§ 75 Normenkontrolle von Parlamentsgesetzen (Judicial Review)

I. Normenkontrolle als Element der Konstitutionalisierung

Der wichtigste Fall einer Kollision rangverschiedenen Rechts liegt in der Nichtübereinstimmung einfachen Rechts mit der Verfassung. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir heute ein verfassungswidriges Gesetz für nichtig halten und Gerichten eine Kontrolle und Verwerfungsbefugnis zubilligen, ist jedoch eine relativ moderne Erscheinung. Verfassungen haben sich über Länder, Kontinente und Jahrhunderte hinweg unterschiedlich entwickelt. Ursprünglich stand die Souveränität des Gesetzgebers über den Gerichten. Der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz gehörte nicht zu den klassischen Bestandteilen des Verfassungsbegriffs. Erst in neuerer Zeit entwickelt sich weltweit ein uniformeres Verständnis von Konstitutionalisierung. Die Einstellung zur gerichtlichen Normenkontrolle hängt weitgehend mit derjenigen nach den Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit zusammen. Heute hat die Diskussion sich schwerpunktmäßig auf die Frage nach politischem Aktivismus oder Selbstbeschränkung der Gerichte verlagert (u. IV).

Zur verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit von Normen gebe es im Rechtsstaat keine vernünftige Alternative, meint von Münch (S. 510), und verweist dazu auf Art. 89 III der DDR-Verfassung von 1968 i. d. F. von 1974:

Rechtsvorschriften dürfen der Verfassung nicht widersprechen. Über Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften entscheidet die Volkskammer.

Das richterliche Prüfungsrecht lässt sich »theoretisch« sehr viel leichter begründen, wenn eine Verfassung besondere Voraussetzungen für ihre Änderung aufstellt, insbesondere durch qualifizierte Abstimmungsmehrheiten und das Verbot der Verfassungsdurchbrechung (Art. 79 GG). Dann lässt sich nämlich nicht mehr argumentieren, ein verfassungs-»widriges« Gesetz enthalte implizit eine Verfassungsänderung.

Im amerikanischen Verfassungsrecht war es anfangs umstritten, ob eine Prüfung der Gesetze auf ihre Verfassungswidrigkeit durch die Gerichte, insbesondere durch den U.S. Supreme Court zulässig sei. Die amerikanische Verfassung hatte ein Prüfungsrecht nicht vorgesehen. Vielmehr hat der U.S. Supreme Court sich das Prüfungsrecht selbst genommen. Das richterliche Prüfungsrecht, judicial review genannt, wird gewöhnlich auf die Urteilsbegründung von Chief Justice John Marshall im Fall Marbury v. Madison zurückgeführt, der seither als »zweiter Schöpfer der Verfassung« gilt:

»Certainly all those who have framed written constitutions contemplate them as forming the fundamental and paramount law of the nation, and, consequently, the theory of every such gov­ernment must be, that an act of legislature, repugnant to the constitution, is void …« (5 U.S. 137, 177 [1803])

Da die amerikanische Verfassung keine ausdrückliche Grundlage für eine richterliche Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen enthielt, verknüpfte Marshall zwei Argumente: (1) Aus dem Wesen einer geschriebenen Verfassung folgt, dass ihre Normen als Recht höheren Rangs einfachen Gesetzen vorgehen. (2) Die Gerichte dürfen ihre Entscheidung nicht verweigern, wenn ein konkreter Rechtsstreit an sie herangetragen wird. Aus dieser Pflicht, die in der Verfassung vorausgesetzt wird, folgt das Recht zur Anwendung und Interpretation aller entscheidungserheblichen Rechtsnormen und damit auch der Verfassung. Die ablehnende Position berief sich demgegenüber auf eine enge subjektive Auslegung der Verfassung und vertrat die Ansicht, dass dem original intent of the framers of the constitution, also der Absicht der Verfassungsväter, der Gedanke an ein richterliches Prüfungsrecht ferngelegen habe.

Aus der Herleitung des Prüfungsrechts in Marbury v. Madison folgt zugleich eine wichtige Einschränkung. Das Prüfungsrecht ist die Kehrseite der Entscheidungspflicht und reicht nicht weiter als diese. Es setzt daher einen konkreten Rechtsstreit voraus. Das ist das Erfordernis von case and controversy. Es gibt daher in den USA keine abstrakte Normenkontrolle.

Auch die liberale Verfassung des Königreichs Belgien von 1831 kannte kein richterliches Prüfungsrecht. Hier verlief die Entwicklung jedoch umgekehrt wie in den USA. Als der Cour de Cassation 1849 sich erstmals mit der Frage auseinandersetzen musste, entschied er, dass die Verantwortung für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze allein beim Gesetzgeber liege. Dabei ist es in Belgien bis 1980 geblieben. Der belgische Rechtshistoriker van Caenegem gibt dazu eine interessante Erklärung: Auf der einen Seite könne man geltend machen, dass alle Organe des Staates unter Einschluss auch des Gesetzgebers unter der Verfassung stünden und dass die Gerichte am besten geeignet seien, die Einhaltung der Verfassung zu kontrollieren. Schließlich gehe es auch hier um die juristische Auslegung und Anwendung eines Gesetzestexts. Man könne dagegenhalten, dass die Gerichte mit der Wahrnehmung des Prüfungsrechts in politische Fragen verwickelt würden, deren Entscheidung am besten den gewählten Volksvertretern überlassen bleibe. Wenn sie sich nicht an die Verfassung hielten, so könnten die Bürger sie abwählen. Im Hintergrund steht also die Machtfrage: Wer soll das letzte Wort haben, das Parlament oder die Gerichte.

Aus dem Machtkampf der amerikanischen Kolonien mit dem Mutterland, so van Caenegem, erklärt sich die amerikanische Option für das richterliche Prüfungsrecht. Obwohl der Wortlaut der belgischen Verfassung kaum Anklänge an englisches Recht enthält, war diese Verfassung ihrem Geist nach englischen Vorstellungen sehr viel näher als die amerikanische, so dass sich in Belgien die Theorie des englischen Juristen Blackstone von der Souveränität des Parlaments durchsetzen konnte. Die amerikanische Verfassung macht zwar verschiedene Anleihen beim englischen Recht. Unter dem Eindruck des Kampfes um die Unabhängigkeit erinnerte man sich in den Kolonien aber an eine ältere, in England inzwischen vergessene Theorie, nach der Gesetze, die gegen Grundprinzipien des Common Law verstießen, als null und nichtig galten. Zum Anstoß für die amerikanische Revolution wurden verschiedene vom Parlament in Westminster beschlossene Steuergesetze. Sie wurden als unwirksam bekämpft, weil sie die Grundrechte britischer Bürger auf Vertretung und Anhörung im Parlament verletzten. Es sei daher nicht überraschend, so meint van Caenegem, dass sich die Amerikaner dafür entschieden hätten, die Verfassung über das Parlament zu stellen und den Gerichten das Prüfungsrecht einzuräumen.

Stellt man die Verfassung über das Parlament, so folgt daraus das besonders im US-amerikanischen Verfassungsrecht dsikutierte counter-majoritarian difficulty dilemma, das Problem nämlich, dass demokratisch nicht (unmittelbar) legitimerte Gericht Beschlüsse demokratisch gewählter Parlamente aufheben können.

Für einen Überblick sei hier verwiesen auf Lawrence L. Solum, LTL: The Counter-Majoritarian Difficulty, ferner auf Jacob Eisler, Polarized Countermajoritarianism, University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law, Vol. 26, No. 3, 2024 = SSRN 4592967.

Für die Bundesrepublik Deutschland wirkte die Einführung der Normenkontrolle durch das Verfassungsgericht in der österreichischen Verfassung 1920 als Vorbild. Das GG von 1949 hat die Prüfung von Parlamentsgesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung und deren anschließende Verwerfung ist den Verfassungsgerichten des Bundes und der Länder vorbehalten. Verordnungs- und Satzungsrecht können die einfachen Gerichte selbständig überprüfen und als ungültig behandeln.

Ein paralleles Verwerfungsverbot konstruiert der EuGH für Rechtsnormen (einschließlich Entscheidungen) des Europarechts: Mitgliedstaatliche Gerichte dürfen solche Vorschriften nicht als ungültig behandeln, wenn sie sie für gemeinschaftswidrig halten, sondern müssen sie gemäß Art. 267 AEUV vorlegen. Die nationalen Gerichte seien nicht befugt, »selbst die Ungültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane festzustellen«, EuGH Slg. 1997, 4199/Rn. 10 ff. – Foto-Frost.

Die Prüfung von Parlamentsgesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz ist in bestimmter Weise beim Bundesverfassungsgericht konzentriert.

(1) Abstrakte Normenkontrolle: Nach Art. 93 I Nr. 2 GG entscheidet das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz. Man redet von »abstrakter« Normenkontrolle, weil das Verfahren nicht durch einen Rechtsstreit ausgelöst wird, mögen auch im Hintergrund mehr oder weniger konkrete Streitpunkte vorhanden sein. In erster Linie ist dieses Verfahren ein Instrument der Opposition oder einer ihr nahestehenden Landesregierung, die hier ihren Kampf fortsetzen, den sie im Gesetzgebungsverfahren verloren haben. Ein Beispiel bieten die wiederholten Normenkontrollklagen des Landes Bayern und der CSU-Bundestagsfraktion gegen die Gesetze zur Reform des Abtreibungsrechts (BVerfGE 35, 1 und 88, 203).

(2) Konkrete Normenkontrolle: Nach Art. 100 I GG darf ein Gericht, das ein einschlägiges nachkonstitutionelles Gesetz für verfassungswidrig hält, nicht selbst entscheiden, sondern muss den Rechtsstreit aussetzen, und die Frage nach der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes bei Verstoß gegen das Grundgesetz dem Bundesver­fassungsgericht, bei Verstoß gegen eine Landesverfassung dem Verfassungsgericht des Landes zur Entscheidung vorlegen. Diese Art der Normenkontrolle heißt »konkret«, weil sie aus Anlass eines bestimmten Rechtsstreits erfolgt, in dem es auf die Gültigkeit der zweifelhaften Norm ankommt. Ein Beispiel bietet der Vorlagebeschluss des LG Lübeck (NJW 1992, 1571), der die Verfassungsmäßigkeit der Bestrafung des Haschischkonsums nach § 29 BetäubungsmittelG verneint (dazu BVerfGE 90, 145).

(3) Verfassungsbeschwerde: Schließlich kann auch der einzelne Bürger im Wege der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG mittelbar eine Normenkontrolle erzwingen mit der Behauptung, er werde durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 IV, 33, 38, 101, 103 und 104 GG enthaltenen Rechte verletzt. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich in aller Regel gegen eine (letztinstanzliche) Gerichtsentscheidung und wird dann Urteilsverfassungsbeschwerde genannt (näher u. § 84 I).

II. Ipso-jure-Grundsatz und Vernichtbarkeitstheorie

III. Unvereinbarkeitserklärung und Appellentscheidungen

IV. Judicial Self-Restraint und Judicial Activism