I. Rechte und Pflichten
Literatur: Marietta Auer, Subjektive Rechte bei Pufendorf und Kant, AcP 208, 584-634; Gregor Bachmann/Jan-Erik Schirmer, Leistungs- und Schutzpflichten in der Zivilrechtsdogmatik, in: 2. FS Canaris 2017, 371-401; Joseph Raz, The Morality of Freedom, 1986; Thomas Riehm, Rechtsgrund – Pflicht – Anspruch. Zur Dogmatik des Schuldverhältnisses, in: FS Canaris zum 2017, 345-369.
Subjektive Rechte haben vor oder außerhalb des objektiven Rechts keinen Bestand. Die Rechtsordnung besteht aus Normen und nur aus Normen. Die Summe dieser Normen bildet das objektive Recht. Der Inhalt des objektiven Rechts wird dargestellt, indem man Thema und Anwendungsbedingungen der Normen beschreibt. Das objektive Recht hat aber auch zwei subjektive Pole, auf der »negativen« Seite den Adressaten, der verpflichtet wird, und auf der »positiven« alle diejenigen Personen, die berechtigt sind, die Einhaltung der Norm einzufordern.
Es besteht ein großes praktisches Interesse, den Inhalt des objektiven Rechts subjektbezogen zu formulieren. Eben das geschieht mit dem Begriff des subjektiven Rechts. Die Rede von subjektiven Rechten ist also eine andere Darstellungsweise des objektiven Rechts. Normen, aus denen überhaupt niemand klagen kann, sind keine Rechtsnormen. Es gibt keine (vollständige) Rechtsnorm ohne Klageberechtigten. Es gibt kein bloß objektives Recht.
Das objektive Recht kann grundsätzlich nur Gebote und Verbote aussprechen und damit Pflichten anordnen. Ein subjektives Recht entsteht erst aus dem Zusammenwirken mehrerer Ge- und Verbote derart, dass der Pflicht im Streitfall klagbar wird. Anders formuliert: Rechtspflichten sind primär. Sie begründen zunächst nur faktische Begünstigungen. Zu einem subjektiven Recht werden diese erst in Kombination mit weiteren Geboten, die den Begünstigten ermächtigen, die Verpflichtung notfalls gerichtlich geltend zu machen. Das subjektive Recht im technischen Sinne besteht in der Rechtsmacht, »die Nichterfüllung der Pflicht, deren Reflex dieses Recht ist, durch Klage geltend zu machen« (Kelsen RR 139). Jede Berechtigung ist daher nur das Resultat von Verpflichtungen. Umgekehrt stehen aber auch jeder Verpflichtung Berechtigungen gegenüber. Wenn niemand sie geltend machen könnte, wäre die Verpflichtung keine (Korrespondenzprinzip).
Schon vor und außerhalb einer Klage bietet das Normengefüge manche Möglichkeiten, die Erfüllung von Rechtspflichten geltend zu machen. Der Gläubiger kann den Schuldner mahnen, der Angegriffene Notwehr üben oder ausnahmsweise sogar im Wege der Selbsthilfe tätig werden. Bei öffentlich-rechtlichen Individualansprüchen kommen Widersprüche und Beschwerden, Anzeigen und Petitionen in Betracht. Umgekehrt kann die öffentliche Verwaltung Rechte des Staates durch Verwaltungsakt und Verwaltungszwang einfordern. Aber die Klagbarkeit bleibt letztlich das einzige unverwechselbare Kennzeichen des subjektiven Rechts. Nur durch die rechtsspezifische Sanktion, also durch die Möglichkeit gerichtlicher Geltendmachung, lassen sich rechtliche von nichtrechtlichen Positionen unterscheiden. Ein subjektives Recht entsteht erst durch die Möglichkeit, Verpflichtungen vor Gericht einzufordern.
Das Korrespondenzprinzip stößt allerdings auf Widerspruch (Auer S. 598; Raz S. 171ff; Somló S. 444f). Einerseits wird behauptet, dass keineswegs aus jeder Verpflichtung auch ein anderer berechtigt sei. Viele Pflichten führten lediglich zu faktischen Begünstigungen, denen keine subjektiven Rechte gegenüberstünden. Andererseits wird angeführt, nicht mit allen Rechten korrespondierten Pflichten. Für Rechte, insbesondere Grundrechte, könne man die zugehörigen Pflichten gar nicht oder jedenfalls nicht vollständig angeben.
Oberflächlich ist das zunächst ein Streit um Worte. Was als Rechte ohne Pflichten erscheint, sind entweder zusammenfassende Bezeichnungen für ein Bündel von Rechten wie z. B. das Eigentum (»primäre« Rechte, o. § 78 I). Oder es handelt sich um Generalklauseln, die erst zu klagbaren Rechten konkretisiert werden müssen, wie die Grund- und Menschenrechte. Weder das Eigentum noch Menschenrechte können als solche eingeklagt werden. Will man Menschenrechte oder das Eigentum dennoch als Rechte benennen, verwendet man einen doppelten Rechtsbegriff, den wir durch die Unterscheidung von Ansprüchen und primären Rechten vermeiden. Ähnliches gilt, wenn »Freiheit« als subjektives Recht postuliert wird. Negative Freiheit ist lediglich die Abwesenheit von Verboten (=Freistellung von Verhalten). Zum subjektiven Recht wird Freiheit erst durch eine Norm, die anderen ihre Achtung zur Pflicht macht.
An der Symmetrie fehlt es grundsätzlich auch nicht (Bachmann/Schirmer) bei Neben- und Schutzpflichten. Aber sie sind aus praktischen Gründen kaum einklagbar, weil sie im Voraus selten in vollstreckungsfähiger Weise konkretisierbar sind. Sie sind jedoch insofern sanktioniert, als aus ihrer Verletzung subjektive Rechte auf Schadensersatz entstehen. Im Übrigen gibt es Pflichten ohne korrespondierende (subjektive) Rechte nur, wenn man unter Rechten allein interessengebundene Individualrechte versteht, nicht aber jede Befugnis dazu ermächtigter Stellen, Pflichten geltend zu machen wie die Anklagebefugnis der Staatsanwaltschaft. Auch insoweit handelt es sich um Rechte im technischen Sinne von Klageberechtigungen, auch wenn solchen Amtsrechten am Ende der Ehrentitel des subjektiven Rechts versagt bleibt.
Wir verwenden nunmehr den Begriff der Klageberechtigung anstelle des Begriffs der Klagebefugnis in der 2. Auflage, ohne dass damit in der Sache eine Änderung verbunden wäre. Nur aus stilistischen Gründen kommen wir gelegentlich auf die Klagebefugnis zurück, wenn sonst im Satz schon von »recht« die Rede ist. Der Begriff der Klagebefugnis wird zu sehr mit der entsprechenden Prozessvoraussetzung des Verwaltungsprozessrechts identifiziert, so dass ein anderer Sprachgebrauch nicht durchsetzbar scheint. Das Problem liegt in der wenig sinnvollen gesetzlichen Forderung, einen Teil der Begründetheit als Zulässigkeitsfrage zu behandeln.
Hinter dem Definitionsproblem steckt allerdings als tiefer greifende Kontroverse die Auseinandersetzung zwischen Positivismus und Naturrecht. Kelsen (RR 135) zitiert dazu Dernburg:
»Rechte im subjektiven Sinne bestanden geschichtlich schon lange, ehe sich eine selbstbewußte staatliche Ordnung ausbildete. Sie gründeten sich in der Persönlichkeit der Einzelnen und in der Achtung, welche sie für ihre Person und ihre Güter zu erringen und zu erzwingen wußten. Erst durch Abstraktion mußte man allmählich aus der Anschauung der vorhandenen subjektiven Rechte den Begriff der Rechtsordnung gewinnen. Es ist daher eine ungeschichtliche und eine unrichtige Anschauung, daß die Rechte im subjektiven Sinne nichts seien als Ausflüsse des Rechts im objektiven Sinn.« (Heinrich Dernburg, System des Römischen Rechts, 8. Aufl. 1911, S. 65)
Es ist in der Tat eine ungeschichtliche Anschauung, dass subjektive Rechte nur Ausflüsse des Rechts im objektiven Sinne seien. Aber darin folgt die Allgemeine Rechtslehre Kelsen, dass bei einer rechtstheoretischen Betrachtung für vorrechtliche subjektive Rechte kein Platz ist. Daraus zieht Kelsen eine kritische Konsequenz: Subjektive Individualrechte muss es nicht geben. Sie stellen
»nur eine mögliche, keine notwendige, inhaltliche Gestaltung des objektiven Rechts dar, eine besondere Technik, deren sich das Recht bedienen kann, aber durchaus nicht bedienen muß. Es ist die spezifische Technik der kapitalistischen Rechtsordnung, sofern diese die Institution des Privateigentums garantiert und daher das Individualinteresse besonders berücksichtigt.« (RR 142)
Der Mensch als Rechtssubjekt, die Privatautonomie und das Eigentum sind aus Kelsens analytischer Sicht »ideologisch«. Aber diese Ideologie ist die Wertbasis des positiven Rechts. In der gegebenen historischen und gesellschaftlichen Situation ist die Individualisierung von Klagerechten mehr als bloße Rechtstechnik. Wenn politische und rechtliche Entscheidungen nur durch einen letzten Bezug auf die betroffenen einzelnen Menschen gerechtfertigt sind, dann bilden subjektive Individualrechte einen zentralen Bestandteil der Rechtsordnung. Wenn wir uns daher entschließen, dem Bürger als Subjekt subjektiver Rechte eine unabdingbare Sonderstellung einzuräumen, zu der auch subjektive Rechte und Privateigentum gehören, so ist das ein Werturteil, zu dem wir stehen. Das zu betonen ist wichtig, weil so die Verletzlichkeit der menschenrechtlichen Position der Rechtssubjekte und ihrer Rechte klar wird. Aus diesem Grunde ist es auch gerechtfertigt, nur im Hinblick auf individuelle Klagebefugnisse von subjektiven Rechten zu reden. Klagebefugnisse von amtlichen Stellen und ermächtigten Verbänden, die in erster Linie dem Allgemeininteresse dienen, sind nur in einem weiteren technischen Sinne subjektive Rechte.
Nach diesen Vorüberlegungen können wir uns für die Allgemeine Rechtslehre auf eine Definition des subjektiven Rechts festlegen: Subjektive Rechte sind klagbare Ansprüche, die Einzelnen zur individuellen Verfügung zugewiesen sind.