§ 74 Kollisionsprobleme des Rechtspluralismus

I. Internationale und transnationale Rechtskollisionen

Die vorhergehenden Abschnitte behandelten die einseitige Auflösung von Normkonkurrenzen und Kollisionen unterschiedlicher Rechtssysteme durch das »internationale« Kollisionsrecht, das in Wahrheit Recht der Nationalstaaten bildet. Der Regelungsbedarf ergibt sich daraus, dass nationale Rechte ihren Geltungsbereich gelegentlich räumlich über die eigenen Staatsgrenzen und persönlich über die eigenen Staatsangehörigen hinaus ausdehnen und dass die Zugehörigkeit zu einem Staat allein durch Mobilität über die Grenzen hinweg nicht verloren geht. Menschen und in der Regel auch juristische Personen nehmen ihre Rechtspersönlichkeit über alle Grenzen hinweg mit.

Internationales Kollisionsrecht in diesem Sinne reicht nur so weit wie das nationale Rechtssystem, dem es zugehört. Das ändert sich im Prinzip nicht, wenn – wie mit der EU – supranationale Rechtssysteme vorhanden sind. Entscheidend ist die Existenz eines Rechtssystems, dass dadurch definiert ist, dass es intern keine Widersprüche duldet und dazu Kollisionsregeln bereithält.

Transnationale Rechtskollisionen entstehen dagegen, wo zwei oder mehrere nationale Rechtssysteme zusammenstoßen und die Konflikte nicht mehr einseitig von einem der Beteiligten gelöst werden können. Hier kann man zunächst noch einmal auf die Ebene des Völkerrechts steigen, dass jedenfalls für eine eng enumerierte Auswahl von Kollisionen Entscheidungsmöglichkeiten bereithält. Die prominentesten sind die WTS und der Internationale Gerichtshof in den Haag. Darüber hinaus muss man fragen, ob es transnationale Kollisionsfälle überhaupt geben kann, ob nicht die Welt vielmehr derart in nationale Rechtssysteme aufgeteilt ist, dass sich stets ein zuständiges Rechtssystem findet. Die Antwort lautet: Theoretisch kann immer irgendein nationales Rechtssystem die Letztentscheidung für sich in Anspruch nehmen. Praktisch ist es damit aber nicht getan, weil sich die Rechtsmacht nicht in einer praktischen Handlungs- und Vollstreckungsmacht fortsetzt. Damit sind wir in dem Dilemma des transnationalen Rechts, wie es in § 68 beschrieben wurde.

Drei Beispiele mögen zeigen, worum es geht.

Download aus dem Internet: »Wer entscheidet nach welchen Normen, wenn ein Internetanbieter aus den USA eine Homepage betreibt, die in Frankreich heruntergeladen werden kann, und deren Inhalte in den USA erlaubt, in Frankreich aber verboten sind (z.B. Nazi-Propaganda)? Kann ein französisches Gericht die französische Verbotsnorm auf die USA ausdehnen oder umgekehrt die US-amerikanische Erlaubnisnorm (First Amendment) auf einen in Frankreich vollzogenen download angewendet werden?« (Beispiel von Günther, S. 5)

Bananenmarktordnung: Die »Gemeinsame Marktorganisation für Bananen« beruht auf zwei Verordnungen der EU aus dem Jahr 1993, durch die der Import von Drittlandsbananen jenseits niedriger Kontingente durch hohe Zölle erschwert wurde, um Bananen aus Mitgliedstaaten der EU und aus den so genannten AKP-Staaten mit veergleichsweise höheren Produktionskosten und aus Sicht der Verbraucher minderer Qualität konkurrenzfähig zu machen. Bananenimporteure bemühten vergeblich die europarechtliche Schiene, um sich gegen die hohen Einfuhrabgaben zu wehren. An dieser Stelle ist jedoch nur der europaexterne Gesichtspunkt interessant, den die lateinamerikanischen Produzenten und amerikanischen Exporteure, allen voran Chicquita, betonten, dass nämlich die Bananenmarktordnung nicht mit dem Freihandelsregime des GATT und der WTO als seiner Nachfolgerin vereinbar seinen. Rechtsverfahren und Debatten dauerten 18 Jahre. 2009 wurde der Streit praktisch durch einen Kompromiss beendet, indem die EU die Einfuhrzölle erheblich senkte.

Großbanken als Global Player: Etwa ein Dutzend Großbanken betätigen sich als Global Player. Als Beispiel mag die Schweizer UBS dienen. Bankgeschäfte werden in privatrechtlichen Verträgen abgewickelt. Insoweit ist jeweils das internationale Privatrecht maßgeblich. Bankgeschäfte sind vor allem aber reguliert. Die Regulierung verlangt intern eine bestimmte Organisation des Geschäftsbetriebs und beschränkt extern die Vertragsfreiheit gegenüber möglichen Kunden.

Zwar gibt es Bestrebungen, die Regulierung der verschiedenen Wirtschaftszweige international zu harmonisieren. Deren Erfolg ist jedoch begrenzt. Jedenfalls sieht sich die UBS ganz unterschiedlichen Anforderungen ausgesetzt, je nachdem, ob sie in der Schweiz, in den USA oder in Deutschland tätig wird. Wie kann sie diesen Anforderungen gerecht werden? Eine Möglichkeit wäre, für jedes Land eine selbständige Tochtergesellschaft zu bilden. Das ist aber nicht nur teuer und unpraktisch, sondern schützt auch nicht in jedem Falle vor einem Rückgriff auf die Muttergesellschaft. Eine andere Lösung wäre, kumulativ die Anforderungen aller Rechtsordnungen zu erfüllen, mit denen die Bank konfrontiert wird. Das ist nicht nur extrem aufwendig, sondern verspricht auch dann keinen Erfolg, wenn staatliche Regulierungen Anforderungen stellen, die sich widersprechen. Solche Kollisionen scheinen im Datenschutzrecht vorzukommen. Im Extremfall verlangt ein Land den Schutz des Bankgeheimnisses nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber den Steuer- und den Strafverfolgungsbehörden, während ein anderes Land die Offenlegung aller Kundendaten fordert.

Die Rechtskollision spielt sich hier auf der Akteursebene ab. »Theoretische« Lösungen gibt es nicht. Der Leiter der Rechtsabteilung der UBS würde vielleicht davon sprechen, dass man sich mit den verschiedenen Anforderungen arrangieren müsse oder zynischer –, dass man dazwischen zu lavieren habe. Rechtspluralisten würden hier den Begriff der Interlegalität einbringen oder »Hybridlösungen« vorschlagen. Innovative Rechtstheoretiker bieten die Figur relativer Normativität an. Globalisten könnten hier das Konzept des transnationalen Verwaltungsrechts einbringen. Tatsächlich hilft das alles wenig.

Insoweit geht es um Konkurrenzen und Kollisionen offiziellen staatlichen Rechts. Komplizierter noch wird die Lage, wenn auch nichtstaatliches Normmaterial ins Spiel kommt.

II. Nationaler und globaler Rechtspluralismus

Literatur: Paul Schiff Berman, Global Legal Pluralism, Southern California Law Review 80, 2007, 1155-1238 (Als Zusammenfassung kann man den Aufsatz »New Legal Pluralism«, Annual Review of Law and Social Science, 2009, 225-242 = SSRN 1505926, lesen.); ders., Global Legal Pluralism, A Jurisprudence of Law Beyond Borders, 2012; Andreas Fischer-Lescano, Globalverfassung: Verfassung der Weltgesellschaft, ARSP 2002, 349–378; ders., Globalverfassung. Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, 2005; ders./Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit: Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, 2007, 37-61; Andreas Fischer-Lescano/Lars Viellechner, Globaler Rechtspluralismus, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2010, 20-26; Christian Joerges, Kollisionsrecht als verfassungsrechtliche Form, in: Deitelhoff/Steffek (Hg.), Was bleibt vom Staat? Demokratie, Recht und Verfassung im globalen Zeitalter, 2009, 309-331; ders., Perspektiven einer kollisionsrechtlichen Verfassung transnationaler Märkte, 2011; Matthias Kaufmann, Rechtspluralismus als Antwort auf die Herausforderungen des Rechts durch Globalisierung und Migration? Ethnologische und philosophische Perspektiven, ARSP Beiheft 126, 2011, 95-110 (Kaufmann referiert rechtssoziologische Untersuchungen aus Westsumatra und Marokko und diskutiert die Versuche in England und Kanada, eine Parallelrechtsprechung nach der Scharia zu installieren.); Ralf Michaels, Global Legal Pluralism, Annual Review of Law and Social Science 5, 2009, 243-262; ders., Private Law Theory and the »Global Legal Community«, German Law Journal 2022, 851–861. Gunther Teubner, Altera Pars Audiatur: Das Recht in der Kollision anderer Universalitätsansprüche, ARSP Beiheft 65, 1996, 199-220; ders., Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, 2012; ders./Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, 137-168.

III. Rechtspluralismus als Rechtsquellenlehre und Kollisionsrecht