Literatur: Johannes Buchheim, Actio, Anspruch, subjektives Recht: Eine aktionenrechtliche Rekonstruktion des Verwaltungsrechts, 2017; Eugen Bucher, Für mehr Aktionendenken, AcP 186, 1986, 1-73; Andreas Funke, Ansprüche und Klagen im Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 52, 2019, 239-258; Wolfgang Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts. Eine vergleichende Darstellung von ZPO FGG VwGO FGO SGG, 2. Aufl. 1974; Konrad Hellwig, Anspruch und Klagrecht, 1900; Wolfram Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, 1970; Horst Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, 482-489; Fabian Klinck, Zwischen actio und Anspruch – Klagebefugnis als Verfügungsgegenstand, in: FS Krampe 2013, 173-191; Hans Peter, Actio und Writ, 1957; Wilhelm Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozessrecht seit Savigny, 1965; Georg Steinberg, Richterliche Gewalt und individuelle Freiheit. Ein Ansatz zu einer allgemeinen Prozesslehre, 2010; Wolfgang Zöllner, Materielles Recht und Prozessrecht, AcP 190, 1990, 471-495.
I. Aktionendenken und Anspruchsdenken
Die rechtstheoretische Position, nach der die Klagemöglichkeit für das subjektive Recht im Sinne eines Anspruchs wesentlich oder beides gar identisch ist, wird oft als Aktionendenken zurückgewiesen. Das Aktionendenken gilt als überholte Erinnerung an das römische Recht, überholt durch das (seit Windscheid) moderne Anspruchsdenken, das allein im materiellen Recht stattfindet. Dahinter verbirgt sich jedoch ein Missverständnis.
Heute, in der Zeit des voll entwickelten Rechtsstaats, ist es selbstverständlich, dass alle wichtigen sozialen Beziehungen Rechts- und damit Gerichtsschutz genießen. Dagegen blieben in früheren Gesellschaften viele Normen ohne rechtlich organisierte Sanktionen. Das römische Obligationenrecht ließ nur für bestimmte Verträge nach einer Art Enumerationsprinzip die Klage zu. Das geschah, in dem der Praetor eine actio, eben eine Klage, verlieh. Mittelalterliche arbores actionum zeigen bis zu 169 Klagen. In jener Zeit war Rechtsschutz noch etwas Besonderes, so dass man nicht in Rechten, sondern in Klagemöglichkeiten dachte. Ganz ähnlich lag es mit dem Common Law im mittelalterlichen England. Die Durchsetzung eines Anspruchs setzte die Existenz einer darauf zugeschnittenen Klageform, eines writ, voraus. Existierte ein writ – im Jahre 1227 kannte man davon 56 – so bestand der Anspruch; ohne writ gab es keine Klagemöglichkeit, das heißt, der Anspruch bestand (als rechtlicher) nicht.
Ein wichtiger Schritt in der Rechtsentwicklung, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog, war der Übergang zur Maxime jura novit curia – das Gericht kennt das Recht. Bis dahin war es zum Erfolg einer Klage notwendig, dass der Kläger nicht nur einen Antrag stellte und dazu einen Sachverhalt vortrug, sondern dass er sich auch auf einen bestimmten Anspruch, eine actio, berief. Der Grundsatz jura novit curia besagt nicht bloß, dass die Richter sich im Recht auskennen (sollen). Er verlangt vielmehr, dass das Gericht von Amts wegen alle verfügbaren Anspruchsgrundlagen zur Anwendung bringt. Es genügt daher, wenn der Kläger zu seinem Antrag Tatsachen mitteilt, die irgendeine Anspruchsgrundlage ausfüllen. Eine bestimmte Anspruchsnorm braucht nicht bezeichnet zu werden. Für den Erfolg der Klage kommt es nur noch darauf an, dass wirklich ein materieller Anspruch besteht: Da mihi factum, dabo tibi jus. (Gib mir die Fakten, ich sage dir, was Recht ist.)
Damit war die gedankliche Trennung von materiellem Recht und Prozess vorbereitet. Windscheid war es, der sie mit seinem 1856 erschienenen Buch »Die Actio des römischen Zivilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts« in die Wissenschaft einbrachte. Er stellte sich die Aufgabe, »dasjenige, was das römische Recht in der Actio ausdrückt, in die Sprache unserer Rechtsanschauung zu übertragen« (S. 1). Er ersetzte die alte actio der Römer, eben weil sie so selbstverständlich geworden war, durch den materiellrechtlichen Begriff des Anspruchs:
»Für das, was hier Anspruch genannt worden ist, haben die Römer einen unmittelbar entsprechenden Ausdruck nicht. Ja man kann sagen, daß ihnen der Begriff fehlt. Aber sie haben einen anderen Begriff, welcher die Stelle ersetzt. Dieser Begriff ist der Begriff actio … Nach einer ihnen durchaus geläufigen Auffassungsweise ist die gerichtliche Verfolgbarkeit eines Anspruchs ein Ausdruck seiner rechtlichen Anerkennung überhaupt; statt zu sagen: einem Anspruche steht das Recht zur Seite, sagen sie: es steht ihm das Gericht zur Seite. Was wir Rechtsanspruch nennen, ist für die Römer Gerichtsanspruch. Die römische Auffassung erklärt sich vornehmlich aus historischen Gründen; uns ist sie fremd. Wollten wir heutzutage von einem Rechte der gerichtlichen Verfolgung, von einem Klagerechte reden, statt von einem Rechtsanspruche schlechthin, so würden wir die Folge nennen statt des Grundes. Für unsere Auffassung ist die gerichtliche Verfolgbarkeit eines Anspruchs nichts als eine Konsequenz seiner rechtlichen Anerkennung; sie ist eine Seite des Anspruchs, nicht dasjenige, was den Anspruch ausmacht.« (Lehrbuch des Pandektenrechts, 5. Aufl. 1. Band, 1879, § 44, S. 106 f.)
Weil die Klagbarkeit aller Ansprüche so selbstverständlich geworden war, entlastete Windscheid die Definition des Anspruchs oder subjektiven Rechts von dem in der römischen actio enthaltenen Element der gerichtlichen Verfolgbarkeit. Das bedeutet aber nicht, dass er der Sache nach darauf verzichtete. Er zog dieses Element nur vor die Klammer, indem er neben das materielle Recht ein »Recht auf Hilfe des Staates« stellte. Heute spricht man vom allgemeinen Rechtsschutzanspruch oder dem Anspruch auf Justizgewährung.
Nachdem die Klagemöglichkeit im Laufe der Entwicklung von der Ausnahme zur Regel geworden ist, denkt der Jurist heute zuerst an das materielle (subjektive) Recht und sieht die Klagemöglichkeit als etwas Sekundäres, als bloßen Ausfluss des Rechts. Der zentrale Einwand gegen die Aktionenlehre geht deshalb dahin, dass sie die Bedeutung des Rechts außerhalb des Rechtsstreits nicht hinreichend erfassen könne. Der Einwand ist jedoch verfehlt.
Betrachtet man subjektive Rechte nur als materielle, also ohne Rücksicht auf die Klageberechtigung, so blickt man auf die Verhaltensnormen. Dagegen ist das Aktionendenken, das von der Klageberechtigung ausgeht, ein Denken in Sanktionsnormen. Es ist klar, dass Sanktionsnormen immer schon Verhaltensnormen voraussetzen. Umgekehrt ist es weniger deutlich, dass Verhaltensnormen immer mit Sanktionsnormen einhergehen. Verhaltensnormen gab es vor dem Recht und gibt es auch heute außerhalb des Rechts. Recht ist überhaupt nur an der spezifischen Art der Sanktionen zu erkennen (o. § 37). Insofern ist das Aktionendenken als Rechtsdenken ursprünglicher. Erst die Selbstverständlichkeit des Rechtsschutzes machte das Denken in Verhaltensnormen ohne die ständige Mitberücksichtigung der Sanktionen als Rechtsdenken möglich.
Die Verhaltensnorm und mit ihr das materielle subjektive Recht existieren unabhängig von einer Rechtsverletzung. Viel Verwirrung ist dadurch entstanden, dass man meinte, das (materielle) Recht werde erst durch eine Rechtsverletzung von der bloßen Forderung zum klagebewehrten Anspruch
Diese Ansicht vertritt jetzt wieder Johann Braun (Leistung und Sorgfalt, AcP 205, 2005, 127/134 ff. und Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 2014, 41ff). Er hat allerdings ein wichtiges und berechtigtes Anliegen. Er weist darauf hin, dass Rechtsschutz für absolute Rechte erst nach einer Rechtsverletzung möglich ist, durch die auf einer objektiven Ebene Abwehrrechte (§§ 12, 1004 BGB) und verschuldensabhängig Schadensersatzansprüche entstehen. Diesem Anliegen tragen wir Rechnung, indem wir die absoluten Rechte als primäre Rechte einordnen, aus denen sekundäre Abwehr- und Schadensersatzansprüche entstehen. Diese sekundären Ansprüche sind dann aber ebenso wie Forderungen aller Art einklagbar. Braun geht allerdings noch einen Schritt weiter. Er betont, dass der Rechtsschutz auch für relative Rechte zweistufig organisiert sei, nämlich auf objektiver Ebene durch den Leistungs- oder Erfüllungsanspruch und verschuldensabhängig durch Schadensersatzansprüche. Das ist wohl zutreffend, macht es aber nicht notwendig, auch begrifflich zwischen der ursprünglichen Forderung und dem klagbaren Anspruch unterscheiden. Die Klageberechtigung ist bei Forderungen als bedingte immer schon vorhanden. Als solche qualifiziert sie die Begünstigung durch Verhaltensnormen zum subjektiven Recht. Die Rechtsverletzung ist nur noch eine Erfolgsbedingung der Klage.
Zum Glück wird die große Masse aller rechtlich geordneten Pflichten ohne weiteres erfüllt. Deshalb bleiben die Pflichten doch Rechtspflichten und der ihnen entsprechende Anspruch ein subjektives Recht. Die Klageberechtigung ist dem subjektiven Recht unabhängig von einer Rechtsverletzung inhärent. Allerdings setzt eine erfolgreiche Klage in der Regel eine Rechtsverletzung voraus. Nur ausnahmsweise kann eine Klage auch ohne vorgängige Rechtsverletzung zum Erfolg führen. Das gilt beispielsweise für Unterhaltsansprüche. Der nichteheliche Vater mag noch so regelmäßig und großzügig zahlen. Er wird doch verurteilt.
In der Regel werden Klagen ohne vorgängige Rechtsverletzung, z.B. die Klage auf Rückzahlung eines Darlehens vor Fälligkeit, als unbegründet abgewiesen. Eine Feststellungsklage ohne Beeinträchtigung des fraglichen Rechtsverhältnisses ist mangels Rechtsschutzinteresse unzulässig. Unzulässig ist auch die Klage auf künftige Leistung, wenn die Voraussetzungen der §§ 257–259 ZPO fehlen.
Das Denken in den Verhaltensnormen, die das materielle Recht ausmachen, führt in der Regel nicht zu Problemen. Im Gegenteil, es wäre unnötig kompliziert, die Klagemöglichkeit stets mitzudenken. Aber diese Vereinfachung ist nur solange unschädlich, wie das subjektive Recht außer Frage steht. Sobald es zweifelhaft wird, wen die Verhaltensnormen des objektiven Rechts berechtigen, kommt die Klageberechtigung wieder in den Blick, denn die Entscheidung zugunsten eines subjektiven Rechts bedeutet die Anerkennung einer actio. Erst wenn man sich dem öffentlichen Recht zuwendet, wird die Bedeutung solcher Unterscheidungen klar. Dann zeigt sich nämlich, dass es darauf ankommt, wer die Sanktionen auslösen kann, wer also Inhaber subjektiver Rechte ist.
II. Die »Emanzipation« des Prozessrechts
III. Sachlegitimation und Prozessführungsbefugnis
IV. Unzulässigkeit wegen Unbegründetheit?
1. Klagebefugnis nach § 42 II VwGO
2. Frivole und offensichtlich unbegründete Klagen
V. Subjektive Rechte als materielle Rechte
Literatur: Mathias Hong, Subjektive Rechte und Schutznormtheorie im europäischen Verwaltungsrechtsraum, JZ 2012, 380-388; Arno Scherzberg, Subjektiv-öffentliche Rechte, in: Dirk Ehlers/Hermann Pünder (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, 373-404.
Der Blick auf die Klageberechtigung spielt sich auf der Verfahrensebene ab. Das Leben findet aber nicht vor Gericht statt. Deshalb ist es angemessen, subjektive Rechte grundsätzlich als materielle Rechte zu behandeln, ohne die Klageberechtigung zu bedenken. Das bedeutet, jedenfalls für das Privatrecht eine Vereinfachung, weil dort die Klagebefugnis nur ausnahmsweise zweifelhaft wird. Für das öffentliche Recht liegen die Dinge anders, weil dort heftig über Klagerechte diskutiert wird, die kein Individualinteresse schützen sollen, sondern mit der Notwendigkeit der Mobilisierung Privater zur Geltendmachung eines Allgemeininteresses begründet werden. Deshalb sollte man gerade vom öffentlichen Recht erwarten, dass es die Klagebefugnis als Element des subjektiven Rechts behandelt. Doch genau umgekehrt wendet man sich dort gegen das nunmehr abschätzig so genannte Aktionendenken und betont, es sei »eine Errungenschaft der deutschen rechtstheoretischen Tradition, sorgfältig zu unterscheiden zwischen dem materiellen subjektiven Recht einerseits … und seiner prozessualen Bewehrung … andererseits« (Hong S. 383).
»Rechtsmacht lässt sich heute, nach der Überwindung des actionenrechtlichen Denkens, nur als materiell-rechtliche Berechtigung verstehen. Sie ist damit von der Gewährung von Klage und Beschwerdebefugnissen zu unterscheiden. Sie liegt in der für das subjektive Recht nach den obigen Überlegungen konstitutiven Berechtigung, einen Normbefehl gegenüber einem verpflichteten Rechtssubjekt geltend zu machen. Rechtsschutz ist nicht sein Inhalt, sondern das rechtstechnische Mittel zu seiner Durchsetzung.« (Scherzberg Rn. 4)
Als Argument gegen das Aktionendenken, also gegen die Gleichsetzung von Anspruch und Klagerecht, verweist man auf Art. 19 IV 1 GG und §§ 42 II, 113 I 1 VwGO, Bestimmungen, die für den Rechtsschutz ein (materielles) »Recht« voraussetzen. Aber Rechte ohne Rechtsschutz sind keine Rechte. Der Gesetzgeber verfasst keine Rechtstheorie. § 113 I 1 VwGO kommt der Theorie mit der Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und »Recht« aber schon sehr nahe. Die Rechtswidrigkeit folgt aus einem Verstoß des Beklagten gegen seine Rechtspflichten. Das »Recht« dagegen verweist auf die Klagebefugnis, die sich entweder unmittelbar aus einem Gesetz ergibt oder mit der Schutznormtheorie zu ermitteln ist. Soweit die Klagebefugnis unproblematisch ist, lässt sich ohne weiteres mit »materiellen Rechten« hantieren. Sobald sie aber zweifelhaft wird, kommt man aber doch wieder auf die Frage zurück: Gibt es hier für das Rechtssubjekt S eine actio bzw. sollte S hier eine Klagemöglichkeit haben?