I. Recht als Mittel des Staates zur Steuerung der Gesellschaft
II. Zur Steuerungsfähigkeit des Staates und seines Rechts
III. Governance
IV. Reflexives und prozedurales Recht
V. Gewährleistungsstaat und regulierte Selbstregulierung
VI. Neue Handlungsformen des Staates
VII. Verhaltenswissenschaftlich gestützte Rechtsgestaltung
VIII. Rechtsformenwandel?
IX. Rechtswissenschaft als Wissenschaft von der Gestaltung
Texte von Herbert A. Simon: The Sciences of the Artificial (Die Wissenschaften vom Künstlichen, 1991), 3. Aufl. 1996 [1969]; The Structure of Ill-Structured Problems, Artificial Intelligence 4, 1973, 181-201.
Literatur: D. J. Huppatz, Revisiting Herbert Simon’s ›Science of Design›, Design Issues 31, 2015, 29-40; Wolfgang Jonas, Design – System – Theorie, 1994; Stephen K. Reed, The Structure of Ill-Structured (and Well-Structured) Problems Revisited, Educational Psychology Review 28, 2016, 691-716; Horst W. J. Rittel/Melvin M. Webber, Dilemmas in a General Theory of Planning, Policy Sciences 4, 1973, 155-169; Udo Pesch/Pieter E. Vermaas, The Wickedness of Rittel and Webber’s Dilemmas, Administration & Society 52 , 2020, 960-979; Donald A. Schön, The Reflective Practitioner, How Professionals Think in Action, 1983; Jude Chua Soo Meng, Donald Schön, Herbert Simon and The Sciences of the Artificial, Design Studies 30, 2009, 60-68.
Recht dient der Politik als Mittel zur Steuerung der Gesellschaft. Eine »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft« wollte sich zur Steuerungswissenschaft reformieren.
Anfang der 90er Jahre begann unter deutschen Verwaltungsrechtslehrern eine Reformdiskusssion. Die Richtung der Reformdiskussion hatte Schmidt-Aßmann 1998 in seiner Programmschrift »Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee« (2. Aufl. 2004) festgehalten: Alles Recht ziele auf Wirksamkeit. Daher müsse eine wirkungsorientierte Verwaltungsrechtswissenschaft entwickelt werden. Erforderlich sei eine Verlagerung des Schwerpunkts juristischer Tätigkeit von einer Interpretationswissenschaft zu einer Steuerungswissenschaft. Dazu gehörten die Öffnung gegenüber den Nachbarwissenschaften und der Anschluss an die sozialwissenschaftliche Steuerungsdiskussion.
Hoffmann-Riem und Schmidt-Aßmann haben die Aktivitäten in zehn Tagungen gebündelt und deren Beiträge jeweils in Tagungsbänden zusammengefasst. Den Anfang machte 1993 der Band »Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts«, den Abschluss im Jahre 2004 der Band »Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft«. Seit 2006 erscheinen mit dem Anspruch auf eine systematische Gesamtdarstellung die auf drei Bände angelegten »Grundlagen des Verwaltungsrechts« (2006ff, 3 Bände, 3. Aufl. 2022). Zur Kritik vgl. Hubert Treiber, Verwaltungswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine »Revolution auf dem Papier«?, Teil 1: Kritische Justiz, 2007, 328-346, Teil 2: Kritische Justiz, 2008, 48-70.
Die Steuerungsmetapher weckt Erwartungen, die sich nicht erfüllen lassen. Aber Recht leistet immerhin einen Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft. Wir ziehen es daher vor, nicht nur das Verwaltungsrecht, sondern die Rechtswissenschaft insgesamt als Wissenschaft von der Gestaltung zu charakterisieren. Diese Einordnung lässt sich gut auf dem Weg erschließen, den Herbert A. Simon 1969 mit den Sciences of the Artificial aufgezeigt hat.
Simon war ein Universalgelehrter. Er begann als Politikwissenschaftler und entwickelte sich über Mathematik und Wirtschaftswissenschaft, Psychologie und Systemtheorie zum Informatiker. Sein durchgehendes Thema war das Entscheidungsverhalten von Individuen und Organisationen. Seine Anstrengungen galten einer universellen wissenschaftlichen Problemlösungsmethode. Darüber wurde er zu einem Vordenker künstlicher Intelligenz. 1978 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft. Jeder kennt und zitiert heute sein Konzept der beschränkten Rationalität (bounded rationality). Grundlegend auch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie bleiben sein Buch Administrative Behavior und der Aufsatz The Architecture of Complexity von 1962. Wir empfehlen die Lektüre der Darstellung von Norbert Bolz, Bausteine zu einer Designwissenschaft, in: Dirk Baecker (Hg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, 2. Aufl. 2016, 313-325.
Die Medizin ist, anders als die Biologie, von vornherein darauf angelegt, Krankheiten zu definieren und zu behandeln. Ingenieure und Architekten wollen funktionierende Maschinen oder Gebäude konstruieren. Juristen wollen mit Normen und Verträgen Handlungs- und Entscheidungsgrundlagen schaffen und diese bei Bedarf auch anwenden. Es geht um Planung, Produktentwicklung und Problemlösung. Simon bezeichnet diese Disziplinen als sciences of the artificial.
In den USA werden die gestaltenden Disziplinen in Professional Schools unterrichtet. Dort, so meinte Simon, sei die Gestaltungsaufgabe als »intellectually soft, intuitive, informal, and cook-booky« in Verruf geraten. Ohnehin war diese Lehre nach Simons Maßstäben nicht wissenschaftlich, denn sie folgte entweder dem traditionellen Modell des Meisters, der seine Lehrlinge in die Praxis einarbeitet, oder dem Modell des Missionars, der seine Lehre an gläubige Schüler vermittelt. Im Konkurrenzkampf um wissenschaftliche Reputation habe man die Lehre von der Gestaltung daher weitgehend zugunsten von Theorie ausgetrieben.
»Engineering schools gradually became schools of physics and mathematics; medical schools became schools of biological science; business schools became schools of finite mathematics.«
Simon hätte hinzufügen können, dass auch in manchen Law Schools zunehmend auf Rechtstheorie und Rechtssoziologie gesetzt wurde. Er wollte dagegen die Lehre von der Gestaltung als science of design organisieren und bloßes »Kochbuchwissen« durch wissenschaftliche Methoden ersetzen. Dazu wollte er den Gestaltungsprozess möglichst formalisieren. Dabei sollte nicht zuletzt künstliche Intelligenz helfen.
Simons Angebot einer universalen wissenschaftlichen Problemlösungsmethode war in ihrem Vertrauen auf die Möglichkeit der Formalisierung aller Probleme und ihrer Lösung mit Hilfe des Computers überzogen. Sie wurde daher alsbald heftig kritisiert. Man kann einen viel zitierten Aufsatz von Horst Rittel und Melvin Webber aus dem Jahre 1973 als Antwort auf Simons erstmals 1969 erschienenes Buch lesen, obwohl die Autoren nicht auf Simon Bezug nehmen. (Rittel war erst als Dozent für Design-Methoden an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und danach neben Webber als Professor für Science of Design in Berkeley tätig.) Soziale Probleme seien stets verzwickt oder vertrackt (wicked) im Sinne von tückisch (malignant or vicious). Sie ließen sich weder definieren noch lösen.
»As distinguished from problems in the natural sciences, which are definable and separable and may havc solutions that are findable, the problems of governmental planning – and especially those of social or policy planning – are ill-defined; and they rely upon elusive political judgement for resolution. (Not ›solution‹. Social problems are never solved. At best they are only re-solved-over and over again.)« (Rittel/Webber S. 160)
Das machen Rittel und Webber an zehn Punkten fest:
- Eine Situation lässt sich als Problem nur wahrnehmen, wenn man eine Vorstellung von seiner Lösung hat. Für die Lösung muss man aber schon eine Vorstellung von dem Problem haben.
- Für Problemdefinition und Lösungssuche gibt es keine Stoppregeln.
- Problemlösungen lassen sich vielleicht als besser oder schlechter bewerten, aber nicht als richtig oder falsch.
- Problemlösungen lassen sich nicht wirklich testen, denn jede Lösung hat eine Vielzahl von Konsequenzen, die sich im Zeitlauf immer noch weiterentwickeln.
- Jeder Versuch ist mit seinen Folgen einmalig und einzigartig. Er hinterlässt Spuren, die sich nicht tilgen lassen. Es gibt deshalb kein Lernen durch Versuch und Irrtum.
- Jede Problemsituation ist einzigartig durch einen sich ständig verändernden Kranz von Umständen.
- Für die Problemlösung gibt es keine eingrenzbare Menge von Lösungen. Es sind stets Werturteile (judgement) notwendig, um eine Lösung auszuwählen. Das gilt auch für jeden einzelnen Schritt der weiteren Planung.
- Jedes Problem lässt sich als Symptom eines anderen Problems beschreiben.
- Für jedes Problem gibt es unterschiedliche Erklärungen, die wiederum zu unterschiedlichen Lösungen führen können.
- Für den Planer gibt es kein Recht auf Irrtum, denn jeder Lösungsversuch hat reale Konsequenzen.
Die Einwände, die insbesondere aus dem Lager der Designer vorgebracht wurden, hat Simon jedoch alle mehr oder weniger selbst bedacht und ihnen seit der zweiten Auflage von Sciences of the Artificial in einem Kapitel über Social Planning Rechnung getragen (Soo Meng). Immerhin war es Simon, der gegenüber naiver Sozialtechnologie das Konzept der bounded rationality in Feld geführt hatte.
Die Probleme, um die es geht, erweisen sich als ill structured, das heißt, sie sind von einer Art, die sich nicht einfach in ein Computerprogramm übersetzen lässt. Weder der Anfangszustand noch der angestrebte Endzustand sind klar definiert. Die Wahl der einsetzbaren Mittel unterliegt Beschränkungen. Das notwendige Wissen ist nicht vollständig verfügbar. Die Zusammenhänge sind komplex. Lösungen lassen sich daher nicht berechnen. Immerhin ist es in der Regel möglich, die Probleme in relativ überschaubare Teile zu zerlegen. Auch komplexe Systeme sind weitgehend dekomponierbar. Stets gilt es, Alternativen zu bedenken. Die Suche nach der optimalen oder gar der einzig richtigen Lösung führt in die Irre. Man muss sich mit zufriedenstellenden Lösungen abfinden. Diese Analyse beschreibt sehr gut die Situation der Rechtswissenschaft, wenn sie gefordert wird, in die Gesellschaft hineinzuwirken.
Das bedeutet nicht, dass die Rechtswissenschaft im Design-Thinking aufgehen soll, das sich als universeller Problemlöser anbietet. Viel Beachtung hat der seinerzeit an der MIT School of Architecture and Planning tätige Donald A. Schön (1930-1997) mit dem Konzept des Reflective Practitioner (1983) gefunden. Schön wollte eine Art Epistemologie der Praxis von »Professionellen«, also von Architekten und Städteplanern, aber auch von Ärzten, Juristen und anderen, entwickeln. Sie sollte mehr und anderes bieten als die von den Fachdisziplinen gepflegte technische Rationalität und das zugehörige Sachwissen (substantive knowledge); denn für die Arbeit der Professionen ist typisch, dass sie mit einer unklaren Situation konfrontiert werden und dass sie mit Hilfe ihres Fachwissens in der Regel auch keine eindeutige Lösung entwickeln können. Der »Reflective Practioner« ist in den USA auch von Juristen rezipiert worden (Richard K. Neumann Jr., Donald Schön, The Reflective Practitioner, and The Comparative Failures of Legal Education, Clinical Law Review 6, 2000, 401-426). Inzwischen ist Design-Thinking zu einer Managementmethode für Teamarbeit, Innovation und Nutzerorientierung trivialisiert worden. Diesen Weg verfolgt eine Gruppe »Liquid Legal« in Zusammenarbeit mit der School of Design Thinking im Hasso-Plattner-Institut in Potsdam (vgl. dazu den Sammelband von Kai Jacob u. a. (Hg.), Liquid Legal, 2020).