I. Ansprüche und »primäre« Rechte
1. Zum Sprachgebrauch
Das BGB bietet nur eine dürftige Regelung der juristischen Allgemeinbegriffe. Von den Rechtssubjekten handeln die §§ 1 ff., von den Rechtsobjekten oder Sachen die §§ 90 ff. Einen allgemeinen Begriff des subjektiven Rechts kennt das Gesetz nicht. Gewöhnlich beruft man sich dafür auf eine Vorschrift aus dem Abschnitt des Gesetzes über die Verjährung, auf § 194 I BGB. Diese Vorschrift definiert aber nur den »Anspruch«, was nicht dasselbe bedeuten muss wie subjektives Recht. Das gleiche gilt für § 241 I BGB. Beide Vorschriften zeigen immerhin, dass Ansprüche auf ein Tun oder Unterlassen gerichtet sein können. Solche Ansprüche werden subjektive Rechte genannt. Als subjektive Rechte bezeichnet man aber auch die in § 823 I BGB aufgezählten Positionen, also »das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder sonstige Rechte«. Der Begriff des subjektiven Rechts wird also mit zweifacher Bedeutung verwendet, nämlich erstens für Ansprüche i. S. der §§ 194, 241 BGB (z.B. auf Lieferung einer Kaufsache, Herausgabe einer Bereicherung, Unterlassung einer Eigentumsstörung oder Zahlung von Unterhalt) und zweitens für Positionen, die als »Quelle« verschiedener Ansprüche in Betracht kommen, wie das Eigentum, das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder ein Patent.
Wie beide Bedeutungen sich zueinander verhalten, sieht man am Beispiel des Eigentums. Wenn § 903 BGB sagt, der Eigentümer könne, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen, so ist diese »Gewährung« doch nur soviel wert, wie sie durch konkrete Ansprüche geschützt ist. Man kann sich bildlich vorstellen, wie das Eigentum durch Herausgabe- und Unterlassungsansprüche, durch Ansprüche auf Bereicherung und Schadensersatz, durch privates und öffentliches Nachbarrecht nach allen Seiten abgesichert ist. Insofern kann man auch sagen, das Eigentum sei das »primäre« Recht. Dann erscheinen die einzelnen Ansprüche als sekundäre (subjektive) Rechte. Nur die (sekundären) Ansprüche können eingeklagt werden, nicht das Eigentum als solches, nicht einmal im Wege einer Feststellungsklage nach § 256 ZPO. Eine Klage auf Feststellung des Eigentums ist tatsächlich eine Unterlassungsklage, denn sie setzt zur Begründung des Rechtsschutzinteresses eine drohende Beeinträchtigung des Eigentums (durch Leugnung der Eigentümerstellung) voraus.
Diese Doppelbedeutung des subjektiven Rechts als konkreter, klagbarer Anspruch und als »primäres« Recht im Sinne einer Quelle solcher Ansprüche hatte schon Windscheid herausgestellt. Dabei betonte er noch einen weiteren Aspekt: Das »primäre« subjektive Recht, z.B. das Eigentum, ist als solches Verfügungsgegenstand. Bei Eigentumswechsel rückt ein anderer in die Rechtsstellung mit allen daraus folgenden Ansprüchen ein. Insoweit ist das »primäre« subjektive Recht zugleich »Quelle« von Gestaltungsrechten (u. IV).
2. Was heißt »primär«?
Der Vorschlag, das Eigentum und ähnliche Rechtspositionen als »primäre« Rechte zu bezeichnen, stammt von Ludwig Raiser. Ansprüche und Gestaltungsrechte, die mit solchen Positionen verbunden sind, sind für ihn »bloße Werkzeuge der Rechtstechnik«, die in ihrem Bestand von den »primären« Rechten abhängig seien. Rechtstheoretisch liegt es genau umgekehrt: Die Verhaltensnormen und die damit verbundenen Ansprüche sind das Primäre. Die Konfiguration, in der sich viele solcher Ansprüche thematisch zu einer »Recht« genannten Position bündeln, erscheint demgegenüber eher sekundär zu sein. Aber es lohnt sich nicht, um die Priorität von Henne und Ei zu streiten, obwohl die emotive Komponente der Benennung als »primär« nicht zu übersehen ist. Sie hat ihre Berechtigung, weil die thematische Zusammenfassung der Einzelansprüche zu einem »Recht« auf Leben, Gesundheit oder freie Entfaltung der Persönlichkeit usw. das geschützte Interesse deutlicher hervortreten lässt. Sie hat aber auch leicht zur Folge, dass man diesen Werthintergrund als das »Eigentliche« betrachtet, um dann die Position im Schnittpunkt verschiedener Ansprüche »primär« zu nennen. Damit verlässt man die rechtstheoretische Betrachtungsweise. Wenn das jedoch klargestellt ist, bestehen keine Bedenken, fortan die Anführungszeichen fallen zu lassen. Ja, man braucht sich nicht einmal mehr zu scheuen, die primären Rechte bildlich als Quell- oder Stammrechte zu bezeichnen, aus denen die einzelnen Ansprüche fließen. In der Rechtstheorie üblich ist freilich eher die Benennung als Bündelrechte. Ähnlich ist die Sichtweise der Ökonomischen Analyse des Rechts, wo von Verfügungsrechten (property rights) die Rede ist.
Aus amerikanischer Sicht: Katrina M. Wyman, The New Essentialism in Property, Journal of Legal Analysis 9, 2017, 183-246.