§ 70 Beschränkte Geltung, Konkurrenz und Kollision

I. Begriffe

Bislang haben wir die Frage der Normgeltung im Hinblick auf eine einzelne Regelung behandelt. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Fragen, die sich aus der parallelen Geltung mehrerer Normen in Bezug auf einen Sachverhalt ergeben: Eine solche parallele Anwendbarkeit von Rechtsnormen ist in einer modernen Rechtsordnung der Normalfall: Öffentliches Recht, Strafrecht und Privatrecht, älteres und jüngeres Recht, allgemeines und spezielles Recht oder das Recht unterschiedlicher Normsetzer beanspruchen ihre Anwendung gleichzeitig und auf denselben Sachverhalt. In einer einheitlichen Rechtsordnung bedarf es der Regeln, die diese parallele Anwendbarkeit aufeinander abstimmen.

Die Abstimmung kann durch eine beschränkte Geltung erfolgen. Auf diese Weise wird eine parallele Anwendbarkeit verhindert:

»Für Taten von Jugendlichen und Heranwachsenden gilt« das StGB nach dessen § 10 »nur, soweit im Jugendgerichtsgesetz nichts anderes bestimmt ist.«

Finden hingegen mehrere Normen auf einen Lebenssachverhalt Anwendung, konkurrieren sie miteinander (u § 72XX). Solche Konkurrenzen treten auf, wenn eine Handlung verschiedene Verhaltensnormen verletzt, die sich teilweise überdecken, oder wenn dieselbe Verhaltensnorm mit mehreren Sanktionsnormen verbunden ist. Diese Konkurrenz wird in aller Regel zu einer friedlichen Koexistenz führen.

Nach § 4 II Nr. 4 BefBedV ist es Fahrgästen einer Straßenbahn untersagt, »während der Fahrt auf- oder abzuspringen«. Wer in der Straßenbahn schwarzfährt, also die »Beförderung … in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten«, wird nach § 265a StGB bestraft. Beide Normen können ohne weiteres nebeneinander angewendet werden.

Mitunter sind die Ergebnisse der parallelen Anwendbarkeit nicht erwünscht; dieses Thema behandeln (insbesondere) die strafrechtliche und die zivilrechtliche Konkurrenzlehre.

Der Täter verfälscht eine ihm nicht gehörende Urkunde und beschädigt dadurch zugleich eine fremde Sache. Hier werden die Strafandrohungen aus § 303 StGB und § 267 StGB nicht addiert, vielmehr wird nach § 52 I StGB »nur auf eine Strafe erkannt.«

Dagegen handelt es sich um eine Normenkollision, wenn mehrere Normen auf den Sachverhalt anwendbar sind, aber unterschiedliche, miteinander nicht verträgliche Handlungen gebieten oder verbieten. Derartige Konflikte müssen aufgelöst werden. Dafür stehen ausreichend Instrumente zur Verfügung, insbesondere die Regeln der lex superior, der lex specialis und der lex posterior.

Bis zum April 1930 galt in Tirol auf Straßen das Linksfahrgebot, danach musste rechts gefahren werden. Dieser Normwiderspruch hätte zu realen Kollisionen geführt, wäre er nicht durch eine Kollisionsregel (lex posterior) aufgelöst worden.

Von einer Normenkollision zu sprechen ist im Grunde nur im Rahmen eines einheitlichen Rechtssystems sinnvoll. Hier können sich bereits Normen desselben Normsetzers widersprechen. Häufiger sind Kollisionen zwischen Vorschriften unterschiedlicher Regelungsautoren. Das ist ein Thema der (weit verstandenen) Normenhierarchie (Vorrang des Gesetzes, Bundesrecht bricht Landesrecht, Anwendungsvorrang des Unionsrechts). Ist die rangniedere Vorschrift (Landesgesetz, Rechtsverordnung) kompetenzgemäß erlassen, widerspricht sie aber dem ranghöheren Recht, finden die eben genannten Kollisionsregeln Anwendung. Ist die Regelungsaussage der rangniederen Vorschrift hingegen mit der des höherrangigen Rechts identisch (»Normverdopplung«), bleibt diese Regelung grundsätzlich in Kraft, auch wenn das durchaus Schwierigkeiten mit sich bringen kann. Das EU-Recht sieht diese Frage anders. So dürfen die Mitgliedstaaten Vorschriften aus einer EU-Verordnung nicht in ihrem Recht wiederholen (EuGHE 1973, 981 Rn. 11 – Variola).

Das führt bei der zu Teilen auf Umsetzung (i.w.S.) angelegten DSGVO zu Schwierigkeiten. Dem trägt ErwGrd. 8 der VO zwar Rechnung (»können die Mitgliedstaaten Teile dieser Verordnung in ihr nationales Recht aufnehmen«), beseitigt sind die Schwierigkeiten damit aber nicht, BFH NJW 2023, 3668 (Rn. 45 ff.) – zu § 29b AO.

Zwischen unterschiedlichen Rechtssystemen kollidieren hingegen nicht die Rechtsnormen, sondern rein tatsächlich die Regelungsansprüche der Normsetzer (conflict of laws).

Welchem Recht unterliegen die Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall mit einer Straßenbahn in Wien, wenn die Verletzte aus Israel stammt, der Fahrer hingegen die rumänische Staatsangehörigkeit besitzt?

Für derartige konfligierende Regelungsansprüche schreiben spezifische Regeln vor, welchem Gesetzgeber die entscheidenden Gerichte den Vorzug einräumen sollen. Das Musterbeispiel ist das Internationale Privatrecht. Diese Regeln für den Wettstreit der Normsetzer aus unterschiedlichen Rechtssystemen werden ebenfalls als Kollisionsrecht bezeichnet. Es geht aber nicht um einen Konflikt zwischen sich widersprechenden Normen, sondern um die davon zu trennende Frage, welche Regelung aus unterschiedlichen Rechtsordnungen auf einen bestimmten Fall anzuwenden ist. Zwischen Normen aus unterschiedlichen Rechtssystemen kann nur faktisch, nicht aber hinsichtlich ihrer Geltung eine Kollision eintreten. Etwas anderes behaupten nur Anhänger eines pluralistischen Rechtsbegriffs. Deren Vorstellung eines internationalen Kollisionsrechts für eine Weltrechtsordnung scheitert an dem Fehlen eines einheitlichen Rechtssystems, das Sitz eines solchen Kollisionsrechts sein könnte.

II.     Konsequenzen der parallelen Anwendbarkeit