§ 82 Von der Verletztenklage zur Interessentenklage

I. Die Organisation des Rechtsschutzes

Literatur: Klaus Ferdinand Gärditz, Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter dem Einfluss des Unionsrechts, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages, 2016, D 1 – 104; Sabine Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz, 2012; dies., (Auf)Brüche des Öffentlichen Rechts: von der Verletztenklage zur Interessentenklage, DVBl. 130, 2015, 929-937; Wassilios Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß, 1979.

1.  Verletztenklage, Interessentenklage, Amtsklage und Popularklage

Für die Organisation des gerichtlichen Rechtschutzes und damit für die Zuteilung von subjektiven Rechten im technischen Sinne kommen prinzipiell die in der Überschrift genannten vier Möglichkeiten in Betracht. Denkbar wäre immerhin als fünfte Organisationsform des Rechtsschutzes eine Amtsjustiz, die ohne externen Anstoß Pflichtverletzungen verfolgte, die also ohne subjektive Individualrechte auskäme. Diese Form wird aber nicht ernsthaft in Betracht gezogen, denn mit ihr würde der grundsätzlich gebotene Individualbezug des Rechts verneint.

Bei der Organisation des Rechtsschutzes ist der Gesetzgeber frei. Er hat die Wahl zwischen den verschiedenen Modellen. Die Verletztenklage war und ist das Modell des Zivilrechts, ohne dass darüber viel diskutiert wird. Im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht dominiert die Amtsklage. Die deutsche VwGO hat den Rechtsschutz durch die §§ 42 II, 113 über die Verletztenklage organisiert. Dabei resultiert die Klageberechtigung aus der Verletzung einer Rechtsnorm, die ihrem Zweck nach zum Schutz der Interessen gerade auch des Klägers bestimmt ist.

Die meisten Länder Europas verwenden dagegen das Modell der Interessentenklage (u. V). Der Begriff ist leider missverständlich, da es auch und gerade bei der Verletztenklage um Interessen geht, weil Rechtspflichten eingeklagt werden, die speziell dem Schutz des Klägers und damit seinen Interessen dienen. Aber die Klage reicht nur so weit, wie der Kläger durch Missachtung der Schutznorm verletzt ist. Auch bei der Interessentenklage wird, wie der Name sagt, ein Interessenbezug hergestellt. Dieser dient aber nur zur Abwehr von Popularklagen und fällt deshalb relativ schwach und unspezifisch aus. Die Interessentenklage steht jedem zur Verfügung, dem die Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts »einen materiellen oder ideellen, unmittelbaren oder mittelbaren, aktuellen oder künftigen, jedenfalls ›meßbaren‹ Vorteil bringt« (Skouris S. 11). Der Prozess führt zur Eröffnung eines objektiv-rechtlichen Kontrollverfahrens, in dem das für die Zulässigkeit der Klage maßgebliche Interesse nicht länger relevant ist.

Das geforderte Interesse wird von den verschiedenen Rechtsordnungen und je nach Verfahren sehr unterschiedlich bestimmt. Nach französischem Recht heißt diese Voraussetzung intérêt pour agir, nach § 47 II VwGO Antragsbefugnis. Art. 263 IV AEUV verlangt eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit und das Schweizer verwaltungsgerichtliche Verfahren eine Beschwerdelegitimation (Art. 37 VGG i.V.m. Art 48 VwVG).

Das Unionsrecht verlangt nicht, dass die Zulässigkeit einer gegen eine Handlung der Union erhobenen Einrede der Rechtswidrigkeit vor einem nationalen Gericht voraussetzt, dass diese Handlung den Einzelnen, der diese Einrede erhebt, unmittelbar und individuell betrifft (EUGH U v. 5. 7. 2021 C-911/19).

Zwischen der Interessentenklage und der Popularklage steht die Verbandsklage. Oft wird sie als Sonderfall der Interessentenklage eingeordnet, weil Verbände als Organisationen der Zivilgesellschaft ein gesteigertes Interesse an Allgemeinwohlbelangen nehmen, auf die sie sich spezialisiert haben. Das Interesse ergibt sich aus den »Belange[n], die zu den Zielen gehören, die die Vereinigung nach ihrer Satzung fördert« (§ 2 IV 1 UmwRG).

Eine unlimitierte Popularklage kennen weder das Unionsrecht noch die nationalen Verwaltungsrechte. Popularklagen gelten grundsätzlich als unzulässig. Berühmte Ausnahme ist die Bayerische Popularklage nach Art. 98 S. 4 BV, Art. 55 BayVfGHG, die ein Normenkontrollverfahren eröffnet, in dem Landesrecht auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüft wird.

Auch die Klage auf Nichtigerklärung eines Patents (§ 81 PatentG) ist als Popularklage ausgestaltet. Ein Patent kann also grundsätzlich von jedermann angegriffen werden. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es im allgemeinen Interesse liegt, dass zu Unrecht erteilte Schutzrechte beseitigt werden.

Die Diskussion um das subjektive Recht, soweit sie nicht rechtspolitisch, sondern de lege lata geführt wird, betrifft die Frage, ob und in welchem Umfang die Gerichte im Wege der Auslegung oder Rechtsfortbildung Klagerechte zuerkennen sollen, soweit der Gesetzgeber keine Klarheit geschaffen hat. Die Diskussion konzentriert sich seit jeher auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren. Aus Europa und der Aarhus-Konvention wächst insoweit der Druck zur Erweiterung der Klagebefugnisse.

2.          Prüfungsmaßstab und Kontrolldichte

Sekundär gehört zur Organisation des Gerichtsverfahrens die Festlegung von Prüfungsmaßstab und Kontrolldichte.

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II. Popular- und Verbandsklagen
1. Was spricht eigentlich gegen Popularklagen?

2. Verbandsklagen

III. Kollektiver Rechtsschutz

IV. Subjektive Rechte als Hebel des Europarechts

V. Klageberechtigung im Rechtsvergleich

VI. Klagen in übergeordnetem Interesse
1. Strategische Prozessführung

2. Politische Mobilisierung des Rechts