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V. Die Unterscheidung als gedankliche Grundoperation
Literatur: Niklas Luhmann, Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen, ARSP 72, 1986, 176-194; ders., Frauen, Männer und George Spencer Brown, Zf Soziologie 17, 1988, 47-71; ders., GdG = Das Recht der Gesellschaft, 1993; George Spencer Brown, Laws of Form, 1972 [1969]; Katrin Wille, Form und Geschlechterunterscheidung, in: Tatjana Schönwälder-Kuntze u. a. (Hg.), George Spencer Brown, 2. Aufl. 2009, 273-285.
Wir stellen uns die Bildung von Begriffen (mit Niklas Luhmann und George Spencer Brown) als eine Gedankenoperation vor, durch die eine Unterscheidung getroffen wird. Anschaulich zeichnet der Mathematiker Spencer Brown einen Kreis und fordert uns auf: Draw distinction! Markiere eine Seite und unterscheide zwischen Innen und Außen. Die Unterscheidung zieht eine Grenze mit dem Ergebnis mindestens einer Zweiheit, nämlich dem Ein- oder Ausgegrenzten und dem oder den Anderen.
Warum wird die erste Grenze gezogen? Rein spielerisch, einfach nur so, um zu sehen, was daraus wird? Ist die erste Unterscheidung also leer? Oder zieht der Beobachter die Grenze, weil er diesseits oder jenseits der Grenze unterschiedliche Inhalte erwartet? Anders formuliert: Gibt es unabhängig von der »Operation des Unterscheidens« etwas zu beobachten, auf das die Unterscheidung »positiv oder negativ referiert« (GdG 459)? Trifft die Unterscheidung auf eine Welt der Dinge oder Tatsachen oder wird diese Welt erst durch Unterscheidungen »konstruiert«? Wir optieren für Ersteres, und outen uns damit als »alteuropäische Ontologen« (GdG 893ff).
Sofort schließt sich die Frage an: Wie kommt die Unterscheidung zu ihrem Inhalt? Die praktisch vollzogene Unterscheidung hat immer schon einen Inhalt, denn der Beobachter hat ein Motiv, und das bedeutet, er muss schon vor der Unterscheidung einen Unterschied im Sinn gehabt haben, usw. »Also ist die Einführung jeder Unterscheidung selbst schon eine Unterscheidung.« Damit stellt sich wieder die Frage des Anfangs. Man kann stets nach dem Anfang hinter dem Anfang fragen. Das ist das Problem der Fundamentalphilosophie. Luhmann litt an einem horror infiniti; er fürchtete den infiniten Regress. Als Sedativum diente ihm die Selbstreferenz mit den daraus folgenden Paradoxien (u. § 18). Zugleich schätzte er die Philosophie Edmund Husserls (u. § XXX), die auf eine »originär gebende Anschauung« als Erfahrung noch vor jeder begrifflichen Verarbeitung baute. Wir geben uns damit zufrieden, dass das Bewusstsein »immer schon« darauf angelegt ist, Unterschiede zu finden.
Wenn man sich die »Form der Unterscheidung« zunächst so abstrakt vorstellt, wie Luhmann und Spencer Brown, folgen zwei weitere Fragen, die Frage nämlich, ob Unterscheidungen grundsätzlich bipolar oder gar dichotomisch ausfallen und ferner, ob die Begriffsbildung qua Unterscheidung asymmetrisch angelegt ist. Die erste Frage beantworten wir anders als Luhmann. Die Unterscheidung impliziert gewöhnlich nur eine unbestimmte Negation (u. S. 54) und ist deshalb nicht dichotomisch. Dagegen sind Unterscheidungen regelmäßig in dem Sinne asymmetrisch, als der Unterscheidende Wert darauf legt, das Unterschiedene von anderem abzuheben. Das ist indessen – auch insoweit sehen wir die Dinge anders als Luhmann – keine Frage der Logik, sondern eine solche der Pragmatik.
Es fehlt noch die Unterscheidung zwischen Namensgebung und Begriffsbildung. Im ersteren Fall geht es um die bloße Identifizierung eines Etwas, dass mit einem Indikator oder mit einem Eigennamen gekennzeichnet wird. Begriffsbildung unterscheidet jedoch nicht zwischen Individuen, sondern zwischen Gattungen (und führt damit in die fundamentalphilosophische Kontroverse zwischen Nominalismus und Realismus; u. § 5 III). Freilich bekommen auch Begriffe einen Namen, der aber nicht mit dem Begriff selbst, also seiner Bedeutung, verwechselt werden darf. Zwar wird der Begriffsname oft so gewählt, dass er einen Hinweis auf die Bedeutung gibt. Aber darauf darf man sich nicht verlassen.
Es bleibt die Frage, ob eine gedankliche Begriffsbildung ohne Vorgriff auf ihre Umsetzung in Sprache möglich ist. Philosophen und Mathematiker mögen – wie Luhmann, GdG 917 Fn. 103 – die Möglichkeit eines allem Symbolischen vorgelagerten Bewusstseinsprozesses bedenken. Der ließe sich nur in einer Privatsprache (u. § 6 II) fassen. Dafür ist in einer Allgemeinen Rechtslehre kein Platz.
Über Begriffsbildung lässt sich trefflich philosophieren. 2019 erschien von Robert Brandom der mit 1196 Seiten ebenso anspruchsvolle wie umfangreiche Band »A Spirit of Trust. A Reading of Hegel’s Phenomenology« (Im Geiste des Vertrauens, 2021). Darin will der Autor Hegels »radikal neue Vorstellung vom Begrifflichen« rekonstruieren.
»Dieser Vorstellung zufolge ist etwas begrifflich gehaltvoll, wenn es in den von Hegel so genannten Beziehungen ›bestimmter Negation‹ und ›Vermittlung zu anderen solchen Dingen steht. Mit ›bestimmter Negation‹ meint egel Hegel, Ausschlussbeziehungen wie beispielsweise zwischen ›rechteckig‹ und ›keisförmig‹ … oder zwischen ›Kupfer‹ und ›Aluminium‹. Es ist unmöglich, dass ein Ding beide Eigenschaften gleichzeitig aufweist. Mit ›Vermittlung‹ … meint Hegel … Einschlussbeziehungen wie beispielsweise zwischen ›dreieckig‹ zu ›mehreckig‹ oder zwischen ›Kupfer‹ und elektrischer Leiter‹. Wenn ein Ding die eine Eigenschaft aufweist, ist es notwendig, dass es die andere Eigenschaft aufweist.« (S. 14)
Das klingt zunächst trivial. Aber Brandom geht es darum, auf »philosophisch-spekulative Metabegriffe«, die uns über die Verwendung der Begriffe der unteren Stufe belehren. Dazu unternimmt er eine »rückblickend erinnernd-rationale Rekonstruktion« von Hegels Gedankengebäude. Für Juristen lohnt allenfalls die Lektüre der Einleitung dieses Mammutwerks.
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