I. Das Rechtsverhältnis als »Organismus«
Wenn man so will, kann man die rechtliche Verfasstheit der Gesellschaft als Rechtsverhältnis bezeichnen. Damit begibt man sich auf das Gebiet der Rechtsphilosophie. Theoretische oder praktische Folgerungen lassen sich daraus nicht ziehen.
Streng genommen begründet bereits ein einzelnes subjektives Recht eine korrespondierende Pflicht und damit eine Relation zwischen zwei Personen, also ein Rechtsverhältnis. Vollkommen korrekt heißt es daher in § 241 I 1 BGB, kraft des Schuldverhältnisses sei der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Das ist der enge und technische Begriff des Schuldverhältnisses, der keine besonderen Probleme bereitet.
Damit scheiden »Objekte« als Endpunkte oder Beteiligte an einem Rechtsverhältnis aus. Auch sachenrechtliche Beziehungen sind Rechtsbeziehungen zwischen Personen in Ansehung einer Sache. Das Rechtsverhältnis, das Gegenstand einer Feststellungsklage nach § 256 ZPO sein kann, besteht nie zwischen einer Person und Sache (so aber Stein-Jonas-Schumann, Rn. 21 zu § 256 ZPO), sondern immer nur zwischen Rechtssubjekten und hat ggfs. Sachen lediglich zum Thema. »Dingliche Verwaltungsakte«, z.B. die Widmung einer Straße für den öffentlichen Verkehr, begründen keine Rechte und Pflichten der Straße, sondern ändern die Rechtslage für die Straßenbenutzer (vgl. die überflüssige Kontroverse zwischen Hadding, JZ 1986, 926, und Niehues, JZ 1987, 453).
Subjektive Rechte entstehen und bestehen nur selten einzeln und isoliert, sondern erscheinen meistens in »Klumpen« oder »Bündeln«, die sachlich zusammengehören und mehr oder weniger stark wechselseitig voneinander abhängen. Schon aus dem einfachsten Vertrag folgen in der Regel für beide Seiten Rechte und Pflichten, und neben den Hauptpflichten können oft Nebenpflichten akut werden. Das alles wird im Begriff des Rechtsverhältnisses zusammengefasst. Das Rechtsverhältnis erfüllt damit für die subjektiven Rechte die gleiche Funktion wie die Institution für das objektive Recht (u. § 86).
Nach verbreiteter Vorstellung, die schon auf Savigny zurückgeht (o. § 77 II), ist das Rechtsverhältnis, und hier insbesondere das Schuldverhältnis, jedoch nicht bloß die Summe der zwischen zwei oder mehreren Personen bestehenden Rechte und Pflichten, die nach ihrem Entstehungsgrund sachlich zusammengehören und mehr oder weniger stark wechselseitig voneinander abhängen. Das Schuldverhältnis soll vielmehr einen »Organismus«, ein »Gefüge« oder einen »Prozess« bilden und »gestalttheoretisch« als »Inbegriff« oder »Ganzheit« zu erfassen sein. Dreierlei ist an dieser Betrachtungsweise sicherlich richtig.
(1) Wenn man sich ein Schuldverhältnis vorstellt, z.B. einen Mietvertrag, hat man zunächst die Hauptpflichten, also die Pflicht des Vermieters zur Überlassung der Mietsache und die Pflicht des Mieters zur Mietzinszahlung, vor Augen. Vielleicht kommen auch noch die im Gesetz besonders benannten Nebenrechte zur Kündigung und auf Herausgabe der Mietsache nach Beendigung des Mietverhältnisses in den Blick. Tatsächlich verbindet sich aber mit einem Schuldverhältnis, zumal mit einem Dauerschuldverhältnis, eine Vielzahl unbenannter Nebenrechte und Nebenpflichten, die nur von Fall zu Fall in ganz unterschiedlicher Weise aktuell werden und die sich im Voraus auch gar nicht alle bedenken und benennen lassen. Insoweit ist es sinnvoll, von einem Rechtsverhältnis zu reden, um anzuzeigen, dass sich die wechselseitigen Rechte und Pflichten nicht in den Hauptpflichten erschöpfen.
(2) Ein Rechtsverhältnis zeichnet sich dadurch aus, dass die wechselseitigen Rechte und Pflichten nicht isoliert bestehen, sondern je nach der Art des Rechtsverhältnisses in ihrem konkreten Inhalt und Bestand voneinander abhängig sind. Paradebeispiel für diesen Zusammenhang ist das Synallagma des gegenseitigen Vertrages, wie es in den §§ 320 bis 326 BGB geregelt ist. Dieser Zusammenhang hat zur Folge, dass sich die wechselseitigen Rechte und Pflichten im Laufe der Zeit in Abhängigkeit voneinander verändern. Das mag man Prozess nennen. Eine solche Benennung bringt indessen keine neuen Einsichten.
(3) Die Vorstellung vom Rechtsverhältnis lenkt den Blick auf die Tatsache, dass zwischen den beteiligten Personen meistens wechselseitige Rechte und Pflichten bestehen. So fordert das Rechtsverhältnis – im Gegensatz zum isolierten subjektiven Recht – eine Abwägung im Hinblick auf die gerechte Verteilung von Rechten und Pflichten heraus.
(4) Dauerrechtsverhältnisse, die zu Beginn festgeschrieben werden, können über die Zeit einen Änderungsbedarf entwickeln. Für viele Verhältnisse dieser Art sieht das Gesetz eine Kündigung aus wichtigem Grund vor. Es liegt nahe, ein solche Kündigungsrecht im Wege der Rechtanalogie auf alle Dauerschuldverhältnisse auszudehnen. Anpassungsbedarf besteht oft schon unterhalb der Schwelle des wichtigen Grundes. Daraus entsteht die Frage nach einer Nebenpflicht der Beteiligten zur Anpassung des Rechtsverhältnisses oder nach einem richterlichen Getaltungsrecht.
»Verhältnis« und »Organismus« verweisen auf den Gedanken, dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile. Wenn neue Fragen auftauchen, möchte man aus dem »Mehrwert« des Ganzen die Antwort schöpfen. Diese »gestalttheoretische« oder »organische« Auffassung des Rechtsverhältnisses entspricht der holistischen Ablehnung der Imperativentheorie. Es handelt sich um eine Parallele zum institutionellen Rechtsdenken in der Form des »konkreten Ordnungsdenkens« (u. § 86 II 2). Ein solches Denken in Ganzheiten gestattet dem Könner Darstellungen von schriftstellerischer Qualität. Karl Larenz hat dafür eindrucksvolle Belege geliefert. Andere verführt es zu einer Ganzheits- und Organismusmetaphorik, die die Gedanken eher verdunkelt als erhellt. Es ist kein Zufall, dass das aktionenrechtliche Denken in subjektiven Rechten als individualistisches Anspruchsdenken bekämpft wurde. In »Verhältnissen« und »Institutionen« lässt sich Ideologie besser verpacken als in Ansprüchen. Man sieht nicht so schnell das Ergebnis für den Einzelnen.
II. Das Schuldverhältnis
III. Das Prozessrechtsverhältnis
IV. Besonderes Gewaltverhältnis und Sonderrechtsverhältnisse
V. Das Verwaltungsrechtsverhältnis
VI. Netzwerke als Rechtsverhältnis