§ 77 Subjektive Rechte historisch

I. Menschenrechte als subjektive Rechte

Die naturrechtlichen Vorstellungen von angeborenen Rechten (auf Leben und Freiheit, Arbeit und Eigentum), die jeder positiven Rechtsordnung vorgehen, sind das Erbe der Vernunftrechtslehren der Aufklärungszeit. Das Individuum als Träger von Vernunft wird zum Träger von Rechten.

Die älteste Bill of Rights in einer Verfassung aus den USA, aus der des Staates Virginia von 1776, beginnt mit den Sätzen:

»That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety.«

Seit der französischen Revolution hat jedermann die Parole von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Ohr. Aus dieser Tradition bezieht der Begriff des subjektiven Rechts seinen naturrechtlichen Beiklang.

II. Savigny: Das subjektive Recht als Willensmacht

II.        Ihering: Das subjektive Recht als rechtlich geschütztes Interesse

Texte: Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung Teil 3 Bd. 1, 1865, S. 323-342; Der Zweck im Recht, Bd. 1, 2. Aufl. 1884, Bd. 2, 3. Aufl. 1898.

Literatur: Gerhard Wagner, Rudolph von Jherings Theorie des subjektiven Rechts und der berechtigenden Reflexwirkungen, AcP 193, 1993, 319-347.

Rudolf von Ihering (1818–1892) war der bedeutendste Jurist der Generation nach Savigny. Zu seinen juristischen Erfindungen zählen die culpa in contrahendo und die Vindikatszession (§ 931 BGB). Ursprünglich selbst »Begriffsjurist«, wurde er sich zum schärfsten Kritiker der Begriffsjurisprudenz (o. § 7 I 4). Heute wird er oft als Kritiker der Willenstheorie angeführt.

Ihering entwickelt seine »Allgemeine Theorie der Rechte« 1865 im »Geist des römischen Rechts«. Er wendet sich gegen die »in den früheren Darstellungen des römischen Rechts übliche« Machttheorie, die er auf Kant zurückführt und für die er Thibaut zitiert:

»Recht ist die durch das Gesetz gewährte Möglichkeit des Zwanges«.

Vor allem aber wendet er sich gegen die Willenstheorie Savignys (und Windscheids), die er allerdings verzerrt darstellt, wenn er (S. 311) von ihr sagt, das Wollen sei für sie der Zweck des Rechts. Der Wille grabe sich sein eigenes Grab, wenn man Verpflichtungen für zulässig halten wollte, die sowohl für den Rechtsverkehr als auch für den Berechtigten völlig wertlos seien. Das ist verzerrt, denn nicht das Wollen als solches, sondern die darin zum Ausdruck kommende Selbstbestimmung war für Savigny der Gehalt des Rechts. Ihering setzt dagegen:

»Berechtigt ist nicht, wer das Wollen, sondern den Genuß beanspruchen kann. … Subject des Rechts ist der, dem der Nutzen desselben zugedacht ist (der Destinatär); der Schutz des Rechts hat keinen andern Zweck, als die Zuwendung dieses Nutzens an ihn zu sichern.« (S. 314)

Und so gelangt er zu seiner eigenen Begriffsbestimmung:

»Zwei Momente sind es, die den Begriff des Rechts constituiren, ein substantielles, in dem der praktische Zweck desselben liegt, nämlich der Nutzen, Vortheil, Gewinn, der durch das Recht gewährleistet werden soll, und ein formales, welches sich zu jenem Zweck bloß als Mittel verhält, nämlich der Rechtsschutz, die Klage. Ersteres ist der Kern, letzteres die schützende Schale des Rechts. …  Rechte sind rechtlich geschützte Interessen.« (S. 316f)

Danach ist das Interesse die »substantielle« Seite der Angelegenheit. Zum Recht wird sie erst, wenn als »formales« Element die Klagebefugnis hinzukommt. Das Interesse muss also von Rechts wegen geschützt sein, um zum subjektiven Recht zu werden. Damit hat Ihering die Schutznormtheorie vorweggenommen.

Natürlich schließt sich die Frage an, was als Interesse in Betracht kommt. Darauf antwortet Ihering:

»Das erste Moment, dem wir zunächst unsere Aufmerksamkeit zuwenden, stellt sich dar in folgender Vorstellungsreihe: Nutzen, Gut, Werth, Genuß, Interesse. Der Maßstab, nach dem das Recht diese Begriffe bemißt, ist keineswegs ausschließlich der ökonomische: Geld und Geldeswerth; das Vermögen ist nicht das Einzige, das dem Menschen gesichert werden muß, über demselben stehen noch höhere Güter ethischer Art: die Persönlichkeit, Freiheit, Ehre, die Familienverbindung, ohne welche die äußerlichen, sichtbaren Güter gar keinen Werth haben würden.« (S. 317)

Iherings Beispiele für nutzlose Rechte liegen uns fern. Einschlägige Fälle, in denen die Ausübung eines Rechts keinen anderen Zweck haben könnte, als den Verpflichteten zu quälen, würde man heute als Schikane für unzulässig halten. Heute werden unterschiedliche Rechtsbegriffe für den Fall der Selbstschädigung ins Feld geführt und die Diskussion findet unter dem Titel Paternalismus (o. § xxx) statt. Zwar muss der Gesetzgeber pauschalierend oder verallgemeinernd entscheiden, welche Interessen geschützt werden sollen. Aber letztlich ist »der Mensch der Destinatär« (S. 317), und jeder hat andere Bedürfnisse. Deshalb kommt es auch für Ihering auf dessen Willen an.

»Der Genuß ist Selbstzweck des Rechts, die Verfechtung desselben nur Mittel zum Zweck.« (S. 326)

Durch seinen Willen zeigt der Berechtigte sein Interesse. So scheint der »Geist des römischen Rechts« gar nicht so weit von einer individualistischen Ethik entfernt zu sein. Zwar ist diese Ethik insofern utilitaristisch, dass es ihr nicht abstrakt um Autonomie oder Freiheit geht, sondern um handfeste Interessen, aber eben doch um die Interessen der Einzelnen. Das ändert sich mit dem 1872 erstmals erschienenen »Zweck im Recht« »Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts« lautet das Motto von Iherings zweitem Hauptwerk. Hier wird ganz klar, dass das Interesse der Einzelnen nicht als Selbstzweck, sondern nur als Mittel zu einem ferneren Zweck rechtlich geschützt wird. Ihering bekennt sich zu »der Identität des Sittlichen mit dem gesellschaftlich Nützlichen« (Der Zweck im Recht S. 163). Das Wohl der Individuen ist nur ein Durchgangsstadium. »Der Egoismus steht im Dienste fremder Zwecke« (1884, S. 38). Endzweck des Rechts ist das Wohl der Gesellschaft.

IV. Die Kombinationsformel

V. Windscheid: Subjektive Rechte als Anspruch und Gestaltungsrecht

VI. Nationalsozialistisches Rechtsdenken als Angriff auf das subjektive Recht

VII. Zur Einteilung subjektiver Rechte