Texte von Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, 1918; Philosophische Untersuchungen, 1953 (posthum), beides abgedruckt in Bd. 1 der fünfbändigen Ausgabe der Schriften, 1969.
Sekundärliteratur: Gordon P. Baker/Peter M. S. Hacker, Language, Sense and Nonsense. A Critical Investigation into Modern Theories of Language, 1989; dies., Scepticism, Rules and Language, 1984; Dietrich Busse, Zum Regelcharakter von Normtextbedeutungen und Rechtsnormen, RTh 19, 1988, 305-322; ders., Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: Friedrich Müller (Hg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, 93; ders., Recht als Text, 1992; ders., Juristische Semantik, 1993; Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? 1989; ders./Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001; dies., Die Auslegungslehre als implizite Sprachtheorie, ARSP 88, 2002, 230-246; Michael Esfeld, Regelfolgen 20 Jahre nach Wittgenstein, Zf philosophische Forschung 57, 2003, 128-138; Manfred Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik. Zum Einfluß Wittgensteins auf die Rechtstheorie, 1995; Bernd Jeand‘Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989; Hans-Joachim Koch, Sprachphilosophische Grundlagen der juristischen Methodenlehre [1993], in: Alexy u.a. (Hg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003, 123; Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994; ders./Ralph Christensen, Juristische Methodik Bd. 1 (Grundlegung), 10. Aufl. 2009; Andreas Kemmerling, Regel und Geltung im Lichte der Analyse Wittgensteins, RTh 6 (1975), 104.
Zur Rezeption Wittgensteins in der Schweiz vgl. die Serie »Recht und Wittgenstein I – V« von Marc Amstutz und Alexander Niggli: Recht und Wittgenstein I. Wittgensteins Philosophie als Bedrohung der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre, in: Pierre Tercier (Hg.), Gauchs Welt, 2004, 3-22; Recht und Wittgenstein II, Über Parallelen zur Wittgensteinschen Philosophie in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre, ebd. S. 161-183; Recht und Wittgenstein III. Vom Gesetzeswortlaut und seiner Rolle in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre, in: Hans Peter Walter u. a. (Hg.), Richterliche Rechtsfortbildung usw., 2005, 9-36; Recht und Wittgenstein IV, in: Piermarco Zen-Ruffinen (Hg.), Du monde pénal, 2006, 157-171; Recht und Wittgenstein V. Rechtsquellen und Quellen des Rechts, in: Gerhard Dannecker u. a. (Hg.), FS Harro Otto 2007, 123-132.
Die Rezeption Wittgensteins ist ein Problem für sich. Er selbst bestreitet, dass in der Philosophie sinnvolle Sätze möglich seien, und schreibt deshalb am Ende des Tractatus (6.54):
»Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)
Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.«
Es folgt der berühmte Schlusssatz (7):
»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«
Die Allgemeine Rechtslehre verzichtet auf metaphysische Aussagen. Wir nehmen uns heraus, viele Sätze in Wittgensteins Texten für sinnvoll zu halten, und stellen dabei auf solche Sätze ab, die – meistens auf dem Umweg über die Sprachtheorie – in der Rechtstheorie etwas bewirkt haben.
»Moderne« (analytische) Sprach- und Zeichentheorie wird als repräsentationalistisch oder referenzialistisch bezeichnet, weil sie davon ausgeht, dass Sprache und andere Zeichen auf einen außerhalb ihrer selbst liegenden Sachverhalt verweisen können. In diesem Sinne war auch die Sprachtheorie des frühen Wittgenstein eine Abbildtheorie. In Wittgensteins Formulierung:
2.1 | Wir machen uns Bilder der Tatsachen. |
2.12 | Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. |
2.13 | Den Gegenständen entsprechen im Bilde die Elemente des Bildes. |
2.14 | Das Bild besteht darin, dass sich seine Elemente in bestimmter Weise zueinander verhalten. |
2.15 | Dass sich die Elemente des Bildes in bestimmter Weise zueinander verhalten, stellt vor, dass sich die Sachen so zueinander verhalten. |
Das (gekürzte) Zitat stammt aus dem Tractatus Logico-Philosophicus von 1918. (Im Internet sind leicht verschiedene Textausgaben zu finden. Sie sind allerdings ohne Anleitung schwer lesbar. Dazu: Joachim Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung, 1989.) Dagegen heißt es in § 43 von Wittgensteins »Philosophischen Untersuchungen« (PU), die posthum 1953 erschienen sind:
»Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.«
Diese Stelle ist zum Ausgangspunkt der Gebrauchstheorie der Bedeutung geworden: Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke lässt sich nicht lexikalisch explizieren oder definitorisch festlegen, sondern sie zeigt sich oder – radikaler – sie erschöpft sich in ihrem Gebrauch.
Eine Gebrauchstheorie der Sprache, die sich auf Wittgenstein beruft, hat in Rechtstheorie und Methodenlehre tiefe Spuren hinterlassen. Sie hat zu einem Regelskeptizismus geführt, der die Möglichkeit semantischer Auslegung verneint. In Deutschland vertritt vor allem die Müller-Schule (Friedrich Müller, Christensen, Jeand’Heur, Hans Kudlich) eine regelskeptische Gebrauchstheorie der Bedeutung. Die Anknüpfung an Wittgenstein hat der Sprachwissenschaftler Busse vermittelt. Unter Berufung wiederum auf Baker und Hacker formuliert er das Credo der Gebrauchstheorie:
»Von Regeln zu sprechen heißt in gewissem Sinne von Fiktionen zu sprechen; dieser fiktive Charakter betrifft ebenso die Bedeutungen (selbstredend, sind sie doch als Gebrauchsregeln der Wörter definiert). Über den Gebrauch durch Sprecher in Regelformulierungen, Bedeutungserklärungen, paradigmatischen Beispielen korrekten Gebrauchs, und so könnte man hinzufügen, in Rechtsprechungsakten der Rechtsanwender hinaus, besitzen Regeln keinerlei Existenz.« (RTh 1988, 313)
Allgemein wird angenommen, dass Wittgenstein sich in den PU von jedem Bedeutungsrealismus distanziert habe. Aber soweit wollte er kaum gehen. Die PU beginnen mit einer ausführlichen Darstellung dessen, was wir in § 4 IV als Prädikation beschrieben haben. Allerdings erfahren wir, dass es sich bei Benennung und Definition nur um einen primitiven Gebrauch der Sprache handelt. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt Wittgenstein dann, dass Sprache sich nicht im Benennen und Definieren erschöpft, sondern ganz unterschiedliche Funktionen übernehmen kann, die er als Sprachspiele bezeichnet. Dafür gibt er (in PU § 23) eine Reihe von Beispielen:
»Befehlen und nach Befehlen handeln –
Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen, oder nach Messungen –
Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung (Zeichnung) –
Berichten eines Herganges –
Über den Hergang Vermutungen anstellen –
Eine Hypothese aufstellen und prüfen –
Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme –
Eine Geschichte erfinden: und lesen –
Theater spielen –
Reigen singen –
Rätsel raten –
Einen Witz machen; erzählen –
Ein angewandtes Rechenexempel lösen –
Aus einer Sprache in die andere übersetzen –
Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.«
Damit hat Wittgenstein die später von Austin und Searle ausgearbeitete Figur des Sprechakts (u. § 12 III) weitgehend vorweggenommen.
Mit einer primitiven Gebrauchstheorie, die besagt, dass die Bedeutung eines Wortes oder Satzes sich allein und unmittelbar aus dem Gebrauch ergibt, hätte man ein Problem, denn – das wäre ja gerade der Inhalt dieser Theorie – der Gebrauch kann nicht falsch (und damit auch nicht richtig) sein. Wittgenstein stellt daher nicht auf einen einmaligen Sprachgebrauch ab, sondern auf einen regelhaften Gebrauch. Er bezeichnet Sprachhandlungen gerade deshalb als Sprachspiele, weil Spiele bestimmten Regeln folgen. Für Wittgenstein heißt, eine Sprache zu kennen, ihre Regeln zu kennen. Ohne Regel gibt es keinen bedeutungsvollen Sprachgebrauch.
Die Regel sagt dem Sprecher, wie er das Gemeinte in Worte kleiden kann, und ermöglicht es dem Hörer, die Wortzeichen zu verstehen. Hier gibt es erneut vordergründig zwei Probleme.
- Die Regeln des Sprachgebrauchs sind zunächst nur implizit, d.h., sie sind nicht ausformuliert und den Beteiligten vielleicht nicht einmal bewusst. Doch davon ist die Wirksamkeit einer Regel nicht abhängig.
- Regeln entstehen erst durch (wiederholten) Gebrauch. Das ist indessen das Problem aller Regeln, der Umschlag von der bloß zufälligen Wiederholung zur Übung. Er wird verursacht durch ein Erfolgserlebnis. Erfolgreiche Handlungen werden wiederholt und so zur Übung. Eine Sprachhandlung ist erfolgreich, wenn Sprecher und Hörer (glauben,) sich verstanden (zu) haben.
Es ist unter Linguisten allerdings kontrovers, ob zur Erklärung sprachlicher Verständigung von Ideolekten, das heißt von der Privatsprache einzelner Sprecher, oder besser von Soziolekten, also vom regelhaften Sprachverhalten menschlicher Gemeinschaften auszugehen ist. Liptow z. B. optiert für den Ideolekt als Ausgangspunkt, weil sich die Individualität sprachlichen Verhalten nur damit vertrage. Aus dieser Sicht wären Sprachnormen nicht konstitutiv für die sprachliche Verständigung, sondern nur sekundäres Hilfsmittel.
»Sprachliche Verständigung dient primär dazu, andere zu verstehen. Insofern sie als das Verstehen einer gemeinsamen Sprache konzipiert wird, verfehlt sie diesen Zweck immer dann, wenn andere in ihren Sprachgewohnheiten – ihren Idiolekten – von dem abstrakten Ideal abweichen.… Einem solchen Begriff von Verständigung zufolge teilen wir zwar keine Sprache, aber eine unüberschaubare Vielzahl von Situationen gelungener Verständigung mit mindestens einer weiteren Person.« (Jasper Liptow, Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis, in: Friedrich Müller (Hg.), Politik, (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, 2007, 55-69. Zitat nach einem im Internet verfügbaren Manuskript S. 5, 11)
Eine regelbasierte Gebrauchstheorie schließt nicht aus, sondern setzt im Gegenteil geradezu voraus, dass jede einzelne Verwendung eines Wortes dessen Bedeutung mitbestimmt. Durch jede korrekte Anwendung wird die Regel bestätigt und damit gefestigt. Durch eine inkorrekte Anwendung wird sie jedoch nicht gleich verändert oder gar ausgelöscht, sondern zunächst nur marginal geschwächt. Erst aus wiederholtem regelhaftem oder regelwidrigem Verhalten entstehen langsam neue oder veränderte Regeln. Nicht selten konkurrieren unterschiedliche Regeln miteinander, und die Beteiligten können damit ganz gut jonglieren. Auch dazu kann man Wittgenstein zitieren:
»Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ›make up the rules as we go along‹? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along.« (PU § 82)