§ 76 Das subjektive Recht als Element der Allgemeinen Rechtslehre

I. Savigny: Grundbegriffe der gemeinrechtlichen Lehre

Dieses Kapitel verfolgt Themen, die Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) im »System des heutigen Römischen Rechts« (8 Bände, 1840–1849) vorgegeben hat. Daher zunächst ein Auszug aus diesem klassischen Text (Band 1, §§ 4, 5, S. 7 ff.):

<Subjektives Recht>

Betrachten wir den Rechtszustand, so wie er uns im wirklichen Leben von allen Seiten umgiebt und durchdringt, so erscheint uns darin zunächst die der einzelnen Person zustehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht, und mit unsrer Einstimmung herrscht. Diese Macht nennen wir ein Recht dieser Person, gleichbedeutend mit Befugniß: Manche nennen es das Recht im subjectiven Sinn. Ein solches Recht erscheint vorzugsweise in sichtbarer Gestalt, wenn es bezweifelt oder bestritten, und nun das Daseyn und der Umfang desselben durch ein richterliches Urtheil anerkannt wird.

<Rechtsverhältnis>

Allein die genauere Betrachtung überzeugt uns, daß diese logische Form eines Urtheils nur durch das zufällige Bedürfniß hervorgerufen ist, und daß sie das Wesen der Sache nicht erschöpft, sondern selbst einer tieferen Grundlage bedarf. Diese nun finden wir in dem Rechtsverhältniß, von welchem jedes einzelne Recht nur eine besondere, durch Abstraction ausgeschiedene Seite darstellt, so daß selbst das Urtheil über das einzelne Recht nur insofern wahr und überzeugend seyn kann, als es von der Gesamtanschauung des Rechtsverhältnisses ausgeht. Das Rechtsverhältniß aber hat eine organische Natur, und diese offenbart sich theils in dem Zusammenhang seiner sich gegenseitig tragenden und bedingenden Bestandteile, theils in der fortschreitenden Entwicklung, die wir in demselben wahrnehmen, in der Art seines Entstehens und Vergehens. Diese lebendige Construction des Rechtsverhältnisses in jedem gegebenen Fall ist das geistige Element der juristischen Praxis und unterscheidet ihren edlen Beruf von dem bloßen Mechanismus, den so viele Unkundige darin sehen …

<Objektives Recht>

Das Urtheil über das einzelne Recht ist nur möglich durch Beziehung der besonderen Thatsachen auf eine allgemeine Regel, von welcher die einzelnen Rechte beherrscht werden. Diese Regel nennen wir das Recht schlechthin, oder das allgemeine Recht: Manche nennen sie das Recht im objectiven Sinn. Sie erscheint in sichtbarer Gestalt besonders in dem Gesetz, welches ein Ausspruch der höchsten Gewalt im Staate über die Rechtsregel ist.

<Rechtsinstitut>

So wie aber das Urtheil über einen einzelnen Rechtsstreit nur eine beschränkte und abhängige Natur hat, und erst in der Anschauung des Rechtsverhältnisses seine lebendige Wurzel und seine überzeugende Kraft findet, auf gleiche Weise verhält es sich mit der Rechtsregel. Denn auch die Rechtsregel, so wie deren Ausprägung im Gesetz, hat ihre tiefere Grundlage in der Anschauung des Rechtsinstituts, und auch dessen organische Natur zeigt sich sowohl in dem lebendigen Zusammenhang der Bestandtheile, als in seiner fortschreitenden Entwicklung. Wenn wir also nicht bey der unmittelbaren Erscheinung stehen bleiben, sondern auf das Wesen der Sache eingehen, so erkennen wir, daß in der That jedes Rechtsverhältniß unter einem entsprechenden Rechtsinstitut, als seinem Typus, steht, und von diesem auf gleiche Weise beherrscht wird, wie das einzelne Rechtsurtheil von der Rechtsregel. Ja es ist diese letzte Subsumtion abhängig von jener ersten, durch welche sie selbst erst Wahrheit und Leben erhalten kann…

<System>

In fernerer Betrachtung aber erkennen wir, daß alle Rechtsinstitute zu einem System verbunden bestehen, und daß sie nur in dem großen Zusammenhang dieses Systems, in welchem wieder dieselbe organische Natur erscheint, vollständig begriffen werden können. So unermeßlich nun der Abstand zwischen einem beschränkten einzelnen Rechtsverhältniß und dem System des positiven Rechts einer Nation seyn mag, so liegt doch die Verschiedenheit nur in den Dimensionen, dem Wesen nach sind sie nicht verschieden, und auch das Verfahren des Geistes, welches zur Erkenntniß des einen und des andern führt, ist wesentlich dasselbe.

Heute sieht man vieles anders als Savigny. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Die Allgemeine Rechtslehre kann die Details der Wirkungsgeschichte den Historikern überlassen.

Savigny ist ein Thema für sich. Wer sich auf ihn einlässt, muss sich darauf einstellen, dass Kenner es besser wissen. Aus der Savigny-Literatur: Ulrich Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1-17; Benjamin Lahusen, Alles Recht geht vom Volksgeist aus, Friedrich Carl von Savigny und die moderne Rechtswissenschaft, 2012 (ausführliche und kritische Rezension von Hans-Peter Haferkamp in: forum historiae iuris, 2014-02); Stephan Meder, Missverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der modernen Hermeneutik, 2004; Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984; ders., Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779-1861), in: ders./Ralf Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts, 3. Aufl. 2017, 53-95.

II. Das subjektive Recht als Allgemeinbegriff

Das subjektive Recht ist neben der Norm der wichtigste juristische Allgemeinbegriff. Anfangs war das subjektive Recht nur eine Kategorie des Privatrechts. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man, über subjektiv-öffent­liche Rechte zu diskutieren, aber erst seit dem Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes werden sie uneingeschränkt anerkannt. Dieses Nachhinken des öffentlichen Rechts hat zur Folge gehabt, dass die beiden Rechtsgebiete sich teils bewusst, teils unbewusst und vor allem weithin unnötig voneinander entfernt haben. Hier die Gemeinsamkeiten zu betonen, ist eine wichtige Aufgabe der Allgemeinen Rechtslehre.

Warum ist so viel über das subjektive Recht gedacht und geschrieben worden? Auf der Oberfläche geht es um ein Definitionsproblem. Der Begriff des subjektiven Rechts wird mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet mit der Folge, dass man nicht selten aneinander vorbeiredet. Auf der einen Seite steht ein sehr weiter Begriff, der Rechtspositionen im Sinne absoluter Rechte (Eigentum, Persönlichkeitsrecht, Grundrechte) ebenso einschließt wie Gestaltungsrechte und Forderungen. Auf der anderen Seite steht ein enger technischer Begriff, der unter subjektiven Rechten nur klagbare Ansprüche versteht. Hinter der Kontroverse um den richtigen Begriff des subjektiven Rechts steckt das Dauerproblem der Rechtsphilosophie, nämlich die Frage, wieweit die Geltung des Rechts von seinem Inhalt abhängig ist. Gehört es zum Begriff des subjektiven Rechts, dass es gerecht ist, sei es, dass es ein (berechtigtes) Interesse schützt, sei es, dass es im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit Gegenleistung oder Restitution bildet, sei es, dass es im Sinne der austeilenden Gerechtigkeit Bedürfnisse zufrieden stellt? Oder genügt es, auf die Willensmacht des Rechtsträgers abzustellen?

Man benötigt den Blick des Historikers oder des Soziologen, um zu erkennen, dass es sich um eine relativ junge Problematik handelt. Die Klage war ursprünglich eine öffentliche Angelegenheit, eine Angelegenheit der Rechtsgemeinschaft, nicht allein eines Anspruchsinhabers. In modernen Begriffen könnte man sagen, Aufgabe der Klage war die Bewährung des objektiven Rechts und damit des Rechtsfriedens, während heute umgekehrt der Zweck insbesondere des Zivilprozesses in der Durchsetzung individueller Ansprüche gesehen wird und die Bewährung des objektiven Rechts zu einem willkommenen Nebenerfolg degradiert ist. In ursprünglichen Verhältnissen war in allen Rechtsbeziehungen Reziprozität im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit eingebaut. So wie heute noch der Käufer meistens sieht oder weiß, was er für sein Geld bekommt, waren alle Rechtsbeziehungen mehr oder weniger konkrete Tauschbeziehungen. Im modernen Recht ist die Gegenseitigkeit nicht mehr zu erkennen. Für sich betrachtet erscheint das subjektive Recht daher oft als ein ungerechtes Recht. Mit den Worten Luhmanns:

»Ein Professor, der sich überarbeitet hat, wird nicht in der Universität wiederhergestellt, sondern im Sanatorium. Den Bau von Freibädern bezahlen nicht diejenigen, welche die Flüsse verunreinigen. Die Unfallopfer werden nicht in die Autofabriken gebracht, die Atombombe nicht auf die Physiker geworfen, die randalierende Jugend wird nicht von ihren Eltern und Lehrern niedergeknüppelt. Es muss mithin in erheblichem Umfang Mechanismen der Problemüberwälzung und eines indirekten Folgenausgleichs geben. Diese Umleitung wird durch abstrakte Medien wie Macht und Geld zu verbindlichen Entscheidungen getragen. … Juristisch ließe sich ein solcher indirekter Ausgleich ohne die Figur des subjektiven Rechts kaum organisieren.« (Luhmann S. 327f).

Denken wir uns als Ausgangspunkt ganz unhistorisch einen technischen Begriff des subjektiven Rechts: Subjektive Rechte sind klagbare Ansprüche, deren Ausübung von dem Willen des Berechtigten abhängt. Im Rückblick erweist sich dann der »Kampf um das subjektive Recht« als Zangenangriff auf diesen formalen Rechtsbegriff. Von der einen Seite werden das subjektive Recht schlechthin oder jedenfalls bestimmte Rechte mit einem vorpositiven, naturrechtlichen Inhalt angereichert. Von der anderen Seite werden die subjektiven Rechte durch eingebaute Zweckbindungen eingeschnürt.

Klagbare Ansprüche liegen nicht auf der Hand, sondern müssen erst aus der umfangreichen und vielschichtigen Masse des Rechts herauspräpariert werden. Die große Menge der Rechtsregeln ist in dem Sinne unvollständig, dass sie erst zu Imperativen zusammengefügt werden müssen (o.  ). Auf dem Wege dahin ist für eine Vielzahl von unterschiedlichen Konstellationen von »Rechten« die Rede. Das Eigentum ist ein »Recht«, aber als solches kein klagbarer Anspruch. Das gilt ebenso für Menschenrechte. Vieles, was »Recht« genannt wird, ist zunächst nur eine politische Forderung. Andere »Rechte« erweisen sich als Kompetenzen zur Begründung oder Veränderung von Rechten. Einen Eindruck von der breiten Basis, aus der klagbare Ansprüche entwickelt werden, sollen § 3 über »Subjektive Privatrechte« und § 4 über »Subjektiv-öffentliche Rechte« vermitteln.