I. Kein Abgesang auf den Staat
Ob sich Rechtstheorie weiterhin an einem monistisch-etatistischen Rechtsbegriff ausrichten lässt, hängt davon ab, ob der Staat im Zuge der Globalisierung noch als Fluchtpunkt des Rechtssystems taugt. In der Globalisierungsliteratur war state bashing angesagt. Wenn nicht gleich der Abschied vom Staat verkündet wurde, so doch sein Niedergang. Doch die globale Euphorie nach dem Ende des kalten Krieges ist mittlerweile einer Ernüchterung gewichen. Die Führungsmacht der westlichen Welt, die Vereinigten Staaten, hat sich als unsicherer Kantonist erwiesen. Totalitäre Staaten wie Russland oder China ziehen sich auf ihre eigene Staatlichkeit zurück, Menschenrechte und Demokratie haben sich jedenfalls nicht universell ausgebreitet.
Innerstaatliche Rechtsetzung kann Globalität nicht gestalten, weil sie an den Grenzen halt machen muss. Die Globalisierung der Transaktionen von Kommunikation bis Transport, von Produktion bis Verschmutzung ignoriert dagegen alle Grenzen. Aber die Staaten konnten noch nie die völlige Kontrolle über ihre internen und externen Beziehungen ausüben, und die internationale Rechtssetzung hinkt weiter hinter dem Globalisierungsprozess her. Immerhin gelingt es dem Staat im Zusammenwirken mit der EU jedenfalls in Teilbereichen die Bedingungen der Globalisierung mit zu bestimmen und Regelungen mit Vorbildfunktion zu etablieren (z.B. DSGVO, Digital Service Act).
Noch immer verfügen nur die Staaten über Militär und Polizei, zusammen mit der Union auch über Gerichte und Geld. Noch immer können Staaten bis zur Hälfte des Bruttosozialprodukts umverteilen. Die soziale Sicherung findet praktisch immer noch ausschließlich auf staatlicher Ebene statt. Und auch von innen sieht es mit der Steuerungsfähigkeit der Staaten gar nicht so schlecht aus. Noch immer gehört die Loyalität der Bürger den Staaten. Noch immer entscheiden die Staaten darüber, wen sie zu ihren Bürgern zählen wollen; die EU macht ihre Bürgerschaft von derjenigen der Mitgliedstaaten abhängig (Art. 20 I 2 AEUV). Für die (internationale) Personenfreizügigkeit lässt sich – jenseits der EU – eher das Gegenteil der Globalisierungsthese beobachten; die Staaten handeln nach wie vor und sogar zunehmend autonom.
Im Falle direkter Konfrontation mit transnationalen Akteuren setzen sich in der Regel die staatlich gesteuerten rechtlichen Institutionen durch, weil sie sich auf das staatliche Gewaltmonopol stützen können. Firmen, die sich im internationalen Waffenhandel betätigen, können in ihren Heimatstaaten diszipliniert werden. Lokale Tochterunternehmen ausländischer Unternehmen sind gezwungen, sich den Umwelt- und Arbeitsschutzgesetzen zu unterwerfen. Die Aktivitäten des internationalen Terrorismus lassen sich zumindest einschränken. Selbst im Kampf gegen Drogen sind die Staaten nicht immer auf der Verliererseite.
Multinationale Unternehmen geben manchem Staat erst Anlass und Möglichkeit, seine Macht zu beweisen. In weniger entwickelten Ländern werden die Kontrollkapazitäten des Rechts durch die Globalisierung sogar erhöht. MNU halten sich in zunehmendem Maße an ethische Kodices, die die strikte Beachtung der Gesetze ihrer Gastländer vorsehen. Häufig zeigen sie sich vorbildlich sowohl bei der Abführung von Steuern wie bei der Einhaltung umwelt- und arbeitsrechtlicher Vorschriften. Gleichzeitig profitieren auch Länder mit weniger restriktiven Standards von den strengeren Anforderungen anderer Staaten, weil globale Konzerne dazu tendieren, ihre Produkte von vornherein auf den restriktivsten Standard zuzuschneiden, vorausgesetzt, dass seine Einhaltung den Zugang zu einem wichtigen Markt eröffnet. Lieferkettengesetze, gestützt von einer vom Publikum getragenen Forderung nach Corporate Social Responsability, wirken über Staatsgrenzen hinaus.
Von allen Märkten sind die Finanzmärkte am weitesten globalisiert und zugleich in besonderer Weise von rechtlichen Rahmenbedingungen abhängig. Zu einem Musterbeispiel globaler Rechtsentwicklung ist deshalb die Aufsicht über das internationalisierte Bankgeschäft geworden. Die amerikanische Security Exchange Commission (SEC) ist weit über die Grenzen der USA hinaus gefürchtet. In Europa und tendenziell weltweit ist eine nachhaltige Harmonisierung des Kapitalmarktrechts und der Praktiken der Kapitalmarktaufsicht zu beobachten. Maßgebliche Akteure dieser Harmonisierung waren die staatlichen Bankaufsichtsbehörden in ihrem Zusammenschluss als Basler Ausschuss für Bankenaufsicht. Die von ihnen erarbeiteten Standards (»Basel II« und »Basel III«) dienen als Grundlage für die weltweite Vereinheitlichung des Kapitalmarktrechts, in Europa vor allem durch Regelungen der Europäischen Union. In jüngerer Zeit erzielen die Staaten auch im Kampf gegen die Steuerflucht bemerkenswerte Erfolge.
Die Globalisierung stellt die Staaten immer wieder vor neue, unerwartete Herausforderungen. Nachdem die Finanzmarktkrise mit nationalen und übernationalen Rechtsinstrumenten einigermaßen bewältigt worden ist, schwelt seit 2013, ausgelöst durch die Hinweise des Whistleblowers Edward Snowden auf die Überwachungspraktiken der amerikanischen Geheimdienste, eine Datenschutzkrise. Sie bezieht ihren globalen Charakter nicht nur aus den Aktivitäten fremdstaatlicher Geheimdienste, sondern auch aus den Datensammelpraktiken der multinationalen Internetfirmen mit Google, Amazon, Facebook und Apple an der Spitze. Noch ist nicht erkennbar, wie diese Krise mit rechtlichen Mitteln bewältigt wird. Die Covid-19-Pandemie und die Klimakrise zeigen erneut, dass globale Probleme nur auf staatlicher Ebene bekämpft werden können; zugleich wird deutlich, dass ein koordiniertes Handeln erforderlich ist.
Immer wieder wird der Souveränitätsverlust der Staaten beklagt. Aber die reale Einschränkung der Souveränität war weitaus gravierender, solange die Staaten Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln in Rechnung stellen mussten. Erst das relativ erfolgreiche Weltfriedensrecht hat der Mehrzahl der Staaten zu halbwegs ungestörter Souveränität verholfen. Durch den Ausbau des Völkerrechts und die Übertragung von Souveränitätsrechten auf internationale Organisationen können die Staaten heute mit rechtlichen Mitteln sogar in andere Staaten hineinwirken. Erstaunlicherweise geschieht das unter dem Imperativ des state building oder gar nation building. Im Ukraine-Krieg verteidigt jedenfalls die westliche Welt mit Worten und Waffenlieferungen die Souveränität eines Staates. Am ehesten ist die Existenz der Nationalstaaten durch Autonomiebestrebungen von unten gefährdet. Noch nie hat es so viele Staaten gegeben wie heute, und noch immer drängen sich die Kandidaten in der Warteschlange. Der Zustand der Staatlichkeit scheint erstrebenswerter zu sein als je zuvor. Unter diesen Umständen verlangt die Globalisierung keinen Verzicht auf den Souveränitätsbegriff, mag auch eine gewisse Relativierung angezeigt erscheinen (Cohen S. 322). Teils spricht man insoweit von geteilter Souveränität, teils von offener Staatlichkeit (Rossa). Der fraglos zu beobachtende »Wandel der Staatlichkeit« tut der zentralen Rolle des Staates als Zentrum des Rechts wenig Abbruch.
II. Von der Staats(rechts)lehre zum Konstitutionalismus
III. Der symbolische Gehalt der Verfassung
IV. Hintergrundtheorien der Verfassungsinterpretation
V. Abwägung im Verfassungsrecht
VI. Grundrechte und Verfassungswerte
VII. Grundrechtstheorie
VIII. Verfassungsinterpretation in den USA: Originalism vs. Living Constitution