künftig wird vielleicht eine auf der Basis künstlicher Intelligenz erneuerte Kybernetik übernehmen wollen. »Abschaffung des Rechts?« war das Thema des 4. Kongresses der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen 2018 in Basel. Dort überlegte man, ob das Recht soziologisch aufzuheben oder in funktionale Kybernetik zu überführen sei.Abolitionsmodelle begründen keine Interdisziplinarität, sondern ersetzen nur eine Disziplin durch eine andere.
    • Das zweite Modell stellt eine große Theorie bereit, die dem Recht seinen Platz anweist. Als solche war einmal der Marxismus in Schwang. Heute dominiert die Systemtheorie in unterschiedlichen Facetten. Auch große Theorien sind keine Kandidaten für Interdisziplinarität, denn sie sind nicht auf Kooperation angelegt, sondern wollen der Rechtswissenschaft ihr Gen einpflanzen.
    • Das dritte Modell setzt auf Rechtskritik war und ist die Hauptmotivation der Rechtssoziologie. Bei der Rechtskritik gilt es zu unterscheiden zwischen einer radikalen und einer aufklärerischen Richtung. Erstere wird hier so genannt, weil sie sich an das Recht in seiner Gesamtheit richtet, letztere will primär die Gesellschaft und mit ihr das Recht erforschen und fordert durch Aufklärung zur Kritik heraus. Radikale Kritik hält dem Recht und seinen Juristen vor, sie hätten schlechthin eine verfehlte Vorstellung von der Gesellschaft. Sie bezieht ihre Substanz aus großen Theorien. Die marxistisch inspirierte Kritik ordnete das Recht als Klassenrecht ein. Insoweit haben die Critical Legal Studies das Erbe des Marxismus fortgeführt. Heute machen ihnen die Heteronormativitätskritik der Gender Studies und postkoloniale Theorien Konkurrenz. Schwächer, aber immer noch sehr grundsätzlich wird dem Recht eine kapitalismusfreundliche, patriarchalische oder ökologieresistente Einstellung vorgehalten. Aufklärung und Kritik begründen noch keine Interdisziplinarität, bieten aber vielleicht einen Ersatz.
    • Ein viertes Modell holt die Fremddisziplinen als Grundlagenfächer in die Rechtswissenschaft herein und hält sie von der Jurisprudenz im engeren Sinne getrennt. Mit den Grundlagen- und Bindestrichfächern hat sich die Rechtswissen­schaft nur scheinbar auf Interdisziplinarität eingelassen. Tatsächlich hat sie sich damit eine dicke Schale zugelegt, die sie vor Fressfeinden schützt. Die Kooperation ist einseitig; die Fremddisziplin kommt erst nach dem Bindestrich. So verwaltet die Jurisprudenz die Interdisziplinarität und bewahrt damit ihre Identität. Die Institutionalisierung der Bindestrichfächer verfestigt damit die innere Differenzierung der Disziplin in eine Rechtswissenschaft im weiteren Sinne und der Jurisprudenz oder Rechtsdogmatik als Rechtswissenschaft im engeren Sinne. Die Forderung nach echter oder genuiner Interdisziplinarität wird damit verfehlt.
    • Instrumentalisierung der Fremddisziplinen: In diesem Modell leistet Interdisziplinarität technische Hilfe durch empirische Forschung im Rahmen der Zweck-Mittel-Rationalität. Ein historische Beispiel bietet die Gesamte Strafrechtswissenschaft, wie sie einst Franz von Liszt konzipierte und wie sie – eher im Namen als im Programm – in der 1881 von ihm (mit-)begründeten Zeitschrift fortlebt. Die radikale Version betrachtet das Recht als social engineering (Roscoe Pound). Die schwachen Reste dieses Modells zeigen sich, wenn Fremddisziplinen als Hilfswissenschaften bemüht werden, wie es bei der Folgenberücksichtigung geschieht (u. §107). Technischer Hilfe bedarf es heute besonders hinsichtlich des Umgangs mit Künstlicher Intelligenz (KI).
    • Instrumentalisierung des Rechts: Eine Umkehrung dieses Modells bietet die Ökonomische Analyse des Rechts, indem sie das Recht zum Instrument ökonomischer Effizienz erklärt.
    • Heuristisches Modell: Grundmann unterscheidet zwischen einer monistisch ausgerichteten Interdisziplinarität, wie sie mit der ökonomischen Analyse des Rechts verbunden wird, und einer pluralistischen Interdisziplinarität, die sich allen Fremddisziplinen öffnet. Er fordert eine »pluralistisch ausgerichtete interdisziplinäre Offenheit«. Die Rechtstheorie soll sich heuristisch dem Wissens- und Wertungsfundus aller Fremddisziplinen öffnen.
    • Eklektizismus: Treiber (S. 338) nennt den interdisziplinär aufgeschlossenen Juristen einen intellektuellen »Bastler«, der Wissensbestände anderer Disziplinen zwar ganz unsystematisch, aber doch geschickt und innovativ ausschlachtet.
    • »Genuine« Interdisziplinarität: Den Ausdruck übernehmen wir von Behschnitt a. Ihr »Kriterium für die ›genuine Interdisziplinarität‹ … ist die grundsätzliche und unverrückbare Gleichberechtigung der interdisziplinär studierten Fächer« (S. 298). Genuine Interdisziplinarität – jetzt ohne Anführungszeichen – verlangt die Berücksichtigung fremddisziplinären Wissens auch, wenn es nicht angefragt wird. Damit nicht genug. Für Interdisziplinarität bieten sich in erster Linie die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften als Nachbarwissenschaften an. Sie haben gemeinsam, dass sie sich in irgendeiner Weise mit Normen, Werten oder Wertungen befassen, und zwar in aller Regel nicht nur empirisch. Dabei gelangen sie auch zu eigenen Wertungen, die sie mehr oder weniger fordernd vertreten und die qua Interdisziplinarität in das Recht einfließen sollen. Genuin in diesem Sinne wären die ersten drei Modell, das Abolitionsmodell, dass die Jurisprudenz in eine Sozial-oder Kulturwissenschaft umwandeln würde, sowie die Modelle »Große Theorie« und »Rechtskritik«, die beiden letzteren unter der Voraussetzung, dass Jurisprudenz die werthaften Prämissen übernimmt. Darauf können Juristen sich schwerlich einlassen, wenn sie ihre Prämissen aus dem Recht beziehen wollen, so wie es ist. Die Tatsache, dass sie fremddisziplinäre Rechtskritik zur Kenntnis nehmen und sich davon auch beeindrucken lassen, macht noch eine genuine Interdisziplinarität.

»Genuine« oder echte Interdisziplinarität versprechen verschiedene Versionen soziologischer Jurisprudenz. Tatsächlich handelt es sich meistens um Hybrid-Modelle, die sich einem der vorgenannten Modelle zuordnen lassen. So treffen sich in der» responsive Rechtswissenschaft« (u. § xxx) Rechtskritik und Heuristik. »Echter« Interddisziplinarität am nächsten kommen Modelle, die einseitig auf eine bestimmte Fremddisziplin setzen wie der (nicht mehr aktuelle) Wertempirismus oder das rechtspluralistische Bukowina-Modell (Eugen Ehrlich, Gunther Teubner).

Wir meinen, dass sich Elemente aus den verschiedenen Modellen unter dem alten Titel der »Natur der Sache« (u. § 110) versammeln lassen. Auch daraus folgt keine Interdisziplinaritätsformel. Das wird am Ende die These sein: Echte oder »genuine« Interdisziplinarität ist angesichts des Werturteilsproblems nicht zu haben. In der angewandten Rechtswissenschaft gibt es wenig Raum für Interdisziplinarität. Ihren Platz findet sie in der rechtwissenschaftlichen Grundlagenforschung. Was andere Disziplinen über technologische Hilfe hinaus leisten, bleibt nicht wirkungslos. Aber das ist nicht der Erfolg einer intendierten und organisierten Interdisziplinarität. Die Wirkung kommt auf Umwegen. Irgendwann, irgendwie, irgendwo verändern sich die Selbstverständlichkeiten, auf deren Kontingenz sich die Nachbarwissenschaften eingeschossen haben, und damit ändern sich langfristig auch Rechtswissenschaft und Recht. im Übrigen gilt, was Jack Balkin beobachtet haben will, nämlich dass Interdisziplinarität bei den Juristen eine Frage des persönlichen Engagements ist, das – wie wir meinen – von politischen Grundeinstellungen abhängt, wie sie umgekehrt die Rechtssoziologie bei Richtern beobachtet.

V. Schnittstellen oder Rezeptionstheorie?

Literatur: Marietta Auer, Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie, 2018; Matthias Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006; Jörn Lüdemann, Netzwerke, Öffentliches Recht und Rezeptionstheorie, in: Netzwerke, hrsg. von Sigrid Boysen u. a., 2007, 266-285; Alexander Stark, Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik, 2020 (Rezension von Klaus F. Röhl JZ 2022, 893-895).

Paul Trappe hatte 1964 in seiner Einleitung zu Theodor Geigers »Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts« einen ganzen Katalog »legitimer Eintrittspunkte der Soziologie in die Rechtswissenschaft« gesammelt. Moderner spricht Jestaedt (S. 71) von Schnittstellen. Stark fahndet nach »Andockstellen«. Es ist ein beliebtes Spiel, Schnittstellen zwischen dem Recht und Fremddisziplinen zu benennen, ohne dass daraus konkrete interdisziplinäre Arbeit folgt.

IV. Luhmann zur Interdisziplinarität der Rechtswissenschaft

Texte von Niklas Luhmann: Grundrechte als Institution, 1965; Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR 94, 1969, 1-31 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 273-307; Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang, Anales de la CatedraFrancisco Suarez 12, 1972, 201-253 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 191-240; Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, JbRSozRTh 2, 1972, 255-276 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 241-272; Kontingenz und Recht, 2013 (postum, 1971/1972); Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974; Die Wissenschaft der Gesellschaft (WdG), 1992.

Literatur: Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie – Theoriegeschichte in systematischer Absicht, 2023 (S. 131ff).

Niklas Luhmann ist im Laufe der Jahre gegenüber der Interdisziplinaritätsforderung skeptischer worden. »Grundrechte als Institution« von 1965 ließ sich als Aufruf zu einer soziologisierten Jurisprudenz verstehen (Bora S. 140). 1969 bezog Luhmann zunächst Stellung gegen eine Folgenorientierung der Jurisprudenz. Eine »gründliche Abwägung der Folgen seiner Entscheidung« gehöre »nicht zum Programm der Juristen«. Eine »Entlastung von voller Folgenverantwortung [sei] notwendig, wenn die Funktion des Konditionalprogramms erfüllt werden soll, erwartbare Ereignisreihen zuverlässig in Aussicht zu stellen« (1981 S. 276). Immerhin könnten sich auf der Basis systemtheoretischer Problemanalysen »durchgehend sinnvolle Möglichkeiten soziologischer Vorbereitung juristischer Entscheidungen ergeben, deren rollenmäßige Institutionalisierung man erwägen sollte«. Auf juristischer Seite erwartete Luhmann eine Hermeneutik »problemorientierten Vergleichens« (S. 294). Doch er blieb zurückhaltend vorsichtig:

»Die Programmausführung muss von soziologischer Orientierung weitgehend entlastet werden, schon weil es ihr unmöglich ist, die adäquat zu leisten oder sie fertig zu beziehen. Sie kann allenfalls zur Beseitigung von Zweifeln bei der Programmauslegung die soziologische Diagnose heranziehen, die dem Programm vermutlich zugrundeliegt: Je klarer die dem Programm vorausliegende Problemkonstellation durchgearbeitet war,  desto eindeutiger läßt sich sagen, welche Alternativen gewählt und welche eliminiert wurden. Sie kann außerdem in einigen Fallgruppen Unbestimmtheitsräume des Programms durch eigene sozilogische Analyse ausfüllen, nämlich dann, wenn es um abgrenzbare Kleinsysteme (z. B. Ehe, Verkehrssituationen) geht, deren konkrete Struktur bei der Programmierung nicht überschaut werden kann. Sie wäre in größter Gefahr, pseudowissenschaftlichen Meinungen aufzusitzen, wenn sie soziologische Schriftsteller bei der juristischen Tagesarbeit zu Rate zöge.« (1969/1981 S. 297)

Als Beispiel für ein solches Kleinsystem nennt Luhmann die Familie, um dann aber sogleich auszuführen, wie komplex die funktionale Analyse dieses Systems ausfällt. Die Gerichte treffen keine Strukturentscheidung über die Erhaltenswürdigkeit der Familie, sondern flicken nur an »dysfunktionalen Folgen« der Struktur im Einzelfall. Nur im Hinterkopf haben Juristen eine Vorstellung von Gestalt und Funktion der Familie:

»Mit dem Postulat interdisziplinärer und abstrakten Appelle, der Jurist solle sich um Erkenntnis der Wirklichkeit bemühen, ist wenig zu erreichen und viel zu verderben. … Es wäre daher sicher verfehlt, die juristische Dogmatik und Entscheidungstechnik durch unmittelbaren Bezug auf Systemprobleme zu soziologisieren.Zu den ersten Forderungen, die an Rechtssoziologen zu stellen sind, gehört es, die soziale Funktion der Eigenständigkeit juristischer Dogmatik und Entscheidungstechnik zu begreifen. Ebenso verfehlt aber wäre es, die Trennung zu einem unüberbrückbaren Gegensatz von Sein und Sollen zu ontifizieren.« (1969/1981 S. 306)

Dann erhellt, daß nur Trennung und Kooperation das gestellte Problem lösen können, nämlich funktionale Analyse von Problemkonstellationen von Systemen und Übernahme der so zugespitzten  Probleme in juristische Entscheidungsprogramme, die dann mit hermeneutisch-exegetischen Methoden zu richtigen Entscheidungen konkretisiert werden können.« (S. 307).

Drei Jahre später scheint es dann aber, dass Luhmann eine allgemeine Rezeptionstheorie für möglich und notwendig hält. Der erst postum gedruckte Text »Kontingenz und Recht« trägt den Untertitel »Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang«. Ein weitgehend übereinstimmender Text mit eben diesem Titel war schon 1972 in Spanien veröffentlicht worden. Dort liest man:

»Interdisziplinäre Kontakte können nicht länger nur durch Einzelbegriffe, etwa Funktion, Institution, Interesse, vermittelt werden, da die Enge solcher Begriffe wechselseitige Mißverständnisse geradezu erzwingt. Vielmehr sollte die Rechtwissenschaft sich fragen, ob sie für sich selbst ein überdogmatisches Steuerungssystem entwickeln und auf dieser Ebene jene Begriffsentscheidungen treffen kann, die ihre interdisziplinäre Kontaktfähigkeit sicherstellen.« (1972/1981 S. 192)

Wie diese Theorie aussehen könnte, hat Luhmann nur angedeutet. Sie bewegt sich auf dem Niveau einer Rechtstheorie, »die mit jedem möglichen Recht kompatibel sein muss.« Dazu stellt Luhmann Systemtheorie und Entscheidungstheorien einander gegenüber. Die Systemtheorie zeige die

»Problemzusammenhänge als Stufenordnung in dem Sinne, daß die Lösung von Grundproblemen durch Strukturen und Prozesse erfolgt, die Folgeprobleme (…) nach sich ziehen, die sich Strukturen und Prozesse sekundärer Art heften, die ihrerseits Folgeprobleme aufwerfen.« (1972/1981 S. 199).

Eine »universelle überdogmatische Rechtstheorie (kann) versuchen, Entscheidungsprobleme auf Systemprobleme zurückzuführen und damit die Kontingenz von Dogmatiken und Jurisprudentien zu erhellen« (1972/1981 S. 198).

»Systeme sind die notwendigen Begrenzungen sinnvoller Problemstellung und verfügbarer Lösungsmöglichkeiten.« (1972/1981 S. 198)

So gelangt man zu einer »problemorientierten Rechtstheorie«. Wir erfahren, dass Systeme sich als »kontingente Selektionen« erweisen, und dass das Recht Selektonsleistungen erbringt.

»Das Problem (der doppelten Kontingenz aller Interaktion) soll als Leitfaden dienen nicht nur für die Analyse, sondern auch für die Begründung des Rechts.« (1972/1981 S. 205)

Wir erfahren ferner, was man für eine Trivialität halten mag, dass Normen Erwartungen darstellen, bei denen die Möglichkeit der Nichteinhaltung (von wem?) mitgedacht wird: »Normativität kann die Menge der mit einer Struktur kompatiblen Wirklichkeiten« erweitern (S. 213).Normatives Erwarten kann als Geltung auch Normverletzungen überdauern (S. 219). So breitet Luhmann Grundzüge seiner (frühen, funktionalistischen) Rechtssoziologie aus, bemerkt aber selbst, dass es sich »bestenfalls um Präliminarien« (S. 222) für die gesuchte Rechtstheorie handelt, für die immerhin zwei Beispiele angeoten werden:

»Die grundbegriffliche Konstruktion bleibt steril und kontrovers, wenn nicht die Konsequenzen für das Rechtsleben, letztlich also für die Entscheidung von Rechtsfragen ausgewiesen werden können. Natürlich kann die Konstruktion der Details nicht an dieser Stelle geleistet werden. … Somit bleibt nur die Möglichkeit eines heuristischen Vorgehens, einer Ausarbeitung von Problemstellungen für konkretere Verwendung und im Anschluß daran der Versuch, unter Hinzunahme von positiv gesetzten oder dogmatisch festgelegten Entscheidungsprämissen Probleme entscheidungsnäher zu rekonstruieren. Diese Art des Vorgehens soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden: am Begriff des Prinzips und am Regel-Ausnahme-Schema und im nächsten Abschnitt an der Kategorie der Alternativität.« (1972/1981 S. 223)

Rechtsprinzipien deutet Luhmann als eine »hochstilisierte Form von Schematisierung«, vergleichbar etwa der Typenbildung. Prinzipien werden damit zu generalisierten Verhaltenserwartungen, die auf Ausnahmen hin angelegt sind.:

»Man hält sich in der Regel an die Regel, bewahrt sich aber die Freiheit, in kritischen Fällen eine Ausnahme zu konzedieren, ohne dadurch der Regel selbst Abbruch zu tun und ohne die normative Prätention kontrafaktischen Durchhaltenwollens aufgeben zu müssen.« (1972/1981 S. 229f)

Als zweites Beispiel wählt Luhmann »die Kategorie der Alternativität« (S. 232ff). Das Beispiel ist naheliegend, weil der Äquivalenzfunktionalismus auf Alternativen angelegt war. Da hätte Luhmann konkreter werden können. Er führt den Leser jedoch erneut über einen Höhenzug der Abstraktion. Dafür greift er auf seine Rezension des damals neuen Buchs von Jürgen Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz (1969) zurück. Rödig habe Alternativen »als Sachverhalte (bestimmt), die zwar ›kongruent‹ sind insofern als sie dieselbe Raum-Zeit-Stelle in Anspruch nehmen, aber trotzdem nicht identisch, sondern verschieden sind.«. Luhmann kritisiert, »dieses Abschieben des Problems in andere mögliche Welten vermag jedoch bei genauerem Zusehen nicht zu befriedigen, da es für solche anderen Welten kein Kriterium der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit von Merkmalen gibt.« (S. 233). Ein solches Kriterium hatte Rödig jedoch mit dem Begriff des Verhaltensraums entwickelt.

Am Ende kommt Luhmann, ohne konkreter zu werden, auf den Geltungsbegriff zurück. Geltung heißt »Kontingenzausschaltung« (S. 240). Das ist ein soziologischer Blick auf das Recht. Für eine interdisziplinäre Jurisprudenz ist damit nichts gewonnen, es sei denn, man übersetzt Kontingenzausschaltung als Verzicht auf Kontextualisierung.

Mit der autopoietischen Wende zieht Luhmann die Schranke zwischen Soziologie und Recht höher:

»Das Rechtssystem kann aus den soziologischen Analysen keinen Nutzen ziehen.« (RdG S. 440ff)

Aus der Autonomie der Systeme und ihrer bloß »strukturellen Kopplung« folgt, dass sich die wechselseitige Beeinflussung auf »Irritationen« beschränkt (RdG S. 442). Immerhin lesen wir 50 Seiten später:

»Die Struktur gesellschaftlicher Differenzierung lässt es zu, dass externe Beschreibungen interne beeinflussen und umgekehrt, denn übergreifende Kommunikation bleibt als Vollzug von Gesellschaft möglich.« (RdG 497).