§ 86 Erscheinungsformen und Theorien des objektiven Rechts

I.        Objektives und subjektives Recht

Nachdem im vorigen Kapitel von subjektiven Rechten die Rede war, liegt es nahe, als Gegenbegriff vom »objektiven Recht« auszugehen. Dieser Schritt würde jedoch in die in die Irre führen. In Lehrbüchern wird gewöhnlich definiert: Das objektive Recht ist die Gesamtheit allen Rechts. So ist der Begriff auch im Folgenden gemeint. Das Prädikat »objektiv« ist eigentlich überflüssig, mindestens aber irreführend, denn es geht hier nicht um das Gegenstück zum subjektiven Recht. Als solches kommt vielmehr die (subjektive) Pflicht in Betracht.

Noch einmal: Die Rechtsordnung besteht aus Normen und nur aus Normen. Die Summe dieser Normen bildet das objektive Recht. Der Inhalt des objektiven Rechts wird dargestellt, indem man Thema und Anwendungsbedingungen der Normen beschreibt. Das objektive Recht begründet subjektive Rechte und Pflichten. Objektives Recht und subjektive Rechte oder Pflichten sind zwei verschiedene Seiten derselben Medaille. Aus der von uns gewählten Definition des Rechts als gerichtsfähige Normen (o. § 24 II) und ebenso aus der Imperativentheorie (o. § 27) folgt: Es gibt kein bloß objektives Recht. Jede vollständige Rechtsnorm begründet Rechte und Pflichten, die gerichtlich geltend gemacht werden können. Objektives »Recht« ohne subjektive Rechte und Pflichten wäre bloß soziale Ordnung. Deshalb haben wir das Kapitel über subjektive Rechte vorangestellt.

Theoretisch sind danach objektives Recht und subjektive Rechte und Pflichten gleichwertig. Die Frage: »Was ist primär, die subjektive oder die objektive Seite, ist eine Frage nach der Priorität von Henne und Ei. Unterschiedliche politische Philosophien betonen jedoch die Priorität der einen oder der anderen Seite.

»Während nach liberaler Auffassung der Sinn der Rechtsordnung darin besteht, daß sie im Einzelfall festzustellen erlaubt, welchen Individuen welche Rechte zustehen, verdanken sich diese subjektiven Rechte nach republikanischer Auffassung einer objektiven Rechtsordnung, welche die Integrität eines gleichberechtigten, autonomen und auf gegenseitiger Achtung beruhenden Zusammenlebens zugleich ermöglicht und garantiert. Im einen Fall wird die Rechtsordnung ausgehend von subjektiven Rechten konstruiert, im anderen Fall wird ihrem objektivrechtlichen Gehalt ein Primat eingeräumt.« (Habermas, FuG, S. 329)

Beliebte Stilmittel der von Habermas republikanisch genannten Einstellung sind der Begriff der Institution (u. § 94) und die Vorstellung einer hinter den Grundrechten stehenden objektiven Werteordnung. Ob diese Gegenüberstellung triftig ist, lassen wir dahingestellt. Auch die so bezeichnete liberale Auffassung wird nicht bestreiten, dass subjektive Rechte Bestandteil der objektiven Rechtsordnung sind. Auch das als republikanisch betitelte Verständnis stellt die Existenz subjektiver Rechte nicht in Frage.

Die vorangehenden Kapitel über die Rechtsnorm, über Rechtsgeltung und Rechtsquellen sowie über das subjektive Recht haben alle die Anknüpfung an den Staat und seine Gerichte zum Ausgangspunkt. Dieser Ausgangspunkt ist unverzichtbar, wenn man das Recht nicht mit Moral und/oder Gesellschaft in einen Topf werfen will. Er kann aber den Blick darauf verstellen, dass sich die Wirkungsweise des Rechts in seiner Gesamtheit nicht aus den abstrakt analytischen Ansätzen erklären lässt, die an den etatistischen Rechtsbegriff anknüpfen. Die Wirkungsweise des Rechts in seiner Gesamtheit muss letztlich die Rechtssoziologie beschreiben. Die Allgemeine Rechtslehre kann immerhin versuchen, die Gesamtheit des Rechts, also das objektive Recht, von seinen konkreten Inhalten her in eine gewisse Ordnung zu bringen oder vielmehr einen Überblick über die Ordnungsbemühungen der Rechtswissenschaft zu geben.

II.     Einteilungen und Ordnungen

Die erste Aufgabe im Umgang mit dem objektiven Recht besteht darin, es von außen zu beschreiben, und zwar anders als durch eine bloße Aufzählung der einzelnen Normen. Ein wichtiger Gesichtspunkt liegt auf der Hand, nämlich die Ordnung nach der formellen Rechtsquelleneigenschaft: Verfassung, Gesetz, Verordnung, Gewohnheit und Rechtsgeschäft. Diese Ordnung spiegelt sich in der Rechtsquellenlehre (o. Kap. 8). Unionsrecht, Völkerrecht und – als Problemfall – transnationales Recht als Erscheinungsformen des objektiven Rechts haben wir bereits in Kap. 9 behandelt. Das ergab sich als Konsequenz aus der etatistischen Rechtsquellenlehre.

Gesucht werden jetzt weitere Einteilungen und Zusammenfassungen des objektiven Rechts, die dem Zusammenwirken der zahllosen Einzelnormen Rechnung tragen. Eine allgemeine Ordnung dieser Art ist die Einteilung in verschiedene Rechtsgebiete, und hier wiederum in erster Linie die Trias von öffentlichem, Straf- und Privatrecht. Diese Einteilung wird von einer langen Tradition bestimmt, so dass man in aller Regel einen Komplex von Normen mit großer Sicherheit dem einen oder dem anderen Gebiet zuordnen kann. Wenn man die §§ 211ff StGB traditionsgemäß dem Strafrecht zuordnet, so läuft das auf eine deskriptive oder empirische Feststellung hinaus. Das Beispiel zeigt, dass die Abgrenzung des Strafrechts von den anderen Rechtsgebieten jedenfalls de lege ferenda unproblematisch ist. Dagegen gibt es zwischen dem öffentlichen Recht und dem Privat- oder Zivilrecht – die Begriffe werden in der Regel gleichbedeutend verwendet – immer wieder Abgrenzungsprobleme. Aus der klassischen Trias von öffentlichem, Privat- und Strafrecht hat sich vom Arbeitsrecht bis zum Umweltrecht, vom Sozialrecht bis zum Steuerrecht eine Vielzahl von spezialisierten Rechtsgebieten entwickelt, die zu einem Teil quer zu der Dreiteilung liegen.

Quer zu der Ordnung des Rechts in Teilgebiete liegt auch eine Betrachtungsweise, welche die Rechtsnormen in ihrem Zusammenwirken über die Gebietsgrenzen hinweg betrachtet. Das gilt zunächst schon für § 94, der sich mit Rechtsinstituten und Institutionen befasst. Wichtiger ist die Betrachtung des Rechts als eines Systems, das keine freischwebenden Normen kennt (§ 96), noch grundsätzlicher der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung (u. § 96 IV). Das objektive Recht in seiner Gesamtheit wirft schließlich die Frage nach Funktionen und Zwecken des Rechts auf. Diese Frage wird nur kurz gestreift (u. IV). Sie lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf die weitere Frage, wie das objektive Recht die ihm zugedachten Funktionen ausfüllt. Die Antwort suchen wir in § 88 unter der Überschrift »Steuerung durch Recht«

III.  Rechtsgebietsspezifische Theorien

Der Theoriebegriff der Rechtswissenschaft bleibt auch nach den in § 29 angestellten Überlegungen schillernd. In zweiten Teil dieses Kapitels geht es nicht um Rechtstheorie, die für das ganze Recht maßgebliche Aussagen macht, etwa über die »Geltung« des Rechts, sondern um grundsätzliche Überlegungen zu den großen Sachgebieten des Rechts. Am ehesten noch passt insoweit die Vorstellung von Theorie als einem wissenschaftlichen Lehrgebäude, das die jeweils einschlägigen Prinzipien aufzeigt. Wie locker der Theoriebegriff hier verwendet wird, zeigt sich bei der Privatrechtstheorie (u. § 93).

Über Theorien in dem hier gemeinten Sinne verfügen die großen Rechtsgebiete. Sie dienen zunächst der Legitimierung des Rechtsgebiets, sind dann aber auch Anleitung zur Rechtsgewinnung de lege lata et ferenda. Im öffentlichen Recht sind dies zunächst die die Verfassungstheorie und eine Theorie der Grundrechte (u. § 90). Dagegen fehlt es an einer »Verwaltungsrechtstheorie«, die unter diesem Titel firmiert. Wir wollen keine neuen Titel einführen und verwenden die eingeführte Bezeichnung »Grundlagen des Verwaltungsrechts« § 91).

Das Symmetriebedürfnis verlangt nach einer Ö-Rechtstheorie analog zur Privatrechtstheorie. Die gibt es so nicht. Man fragt sich, ob das in der Sache begründet ist oder ob hier die Sprache die Gedanken vorgibt, denn für das öffentliche Recht fehlt es an einer substantivischen Benennung analog zum Privatrecht. Man spricht zwar informell von Öffentlichrechtlern, aber nicht von einer Öffentlichrechtstheorie. Theorie des öffentlichen Rechts klingt nicht halb so kompakt wie Privatrechtstheorie.

Die umfangreiche und unübersichtliche Privatrechtstheorie hat gewissermaßen einen allgemeinen Teil, der grundlegende Prinzipien des Rechtsgebiets – Privatautonomie und Gleichheit – herausstellt (u. §93) und einen besonderen Teil, in der die zentralen Institutionen des Privatrechts behandelt (u. § 94). Selbstverständlich verfügt auch das Strafrecht über seine eigene Theoriediskussion (u. § 95). Dagegen ist es nicht üblich, von einer Sozialrechtstheorie, einer Arbeitsrechtstheorie oder einer Steuerrechtstheorie zu sprechen, wiewohl man auch hier die grundsätzlichen Überlegungen zum Fach unter einer entsprechenden Überschrift zusammenfassen kann. Wir behandeln nur das Sozialrecht kurz in § 92 und verzichten drauf, die Theorieansätze für die beiden anderen Rechtsgebiete auch nur andeutungsweise zu referieren, wohl wissend, das wir damit ihrer Bedeutung nicht gerecht werden. Die Allgemeine Rechtslehre liefert nicht selbst die rechtsgebietsspezifischen Theorien, sondern zeigt nur auf, welche Fragen dort behandelt werden.

Wir sprechen hier und im Folgenden von Rechtsgebieten und den zugehörigen Theorien. Damit entziehen wir uns dem Trend, die Rechtswissenschaft in Disziplinen aufzuspalten. In der Tradition Franz von Lists spricht man seit bald 150 Jahren von der gesamten Strafrechtswissenschaft. Das war und ist insofern eine Besonderheit, als damit Strafrechtsdogmatik mit Kriminologie zusammengeführt werden sollte. Nur noch schwache Anklänge an solche Interdisziplinarität findet man bei der »Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft« und eine »Neuen Staatsrechtswissenschaft« die sich von der bloß rechtsanwendungsbezogenen Interpretation auf in Richtung auf ein social engineering fortbewegen wollten. Ein neuer Sammelband wählt als Titel nicht länger »Privatrechtstheorie, sondern »Zivilrechtswissenschaft« und wirft die Frage auf, ob man das Zivilrecht als eigene Wissenschaftsdisziplin anzusehen habe. In der Konsequenz solcher Aufspaltung liegt die Forderung nach interdisziplinärer Rechtswissenschaft, die die Disziplinen wieder zusammenführt. Aus der Sicht der Allgemeinen Rechtslehre sollte man sich solchen Diskussionen von vornherein verschließen.

IV.   Funktionen und Wirkungen des Rechts

Der Blick auf das Recht in seiner Gesamtheit als objektives Recht fordert die Frage nach Wirkung und Wirkungsweisen des Rechts heraus. Die Antwort kann man nicht allein der Rechtssoziologie überlassen, wenn man, wie es hier geschieht (u. xxx), die Rechtswissenschaft (auch) als Wissenschaft von der Gestaltung versteht. Dann muss man sich darüber Gedanken machen, wie die Einzelnormen in Institutionen zusammenwirken (u. § 87) und welche rechtlichen Handlungsformen zur Verfügung stehen. Dazu ist ein Blick auf Zwecke und Funktionen des Rechts hilfreich.

»Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts.« Dieses Motto stellte Rudolf von Ihering 1877 seinem epochemachenden Buch »Der Zweck im Recht« voran. Betrachtet man die Rechtsordnung als Ganzes, so ist es sinnlos, von Zwecken zu reden. Zwecke werden gesetzt. Zwecke sind daher immer nur mit bestimmten Ausgestaltungen der Rechtsordnung verbunden. Ihering wollte tatsächlich auch nur sagen, dass es die unendlich vielen Menschen sind, die sich am »Kampf ums Recht« beteiligen, die mit ihren Zwecksetzungen das Recht hervorbringen. Die Rechtsordnung ist in der historischen Situation von heute immer schon da. Niemand entscheidet darüber, ob es überhaupt Recht geben soll. Hinsichtlich der Rechtsordnung als ganzer kann man daher nur von Funktionen reden (zur Unterscheidung von Zwecken und Funktionen o. § 40 II).

Der Blick auf die Funktionen des Rechts geschieht aus der Perspektive des Beobachters. Rechtsphilosophen deuten die rechtliche Verfasstheit der Gesellschaft als einen Zustand, indem Freiheit ihr Dasein findet. Aus der Sicht der Ökonomie bildet das Recht eine Infrastruktur der Wirtschaft. Am ausführlichsten hat die Rechtssoziologie sich um allgemeine Funktionsaussagen über das Recht bemüht. Die inzwischen klassische Aussage lautet, das Rechtssystem sei ein dem politischen nachgeordnetes System mit der Funktion der Legitimation und Durchsetzung der im politischen System erarbeiteten Entscheidungen und der Absorption von Konflikten.

Die rechtssoziologische Literatur ist umfangreich: Harry C. Bredemeier, Law as an Integrative Mechanism, in: William M. Evan (Hg.), Law and Sociology, 1962, wieder abgedruckt in: Vilhelm Aubert (Hg.), Sociology of Law, 1969, 52-67; Vincenzo Ferrari, Funzioni del diritto, 1987; Maria Borucka-Arctowa, Die Gesellschaftlichen Funktionen des Rechts in der Doktrin und im Lichte Empirischer Forschungen, Rechtstheorie 12, 1981, 159-176; Axel Görlitz, Politische Funktionen des Rechts, 1976; Erhard Kausch, Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts, in: Dieter Grimm (Hg): Einführung in das Recht, 2. Aufl. 1991, 1-39; Niklas Luhmann, Die Funktion des Rechts: Erwartungssicherung oder Verhaltenssteuerung?, ARSP Beiheft 8, 1974, 31–45 [wiederabgedruckt in ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 73-91]; Manfred Rehbinder, Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts, FS René König, 1973, 354-368; Lawrence B. Solum, LTL: Functionalist Explanation in Legal Theory, 2013; JbRSoz I, 1970: Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft, darin: Erich Fechner, Funktionen des Rechts in der menschlichen Gesellschaft, S. 91-105, Niklas Luhmann, Zur Funktion der »subjektiven Rechte«, S. 321-330, Werner Maihofer, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, S. 11-36, Rüdiger Schott, Die Funktionen des Rechts in primitiven Gesellschaften, S. 107-174; Jens-Michael Priester, Rationalität und funktionale Analyse, S. 457-489.

Wichtig für eine funktionale Analyse ist die Angabe des Systembezugs. Die Funktion ist eine zweistellige Relation. Es ist also zu fragen nach der Funktion eines Systems S1 für ein bestimmtes System S2. Als System S1 kommen entweder das Rechtssystem insgesamt oder einzelne seiner Subsysteme (Justiz, Prozess, Strafvollstreckung, juristisches Publikationswesen usw.) in Betracht. Das System S2 kann wiederum die Gesamtgesellschaft sein oder eines ihrer Teilsysteme (Wirtschaft, Politik, Religion usw.) oder ein noch weiter ausdifferenziertes Subsystem, also z. B. die Universität, die Weinwirtschaft oder die Müllabfuhr. In der Regel fragt man nach der Funktion des Rechts für die Gesamtgesellschaft oder ihre primären Teilsysteme.

Als Ausgangspunkt einer Erörterung der Rechtsfunktionen dient gewöhnlich ein Aufsatz von Karl N. Llewellyn in dem er fünf law-jobs unterschiedet (The Normative, the Legal, and the Law-Jobs, Yale Law Journal 49, 1940, 1355-83). Er nennt an erster Stelle die Konfliktbereinigung, ferner Verhaltenssteuerung und die Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft. Diese drei Aufgaben gehören zu jedem Funktionskatalog. Weiter bezeichnet Llewellyn eine Funktion des Rechts, die stimulierend und integrierend zugleich sein soll (integrative, incentive, direction, net). Damit ist teils die aktive Beförderung sozialen Wandels gemeint, teils die Chance für die Bürger, sich innerhalb der vom Recht geschützten Freiräume zu entfalten. Als fünften law-job nennt Llewellyn die Rechtspflege (juristic method). Gemeint sind anscheinend die autonom fachmännische Verwaltung und Fortentwicklung des Rechts durch die Juristen, eigentlich gar keine Funktion des Rechts, sondern Struktur, also Voraussetzung dafür, dass und wie das Recht bestimmte Funktionen ausfüllt.

Für die Gesellschaft insgesamt bringt das Rechtssystem Erwartungssicherung und Konfliktregelung. Beides zusammen macht den wesentlichen Gehalt der sozialen Kontrolle aus. Für das politische System beschafft das Recht Legitimation, und es ermöglicht ihm Verhaltenssteuerung. Für die übrigen Teilsysteme leistet das Recht eine Abschirmung von der Politik. Die Politik kann nicht unvermittelt auf Wirtschaft, Religion, Kunst oder Familie zugreifen, ohne sich rechtlicher Formen zu bedienen und dabei rechtlich definierte Grenzen zu wahren.

Diese und andere Antworten sind sehr allgemein. Will man sie näher ausführen, so gelangt man sehr schnell (wie Ferrari) zu Fragestellungen, die aus anderem Zusammenhang bekannt sind, z. B. zu der Frage nach sozialer Kontrolle abweichenden Verhaltens durch Norm und Sanktion oder andere Prozesse. Oder man erörtert (wie Borucka-Arctowa) »Funktionen«, die auch als rechtspolitische Zwecksetzungen geläufig sind (Schutzfunktion, Präventivfunktion, Resozialisationsfunktion). Die Legitimationsfunktion des Rechts kann man auch kritisch mit der marxistischen Fragestellung nach dem Verhältnis von Basis und Überbau behandeln. Die Frage nach der Steuerungsfunktion kehrt wieder als Frage nach der Effektivität des Rechts.

Wenn man Recht und Staat eng zusammendenkt, wie es hier in der Konsequenz eines etatistischen Rechtsbegriffs geschieht, liegt es nahe, die Funktionen des Rechts vom Staat her anzusehen. Dabei hilft die Politikwissenschaft, wenn sie funktionierende und fragile oder gar gescheiterte Staaten vergleicht.

Zu diesem Zweck hat man ein Dutzend Indices entwickelt, die in ihren Fragestellungen und hinsichtlich des Datenmaterials und entsprechend auch in den Ergebnissen weitgehend konvergieren. Für weiterführende Hinweise sei hier verwiesen auf Jørgen Møller/ Svend-Erik Skaaning, Varieties of Measurement: A Comparative Assessment of Relatively New Democracy Ratings based on Original Data, V-Dem Working Paper 2021, sowie auf die Darstellung über »Vergleichende Messung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« in Rechtssoziologie-online § 100 II.

Der US-amerikanische Think-Tank Fund for Peace bewertet Staaten auf einer Skala von 1 bis 10 und nutzt für seinen Index zwölf Kriterien. Das German Institute of Development and Sustainability (IDOS) in Bonn verwendet nur drei Kriterien: Durchsetzung des Gewaltmonopols (authority), öffentliche Dienstleistungen (capacity) und Legitimität (legitimacy). Auf diesen Kriterien beruhen die »sechs grund­le­gen­de Fra­gi­li­täts­pro­fi­le«, die das BMZ auf seiner Internetseite anführt:

  • »zer­fal­len­de« oder dys­funk­tio­na­le Staa­ten mit er­heb­li­chen Schwä­chen in al­len Di­men­sio­nen, häu­fig ge­prägt durch ge­walt­sa­me Aus­ein­an­der­set­zun­gen bis hin zu Bür­ger­krie­gen;
  • »schwa­che« Staa­ten oh­ne Ge­walt­kon­flik­te, aber mit ge­rin­ger Leis­tungs­fä­hig­keit der staat­li­chen In­sti­tu­tio­nen, bei­spiels­wei­se bei der Er­brin­gung von Ba­sis­dienst­leis­tun­gen;
  • »her­aus­ge­for­der­te« Staa­ten, die re­la­tiv hand­lungs­fä­hig und le­gi­tim sind, aber er­heb­li­chen Si­cher­heits­be­dro­hun­gen (zum Bei­spiel durch lo­ka­le Mi­li­zen) aus­ge­setzt sind;
  • »il­le­gi­ti­me« (und häu­fig re­pres­si­ve) Staa­ten, de­ren po­li­ti­sche Ord­nung trotz oder ge­ra­de we­gen um­fang­rei­cher staat­li­cher Kon­trol­le von wei­ten Be­völ­ke­rungs­tei­len nicht als le­gi­tim ak­zep­tiert ist und die da­her nur schein­bar sta­bil sind;
  • mä­ßig funk­tio­nie­ren­de Staa­ten mit mitt­le­ren Aus­prä­gun­gen von Fra­gi­li­tät in al­len Di­men­sio­nen, wo­bei die Her­aus­for­de­run­gen vor al­lem beim Ge­walt­mo­no­pol (Be­dro­hun­gen bei­spiels­wei­se durch Ter­ro­ris­mus oder or­ga­ni­sier­te Kri­mi­na­li­tät) und bei der Leis­tungs­fä­hig­keit lie­gen;
  • gut »funk­tio­nie­ren­de« Staa­ten mit ho­her Le­gi­ti­mi­tät, ge­si­cher­tem Ge­walt­mo­no­pol und aus­ge­präg­ter Fä­hig­keit, Ba­sis­dienst­leis­tun­gen zu er­brin­gen.