I. Das Nachhinken des öffentlichen Rechts
Literatur: Ottmar Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914; Andreas Funke, Menschenrechte als subjektive Rechte, in: Eric Hilgendorf/Benno Zabel (Hg.), Die Idee subjektiver Rechte, 2021, 183-199; Rudolf von Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 2. Aufl. 1879; Georg Jellinek, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905; ders., Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914; Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, 567 ff., 629 ff.; Wolf-Rüdiger Schenke, § 92 Begriff, Entwicklung und Arten des subjektiven öffentlichen Rechts, in: Wolfgang Kahl/Markus Ludwigs (Hg.), Hb des Verwaltungsrechts Bd. 4, 2022, 5–51; Eberhard Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, 74 ff.; Rainer Wahl, Die doppelte Abhängigkeit des subjektiven öffentlichen Rechts, DVBl. 1996, 641-651; ders., in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb. § 42 II VwGO; Arno Scherzberg, Subjektiv-öffentliche Rechte, in: Dirk Ehlers/Hermann Pünder (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, 373-404.
Anfangs war das subjektive Recht nur eine Kategorie des Privatrechts. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man, über subjektiv-öffentliche Rechte zu diskutieren, aber erst seit dem Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes werden sie uneingeschränkt anerkannt. Dieses Nachhinken des öffentlichen Rechts hat zur Folge gehabt, dass die beiden Rechtsgebiete sich teils bewusst, teils unbewusst und vor allem weithin unnötig voneinander entfernt haben, unnötig, denn es bestehen erhebliche Gemeinsamkeiten. So ist kaum noch bewusst, dass zwei wichtige Bausteine des öffentlichen Rechts, nämlich der Begriff des Reflexrechts und die Schutznormlehre, ursprünglich von Ihering für das Privatrecht entwickelt wurden.
Die Möglichkeit subjektiv-öffentlicher Rechte wurde zunächst für die Grundrechte diskutiert. Zwar waren die Grundrechtsartikel in den Verfassungsurkunden der Anfangszeit des Konstitutionalismus ganz im Sinne individueller Rechte formuliert. Aber man dachte bei »subjektiven Rechten« damals nur an die »wohl erworbenen« Rechte des Privatrechts. Im Mittelalter und noch bis in die Zeit des Absolutismus war »Freiheit« eine Ausnahme von sonst geltenden Beschränkungen, also ein »Privileg«. Daher konnte man sich Freiheiten nur schwer als Inhalt eines Rechts vorstellen. Der absolute Staat zerstörte auch noch das Gewebe der iura quaesita. Im Interesse seiner »Souveränität« wollte er keine gegen sich gerichteten Rechte anerkennen. Im 19. Jahrhundert sah man in den Grundrechtsbestimmungen daher überwiegend nur »objektive, abstrakte Rechtssätze über die Ausübung der Staatsgewalt« (C. F. von Gerber, Über Öffentliche Rechte, 1852, S. 65). Noch bei Laband lesen wir:
»Die Freiheits- oder Grundrechte sind Normen für die Staatsgewalt, welche dieselbe sich selbst gibt, sie bilden Schranken für die Machtbefugnisse der Behörden, sie sichern dem Einzelnen seine natürliche Handlungsfreiheit in bestimmtem Umfange, aber sie begründen nicht ›subjektive Rechte der Staatsbürger‹.« (Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Erster Band, 5. Aufl. 1911, S. 151)
Die Konstruktion subjektiver Rechte gegen den Staat scheiterte an der Vorstellung vom Staat als Quelle des objektiven Rechts mit der Folge, dass der Staat als Rechtsschutzgewährender und -verpflichteter ein- und dieselbe Person gewesen wäre.
»Faßt man … das subjektive Recht als Bindung und Verpflichtung einer anderen Persönlichkeit gegenüber dem Berechtigten, so ist solches für den Staatsangehörigen in seinem Verhältnisse zum Staat unmöglich. … Nimmt man die Möglichkeit eines subjektiven Rechtes des Staatsangehörigen gegen den Staat an, so würde trotzdem der Staat jeden Augenblick in der Lage sein, dieses Recht durch seine Gesetzgebung zu vernichten. … Steht es aber rechtlich vollständig in dem Belieben des einen Teils, ob er einem gegen ihn geltend gemachten Anspruche genügen will oder nicht, so ist dieser Anspruch kein subjektives Recht.« (C. Bornhak, Preußisches Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1911, S. 285)
Das Argument ist einleuchtend, ja unabweisbar, solange man sich das Recht als hierarchisches Gebäude mit einer Spitze vorstellt, die eben nicht mehr die Spitze bildete, wenn sie einer höheren Instanz weichen müsste. Auch die Annahme, dass der Staat als juristische Person anzusehen sei, in der das subjektiv-öffentliche Recht einen Adressaten erhielt, half allein nicht weiter. Ebenso wenig bot die naturrechtliche Idee einer Rechtsordnung, der auch der Staat unterworfen sei, eine Lösung. Stets blieb das Problem, dass zum Recht ein Richter gehört, der Staat aber Richter in eigener Sache wäre. Befriedigend formulieren lassen sich Problem und Lösung erst mit der Vorstellung, dass es sich logisch um ein (unlösbares) Rekursivitätsproblem handelt, dass der Staat praktisch aber kein monolithisches Gebilde ist, sondern sich aus mehreren »Gewalten« und vielen Funktionsträgern zusammensetzt, die sich wechselseitig beobachten und durch Rückkoppelungsprozesse in der Schwebe halten.
Am Ausgang des 19. Jahrhunderts verfügte man noch nicht über solche Formulierungen, obwohl sie in England und Amerika mit dem Konzept eines limited government und in der Vorstellung von checks and balances längst vorgedacht waren. Aber man spürte, dass Schwierigkeiten der Begründung eine Lösung des Sachproblems nicht verhindern durften. Schwierigkeiten bereitete zunächst die Unterscheidung der Frage, ob im öffentlichen Recht überhaupt Gerichtsschutz gewährt werden könne, von der sekundären Frage, wer gegebenenfalls berechtigt sein sollte, die Gerichte in Bewegung zu setzen. Mit diesem Problem kämpften die bahnbrechenden Überlegungen von Rudolf von Gneist zur Verwaltungsgerichtsbarkeit. Für ihn war das Verwaltungsrecht eine »objective Rechtsordnung«, die in erster Linie den »Schutz der Gesammtheit« zum Ziel hatte und nur beiläufig individuelle Interessen schützte. Gneist meinte daher, ein als Parteiprozess ausgestalteter Verwaltungsprozess erkenne »das Interesse der Betheiligten als einen Rechtsanspruch an, aber in anderer Weise als da, wo der Rechtsschutz des Individualrechts nächster Zweck und Gegenstand der obrigkeitlichen Thätigkeit« sei. Die Qualifikation solcher Interessen als subjektive Rechte wies von Gneist als eine »civilistische petitio principii« zurück (S. 270 f.). Er lehnte es daher ab, »nach der Weise des Privatrechts von den Einzelrechten« auszugehen. Ob die Verwaltungsgerichte angerufen werden könnten, sollte abhängen von der Frage:
»Ist das durch einen Missbrauch der obrigkeitlichen Gewalt gefährdete Interesse der Person und des Vermögens erheblich genug, um dieses Interesse zu einem Klagerecht zu condensieren?« (S. 273)
Für die Zeit des Kaiserreichs setzte Ottmar Bühler den Schlusspunkt unter den Streit um das subjektiv-öffentliche Recht. Er definierte das subjektiv-öffentliche Recht als die
»rechtliche Stellung des Untertanen zum Staat, in der er aufgrund eines … zwingenden, zum Nutze seiner Individualinteressen erlassenen Rechtssatzes, auf den er sich der Verwaltung gegenüber soll berufen können, vom Staat etwas verlangen kann oder ihm gegenüber etwas tun darf« (S. 224).
Damit hatte er die Schutznormtheorie formuliert, die bis heute als Test für die Anerkennung subjektiver Rechte gilt und die Basis des verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes bildet.
Von den Grundrechten meinte Bühler, dass sie »unzweifelhaft zum Schutz von Individualinteressen geschaffen« seien (S. 21, 43) mit der Folge, dass sie als subjektive Rechte anerkannt werden müssten. Dennoch wurde heftig gestritten, ob die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung als bloße Programmsätze oder als subjektive Rechte anzusehen seien. Erst das Bonner Grundgesetz hat die Qualität der Grundrechte als subjektive Rechte durch Art. 1 III unmissverständlich klargestellt. Ihre Substanz bleibt freilich offen.
Es darf nicht verschwiegen werden, dass Kelsen, auf den wir uns auch in diesem Kapitel mehrfach stützen, im Hinblick auf die Vorstellung der Identuität von Recht und Staat Schwierigkeiten mit der Vorstellung subjektiv öffentlicher Rechte hatte; dazu ausführlich Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl. 1991; S. 146ff.
II. Bürgerliche, politische und soziale Rechte
Literatur: Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914; Thomas H. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen [1949], in Elmar Rieger (Hg.): Bürgerrechte und soziale Klassen: Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, 1992, 33-94; Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003; Henry Shue, Basic Rights, 2020 [1980].
Rechtstechnisch unterscheiden wir zwischen privaten und öffentlichen (subjektiven) Rechten. Aus historischer und/oder soziologischer Perspektive ist dagegen die Trias von (bürgerlichen) Privatrechten, politischen Rechten und sozialen Rechten geläufig, die auf einen Vortrag von Thomas H. Marshall zurückgeht. Sie zeigt eine gewisse Parallelität zur Statuslehre Georg Jellineks. Der status activus umfasst die Bürgerrechte auf Mitwirkung bei der Bildung des Staatswillens. Beim status negativus denkt man vielleicht in erster Linie an Abwehrrechte gegen politisch motivierte Eingriffe des Staates. Aber praktisch macht das bürgerliche Privatrecht den Kern des status negativus aus:
»Was nach Abzug der rechtlichen Einschränkung für den einzelnen an Möglichkeit zur individuellen Betätigung übrigbleibt, bildet seine Freiheitssphäre.« (Jellinek S. 419)
Ähnlich hat man bei den Schutzrechten des status positivus eher die polizeiliche Gefahrenabwehr und Ansprüche wegen unerlaubter Handlungen Dritter im Blick.
»Die Volksgenossen sind Rechtsgenossen vermöge der Gemeinsamkeit des ihnen in ihrem individuellen Interesse zuteil werdenden Rechtsschutzes.« (Jellinek S. 420)
Beinahe wichtiger noch sind jedoch heute die sozialen Rechte, die sich mit dem Sozialstaat entwickelt haben. Diese Akzentuierung wird deutlich durch die von Marshall vorgeschlagene Periodisierung: Er will die bürgerlichen Rechte dem 18. Jahrhundert, die politischen Rechte dem 19. und die sozialen Rechte dem 20. Jahrhundert zuordnen. Beinahe zwangsläufig schließt sich daran die Frage nach dem Charakteristikum der Rechtsentwicklung des 21. Jahrhunderts. Eine plausible Antwort wird es wohl erst in der Rückschau geben. Einiges spricht für eine Kollektivierung subjektiver Rechte
Eine solche Periodisierung zeigt die politischen, sozialen und intellektuellen Kämpfe als solche, die letztlich mit dem Ziel geführt wurden, für legitim gehaltene Ansprüche gerichtlich durchsetzbar zu machen. Für die Rechtstheorie ist nur das Ergebnis greifbar, dass sich in positiv gewährten subjektiven Rechten niederschlägt. Sie kann im Übrigen nur immer wieder darauf hinweisen, dass das Ergebnis nur relativ fest ist, weil die Behauptung subjektiver Rechte sich in vielen Einzelfällen immer wieder aufs Neue bewähren muss und dabei oft kritisiert oder gar beschränkt oder zurückgewiesen wird.
III. Rechte oder Pflichten?
Nach dem vorstehenden § 78 über subjektive Privatrechte erwartet man einen entsprechenden Abschnitt über subjektiv-öffentliche Rechte. Die Darstellung fällt schwerer, denn die Masse des öffentlichen Rechts ist, anders als das Privatrecht, von der Pflichtenseite her konzipiert. Besonders augenfällig ist das für das Strafrecht, dass jedenfalls im weiteren Sinne zum öffentlichen Recht gehört. Im Strafrecht werden durch Gebote und Verbote Pflichten verteilt. Die Klageberechtigung tritt darüber ganz in den Hintergrund. Ähnlich liegt es in bei den umfangreichen Materien des klassischen Ordnungsrechts und des jüngeren Regulierungsrechts. Da werden Pflichten aller Art angeordnet, und eine Klageberechtigung wird erst mittelbar zum Thema, wenn sich die Verpflichteten gegen die geltend gemachten Rechte wehren. Das gilt natürlich auch, soweit Steuern, Gebühren und Beiträge eingefordert werden.
Immer wichtiger werden allerdings die Sachgebiete des öffentlichen Rechts, in denen Leistungsansprüche der Bürger zugeteilt und verwaltet werden. Den größten Bereich bildet hier die Leistungsseite der Sozialversicherung. Große Bedeutung hat die Sozialhilfe. Seitdem es auf den Universitäten eng geworden ist, ist die Zulassung zum Studium Thema geworden. Die Schule wurde lange nur unter dem Gesichtspunkt der Schulpflicht angesehen. Unter dem Aspekt der Inklusion wird mehr und mehr das Recht zum Besuch (bestimmter) Schulen wichtig. Kindergartenplätze, Gesundheitsversorgung, Flüchtlingshilfe – immer weitere Leistungsfelder kommen hinzu. Subventionen, die schon relativ früh die Dogmatik das Verwaltungsrechts beschäftigt hatten, bleiben weiter wichtig.
Auch wenn es das öffentliche Recht also einen großen Bereich von Leistungsansprüchen bereit hält, der materielle subjektive Individualrechte in unermesslicher Anzahl produziert, so bedarf es doch insoweit keiner dem Zivilrecht vergleichbaren Dogmatik, weil diese subjektiv öffentlichen Rechte praktisch bilateral abgewickelt werden. Es fehlt weitgehend an Verfügungsrechten, wie sie im privaten Bereich das Eigentum bietet. Daher sind subjektiv öffentliche Rechte kaum Gegenstand des Rechtsverkehrs. Entsprechend gering ist die Bedeutung öffentlich-rechtlicher Verträge.
Obwohl das öffentliche Rechts praktisch weitgehend von der Pflichtenseite her organisiert ist, knüpft die geläufige Einteilung positiv bei den subjektiv-öffentlichen Rechten an, indem man zwischen Abwehrrechten, Schutzrechten, Leistungsrechten und Mitwirkungsrechten unterscheidet.
Diese Einteilung lässt sich mit der der Statuslehre Georg Jellineks verknüpfen (Andreas Funke, Falldenken im Verwaltungsrecht, 2020, S. 28). Funke fasst positive Berechtigungen als positiven Status zusammen. Ein negativer Status soll sich aus Berechtigungen zusammensetzen, die als normativ begründete Vorteile nicht entzogen werden dürfen. Scherzberg Rn 2 unterscheidet Einräumungs-, Ausübungs- und Abwehrrechte.
Im internationalen Menschenrechtsdiskurs hat sich dagegen eine Einteilung von der Pflichtenseite durchgesetzt, die so genannte Pflichten-Trias: Achtung (duty to respect), Schutz (duty to protect) und Erfüllung (duty to fulfil). Die Dreiteilung geht auf die drei basic rights von Henry Shue (1980) zurück. Die Ausrichtung auf die Pflichtenseite erklärt sich daraus, dass in völkerrechtlichen oder transnationalen Bezügen gedacht wird. Dort geht es darum, Staaten untereinander und darüber hinaus transnationale Organisationen an Menschenrechte zu binden. Subjektive Rechte kommen erst sekundär ins Spiel.