§ 3 Recht und digitale Transformation

I.         Mehr als ein neues Medium

Die Digitalisierung, also die Sammlung und Bereitstellung von Informationen in digitaler Form, bildet die Grundlage für eine Transformation aller Lebensbereiche, insofern der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg vergleichbar.

Angesichts der Fülle der Themen, die mit der digitalen Transformation auf das Recht zukommen, müssen wir zur besseren Übersicht mehrere Aspekte unterscheiden:

  • Die digitale Transformation betrifft zunächst Gegenstände im Objektbereich des Rechts. Dabei geht es um konventionelle Jurisprudenz zur Bewältigung des technischen und sozialen Wandels.
  • Die digitale Transformation verändert den modus operandi des Rechtssystems, indem schriftliche auf elektronische Kommunikation umgestellt und Präsenzkommunikation durch digitale ersetzt wird. Die digitale Verfügbarkeit der Informationen ermöglicht dann ihre informationstechnische Bearbeitung, was in die Frage mündet, inwieweit menschliche Entscheidungen durch Algorithmen vorbereitet oder gar ersetzt werden können.
  • Die neuen Formen und Foren der Kommunikation und Prozesse der Informationsverarbeitung werden das juristische Arbeiten, Denken und Entscheiden verändern.
  • Digitale Prozesse können in die Autonomie der Rechtssubjekte und damit in eine Domäne (nicht nur) des Privatrechts einfallen.
  • Eine Entgrenzung von Natur und Technik, gestützt durch digitale Prozesse, wirft neue ethische und philosophische Fragen auf.
  • Digitale Prozesse, insbesondere die künstliche Intelligenz, könnten schließlich zu einer Auflösung des Rechts führen, insofern sie die Aufgabe des Rechts einer möglichst konfliktfreien Koordinierung sozialen Handelns übernehmen.

II. Digitale Transformation im Objektbereich des Rechts

Literatur: Jack M. Balkin, How to Regulate (and Not Regulate) Social Media, 2020, SSRN 3484114; Bartosz Brożek/Marek Jakubiec, On the Legal Responsibility of Autonomous Machines, Artif Intell Law 25, 2017, 293-304; Andrew Guthrie Ferguson, Predicitive Prosecution, Wake Forest Law Review 51, 2016, 705-744; ders., The Rise of Big Data Policing. Surveillance, Race, and the Future of Law Enforcement, NY 2017; Sabine Gless/Emily Silverman/Thomas Weigend, If Robots Cause Harm, Who Is to Blame? Self-Driving Cars and Criminal Liability, New Criminal Law Review 19, 2016, 412-436; Matthew DeMichele u. a., What Do Criminal Justice Professionals Think About Risk Assessment at Pretrial?, SSRN 2018, 3168490¸ Philipp Hacker, Verhaltens- und Wissenszurechnung beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz, RW 9, 2018, 243-288; Thomas Hoeren, Internetrecht, 2021; Jan-Philipp Kruse/Sabine Müller-Mall, Digitale Transformationen der Öffentlichkeit, 2020; Sophia Schwemmer, Dezentrale (autonome) Organisationen, AcP 221, 2021, 555-595.

Digitalisierung und Computerisierung sind zunächst relativ neuartige Phänomene, wie sie in der Geschichte immer wieder zu beobachten waren (Buchdruck, Dampfmaschine, Elektrizität, Atomkraft, Gentechnik). Ihre Handhabung und ihre Konsequenzen müssen vom Recht geregelt werden. So sind Digitalisierung und informationstechnische Verarbeitung in allen ihren Erscheinungsformen von der Computer- und Netzwerktechnik über den Datenschutz bis hin zur künstlichen Intelligenz Regelungsobjekt des Rechts. Zu den neuen Sachthemen, die die digitale Transformation dem Recht aufdrängt, zählen insbesondere:

  • Computer, Programme, Daten und Dateien als Gegenstände des Rechtsverkehrs,
  • Datenschutz,
  • zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit beim Einsatz von KI-Agenten oder bei Unfällen mit autonomen Kraftfahrzeugen,
  • digitale Öffentlichkeit und Regulierung sozialer Medien,
  • lauterkeitsrechtliche Fragen beim algorithmic pricing oder bei Verstößen gegen die DGSVO,
  • Diskriminierung durch Algorithmen, z. B. beim predictive policing,
  • der rechtliche Umgang mit dezentralisierten autonomen Organisationen (blockchains).

Dabei geht es aber letztlich um konventionelle Jurisprudenz, wie sie stets zur Bewältigung des technischen und sozialen Wandels gefordert ist. Das sogenannte Profiling ist daher Thema der DGSVO.

Cornelia Vismann/Markus Krajewski (Computer Juridismus, Grey Room 29, 2008, 91-109) meinen wohl, dass sich zwischen der Lenkungsebene und der Objektebene nicht mehr unterscheiden lasse.

»Yet a law that claims to be able to regulate a technological medium merely produces a paradox, because it aims to regulate nothing other than its own grounds of existence.«

Der Computer sei zum Medium des Rechts geworden, und das Recht könne nicht seine eigene Basis regulieren. Indessen wie so oft, wenn Paradoxien heraufbeschworen werden, geht es um verschiedene Ebenen (u. § 13 II), und so zeigen die Autoren denn auch, wie das Recht mit dem Paradox recht erfolgreich umgeht.

III.   Digitale Transformation im operativen Bereich des Rechts

Literatur: Jean-Pierre Clavier/Charles-Édouard Bucher (Hg.), L‘algorithmisation de la justice, 2020; Martin Ebers/Susana Navas (Hg.), Algorithms and Law, 2020; Luís Greco, Richterliche Macht ohne richterliche Verantwortung: Warum es den Roboter-Richter nicht geben darf, RW 11, 2020, 29-62; Lisa Herzog, Algorithmisches Entscheiden, Deutsche Zf Philosophie 69, 2021, 197-213; Jessica Heesen u. a., Whitepaper Künstliche Intelligenz und Recht, 2024; Markus Kaulartz/Tom Braegelmann (Hg.), Rechtshandbuch Artificial Intelligence und Machine Learning, 2020; Hanno Kube, E-Government: Ein Paradigmenwechsel in Verwaltung und Verwaltungsrecht?, VVDStRL78, 2019, 289-332; Jessica Heesen u. a., Whitepaper Künstliche Intelligenz und Recht, 2024; Han-Wei Liu/Ching-Fu Lin/Yu-Jie Chen, Beyond State v Loomis: Artificial Intelligence, Government Algorithmization and Accountability, International Journal of Law and Information Technology 27, 2019, 122-141; Christoph Rollberg, Algorithmen in der Justiz; 2020; Daniel J. Solove/Hideyuki Matsume, AI, Algorithms, and Awful Humans, SSRN 2023, 4603992; Jens Wagner, Legal Tech and Legal Robots, 2. Aufl. 2020.

Die Entwicklung kommt schleichend. Sie nimmt ihren Weg über den Ausbau elektronischer Kommunikation und von Unterstützungssystemen, die künstliche Intelligenz nutzen.

Mündlichkeit und Schrift als Formen rechtlich relevanter Erklärungen werden zunehmend durch elektronische Kommunikation ersetzt (z.B. § 126a BGB). Dieser Wandel betrifft rechtsgeschäftliche Erklärungen ebenso wie Beschlüsse aller Art, im privaten Bereich etwa Eigentümerversammlungen oder Gesellschafterversammlungen. Ebenfalls hierher gehören Rechtsberatung und die Vertretung durch Rechtsanwälte. Auch für die öffentlich-rechtlich geordneten politischen Beschlussgremien und vor allem in Gerichts- und Verwaltungsverfahren werden Mündlichkeit und Schriftlichkeit zunehmend durch elektronische Kommunikation verdrängt. Man wartet gespannt, ob eines Tages Lautsprache und Papierschrift rechtlich zu bloßen Fakten abgewertet werden.

Das Onlinezugangsgesetz (OZG) verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, bis Ende 2022 ihre Verwaltungsleistungen über Verwaltungsportale auch digital anzubieten. Im OZG-Umsetzungskatalog werden annähernd 600 Verwaltungsleistungen in 35 Lebens- und 17 Unternehmenslagen gebündelt und 14 übergeordneten Themenfeldern wie »Familie und Kind« oder »Unternehmensführung und -entwicklung« zugeordnet.

Die Informationsbasis für Entscheidungen ändert sich. Private ergugeln sich ihre Entscheidungsgrundlagen im Internet. Profis verfügen über spezialisierte Informationssysteme. Schon vor 30 Jahren hat man überlegt, ob Datenbanken von Gerichtsurteilen den Entscheidungsspielraum einengen könnten. Die bloße Speicherung und Durchsuchbarkeit von Gerichtsentscheidungen mit Hilfe selbstgewählter Stichworte und Boole´scher Operatoren war aber nur ein erster Schritt. Die nächsten Schritte werden dahin gehen, dass künstliche Intelligenz den Fallvergleich übernimmt und einschlägige Normen benennt. Dann ist der Weg zu Entscheidungsvorschlägen oder Entscheidungen nicht mehr weit.

Automatisierte Dokumentenerstellung ist inzwischen Routine (Wagner S. 49f). Sie hat die früher üblichen Formularbücher abgelöst. Insoweit geht es aber nur um die EDV-gestützte Verwendung von Textbausteinen. Als nächster Schritt steht die freie Formulierung neuer Texte an.

Im Juli 2020 hat die kalifornische Firma OpenAI eine neue Version ihres Programms GPT-3 (Generative Pre-trained Transformer) vorgestellt. Es handelt sich um einen Textgenerator, der mit 175 Milliarden Sprachelementen trainiert worden ist und nunmehr auf Fragen aller Art antwortet und Stichworte zu einem zusammenhängenden Text ergänzt. Seit 2023 ist das Programm als ChatGPT für jedermann zugänglich. Das Programm ist so gut, dass es Fortsetzungen zu Gedichten schreiben oder den Stil eines Autors imitieren kann. Das Programm arbeitet wohl so, dass es für jede ihm vorgegebene Wortfolge Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten der Fortsetzung ermittelt. Das dürfte bei Rechtstexten gar nicht so schwer sein, zumal die juristische Literatur schon weitgehend digitalisiert ist. Mit einiger Sicherheit darf man annehmen, dass auch Gerichtsurteile und sonstige Rechtstexte in die Textbasis der LLM (Large Language Models) eingeflossen sind. Längst wrden nicht bloß Zeitungsartikel, sondern auch Anwaltsschriftsätze mit Hilfe solcher KI verfasst. Wir müssen damit rechnen, dass schon alsbald juristischen Zeitschriften mit KI erstellte Manuskripte zur Veröffentlichung angeboten werden. In anderen Disziplinen sind computergenerierte Fake-Publikationen längst zum Thema geworden: Guillaume Cabanac/Cyril Labbé haben 243 solcher Artikel identifiziert (Prevalence of Nonsensical Algorithmically Generated Papers in the Scientific Literature, Journal of the Association for Information Science and Technology, 2021, 1-16).

Die »generative« KI stellt das Recht vor alte und neue Fragen, auf die es bisher kaum Antworten gibt. Das Urheberrecht bereitet noch die kleinere Sorge. Gravierender ist der Umstand, dass mit KI generierte Narrative Fakten anführen, die ganz anderen Kontexten entnommen sind und damit zu Fakes werden. Nicht weniger beunruhigend ist die Aussicht, dass sich die KI-generierten Texte alle Urteile und Vorurteile widerspiegeln, die in der zum Training benutzten Textbasis vorhanden sind. Man weiß nicht recht, ob man die Rekursivität der LLM fürchten oder als Hoffnung auf Selbstzerstörung als KI-Kannibalismus begrüßen soll. Gemeint ist das Phänomen, dass immer mehr KI-generierte Texte in die Textbasis einfließen, so dass am Ende eine Art Inzucht das System lahmlegt (Amy Cyphert u. a., Artificial Intelligence Cannibalism and the Law, SSRN 2023, 4622769).

Die Versuche, entscheidungsbedürftige Rechtsfragen zu computerisieren, waren nach einem Höhepunkt in den 1980er Jahren vorübergehend erlahmt. Nunmehr hat jedoch die elektronische Datenverarbeitung als LegalTech bei Routineanwendungen auf breiter Front Einzug gehalten.

Dazu gibt es eine interessante Sonderdiskussion, in der seit bald 30 Jahren der Engländer Richard Susskind den Ton angibt, indem er das Ende der traditionellen Anwaltschaft vorhersagt. 1996 erschien von Susskind »The Future of Law«, 2000 »Transforming the Law«. 2008 folgte »The End of Lawyers?«, 2013 »Tomorrow’s Lawyers« und 2019 ein Band über »Online Courts and the Future of Justice«. Ferner von Richard Susskind/Daniel Susskind, The Future of the Professions, 2015. Solchen Voraussagen zum Trotz ist immer noch eine quantitative Ausdehnung der Rechtsberufe zu beobachten. Jedenfalls in der Anwaltschaft könnte die Entwicklung aber auf eine Dequalifizierung und Abwertung des Berufsstandes hinauslaufen (Margaret Thornton, Towards the Uberisation of Legal Practice, Law, Technology and Humans 2019, 46–63).

Große Beachtung findet daher das Aufkommen der LegalTechs, die Routinetätigkeiten der Anwaltschaft übernehmen. Nachdem der BGH (BGHZ 224, 89 Rn. 38 ff.) das Angebot eines »Mietpreisrechners« auf der Internetseite eines Inkassodienstleisters großzügig zugelassen hatte, hat das (LegalTech-)Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt solche Angebote auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt.

Viele Verwaltungsverfahren lassen sich automatisch erledigen. Das beweist die Finanzverwaltung mit der Digitalisierung von Steuererklärung und Bescheiderstellung. Spannender ist die Frage, ob und wie Algorithmen juristische Argumentation und am Ende die zur Entscheidung führende Abwägung ersetzen können. Es besteht weithin Konsens, dass der menschliche Richter nicht ersetzt werden darf. Das lässt sich aus dem Grundgesetz ableiten, indem man den gesetzlichen Richter des Art. 101 I 2 GG, eventuell unter Hinzunahme von Art. 1 GG, als menschlichen Richter interpretiert. Nach Art. 22 I DSGVO sind automatisierte Entscheidungen mit Rechtsfolgen grundsätzlich verboten.

»Die betroffene Person hat das Recht, nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung – einschließlich Profiling – beruhenden Entscheidung unterworfen zu werden, die ihr gegenüber rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt.«

Für das Verwaltungsverfahren bestimmt § 35a VwVfG:

»Ein Verwaltungsakt kann vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen werden, sofern dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist und weder ein Ermessen noch ein Beurteilungsspielraum besteht.«

Die Grenze zwischen Ermessen und strikter Gesetzesbindung ist freilich das Grundproblem der Rechtsanwendung überhaupt. Auch anscheinend eindeutige Tatbetandsmerkmale können eine Auslegung erfordern. Dieses Problem umgeht die Verwaltungspraxis dadurch, dass sie den Antrag nicht im Freitext akzeptiert, sondern die Eingabe in ein Formular verlangt, so dass der Antragsteller selbst seine Angaben zum Sachverhalt den Tatbestandsmerkmalen zuordnet.

Zugunsten automatisierter Rechtsanwendung wird drauf verwiesen, dass menschliche Entscheidungen oft vorurteilsbehaftet und emotional verzerrt seien. Allerdings müssten automatisierte Entscheidungen zunächst einmal tranparent und erklärbar sein. Bisher scheitern KI-Anwendungen, die abwägen, Beurteilungsspielräume ausfüllen oder Ermessen ausüben sollen, noch daran, dass sie künstlichen neuronalen Netzwerken überlassen werden müssen, deren Funktion nicht so transparent ist, dass sich die einzelnen Entscheidungen erklären lassen. Diese Netze sind auch für Informatiker zum Teil noch eine black box. Wenn es gelingt, insoweit Transparenz herzustellen, scheinen für eine »menschliche« Maschinenjustiz immer noch Empathie und soziale Fähigkeiten zu fehlen. Bei den Pflegerobotern hält man es anscheinend nicht für ausgeschlossen, ihnen diese Eigenschaften beizubringen. Solove/Matsume meinen, Entscheidungen über das Schicksal von Menschen seien so komplex, dass sie niemals in Algorithmen übersetzt werden könnten. Vielleicht stellt sich am Ende aber nur noch die Frage, ob man auf fallspezifische moralische und emotionale Subjektivität der Entscheider verzichten will.

IV.   Digitalisierung und juristisches Denken

Literatur: Lorenz Kähler, Norm, Code, Digitalisat, in: Milan Kuhl/Frauke Rostalski, Normentheorie im digitalen Zeitalter, 2023, 13–36; Anika Klafki u. a. (Hg.), Digitalisierung und Recht, 2017; Barbara Kolany-Raiser u. a. (Hg.), Big Data und Gesellschaft, Eine multidisziplinäre Annäherung, 2018; Frank Fagan, Natural Language Processing for Lawyers and Judges, 2020, SSRN 3564966 = Besprechung von Michael A. Livermore/Daniel N. Rockmore (Hg.), Law as Data, Computation, Text, and the Future of Legal Analysis, 2019; Florian Knauer, Juristische Methodenlehre 2.0?, Der Wandel der juristischen Publikationsformate und sein Einfluss auf die juristische Methodenlehre, RTh 40, 2009, 379-403; Stephan Meder, Die Zukunft der juristischen Methode: Rehabilitierung durch Chat-GPT?, JZ 2023, 1041; Austin Sarat/Paul Schiff Berman (Hg.), Law and Society Approaches to Cyberspace, 2018; Houman B. Shadab, Software is Scholarship, SSRN 2020, 3632464.

Wie zuvor die Verschriftlichung und der Buchdruck lässt die Digitalisierung das Recht selbst nicht unberührt, denn Recht ist Kommunikation, und die Digitalisierung hat ein neues Medium der Kommunikation geschaffen, oder vielmehr, sie hat die traditionellen Medien – Sprache, Schrift, Bilder – in sich aufgenommen. Raum und Zeit werden bedeutungslos. McLuhan hatte im Fernsehzeitalter die Metapher vom globalen Dorf in die Debatte geworfen. Was McLuhan einst Telefon, Radio und Fernsehen zuschrieb, scheint mit der Digitalisierung als globales Dorf 2.0 vollendet zu sein. Jeder erfährt, was in der Welt passiert, und fast wie auf dem Dorf kann jeder mit jedem ohne Zeitverzögerung auf allen Kanälen kommunizieren.

Anfänglich machte man sich Gedanken über die überragenden Speicher- und Datenverarbeitungsmöglichkeiten und vermutete etwa, dass mit ihrer Hilfe Juristen überflüssig werden oder die Bedeutung von Präjudizien wachsen werde. Zugleich erwartete man, dass das Internet durch Open Access und Jedermann-Medien eine Plattform für deliberative Demokratie werden könne. Solche Erwartungen sind jedoch durch gegenläufige Entwicklungen konterkariert worden. Die Fülle des digitalen Angebots macht es schwerer, zwischen Wissen und begründeten Meinungen einerseits und Informationsschaum andererseits zu unterscheiden. Die digitale Öffentlichkeit ist nicht weniger verführbar als das präsente Publikum.

Die von Goody und Watt so genannte strukturelle Amnesie (o. § 2 III) scheint zurückzukehren. Man benötigt kein präsentes Wissen, und gespeicherte Informationen brauchen keine Ordnung mehr, denn Suchmaschinen finden bei Bedarf, was gebraucht wird. Aber der Kanon klassischer Ideen ist nach wie vor unverzichtbar, um das Angebot zu ordnen. Er ist in der Substanz kaum gewachsen, führt allerdings einen Halo von neuartigen Begriffen – Netzwerk, Governance, Artificial Intelligence (KI), Machine Learning (ML) usw. – mit sich, deren Bewährung noch aussteht.

Es hat sich vieles geändert. Aber der gedankliche Zugriff auf das Geschehen, wie ihn Recht und Rechtwissenschaft bieten, ist grundsätzlich geblieben. Dieser Zugriff erfolgt mittels der Sprache, und daran hat sich durch die Digitalisierung zunächst wenig geändert.

Es klingt paradox, ist aber ganz logisch: die Digitalisierung könnte einen Wandel des Rechtsdenkens vom Digitalen zum Analogen nach sich ziehen. Das zeigt sich vordergründig an der Bildkommunikation, die ja als solche »analog« ist, weil Bilder dem Sachverhalt, den sie repräsentieren, nur ähnlich sind, während Schrift die Sprache, die sie wiedergibt, exakt darstellt. Paradox klingt das insofern, als auch Bilder in Pixel digitalisiert werden müssen, um elektronisch dargestellt zu werden. Allein die Verarbeitungskapazität der elektronischen Datenverarbeitung ist so gewachsen, dass bei der elektronisch gestützten Kommunikation die digitale Basis nicht mehr wahrnehmbar ist.

V.      Auflösung des Rechts?

Literatur: Philip Maximilian Bender, Grenzen der Personalisierung des Rechts, 2022;  James R. Beniger, The Control Revolution, 1986; Omri Ben-Shahar/Ariel Porat, Personalized Law: Different Rules for Different People, 2021; Michelle Cottier, Zur rechtssoziologischen Vermessung der Abschaffung, Transformation und Entformalisierung von Recht, Zf Rechtssoziologie 40, 2020, 241-251; Gilles Deleuze, Unterhandlungen (darin S. 254-262: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften), 1993; Timothy Endicott/Karen Yeung, The Death of Law? Computationally Personalized Norms and the Rule of Law, University of Toronto Law Journal 72, 2022, 373–402; Andres Guadamuz, All Watched Over by Machines of Loving Grace: A Critical Look at Smart Contracts, SSRN Journal, 2019, 3805473; Mireille Hildebrandt, Smart Technologies and the End(s) of Law, 2015; dies., Law as Information in the Era of Data-Driven Agency, Modern Law Review 79, 2016, 1-30; Evgeny Morozov, Digital Socialism? The Calculation Debate in the Age of Big Data, New Left Review 116/117, 2019, 33-67; Alain Supiot, La gouvernance par les nombres, 2015; Jesús Fernández-Villaverde, Simple Rules for a Complex World with Artificial Intelligence, 2020.

Vor der Auflösung des Rechts kommt die digitale Kontrollgesellschaft. Was James R. Beniger 1986 als »Control Revolution« beschrieben hat, ist immer noch in vollem Gange. Auch wenn man bedenkt, dass das englische Verb to control nicht kontrollieren, sondern regeln oder steuern bedeutet, so darf man doch von einer Entwicklung zur Kontrollgesellschaft reden.

Die Technologie hat einen großen Sprung gemacht. Neuen Identifikations- und Analysetechniken – RIF-Technologie, biometrische Verfahren, Gentechnik und Nanochemie, Sensoren – entgehen keine Spuren mehr. Rechtliche Verhaltensanforderungen werden in technische Systeme eingebettet. Rüttelstreifen auf der Fahrbahn und Abstandswarner im Auto sind nur Vorboten technischer Compliance-Systeme. Behörden und Private bedienen sich verstärkt neuer Kontroll- und Überwachungstechniken. Dazu gehören auch die Smart Contracts, also Computerprogramme, die, z. T. mittels einer Blockchain, die Ausführung von Verträgen abbilden.

Bisher wird die Entwicklung vorwiegend kritisch unter der Überschrift Big Data verfolgt. Kritik ist insofern naheliegend, als die Datensammlung weitgehend im Verborgenen abläuft, weil Daten genutzt werden, die ohnehin bei allen digitalen Aktivitäten anfallen. Noch kritischer ist der Umstand, dass die Verfügung über die gesammelten Daten und ihre Verwendung nicht klar geregelt ist.

»Abschaffung des Rechts?« war das Thema des vierten Kongresses der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen vom 13-18. September 2018 in Basel. Karl Marx sah am Ende aller Klassenkämpfe den Staat und mit ihm das Recht überflüssig werden. In Basel überlegte man, ob das Recht soziologisch aufzuheben oder in funktionale Kybernetik zu überführen sei. Heute spekuliert man, dass künstliche Intelligenz das Recht mehr oder weniger überflüssig machen könnte. Von Hayek hatte den Preismechanismus als Informationsquelle für die Koordinierung von Angebot und Nachfrage dargestellt. Inzwischen erörtert man, ob dieses Kernstück des Kapitalismus überflüssig werde, wenn KI aus der Datenflut die notwendigen Informationen kondensiert (Morozov). Findet man die Funktion des Rechts in der möglichst konfliktfreien Koordinierung sozialen Handelns, so liegt die Annahme nahe, dass KI solche Koordinierung leisten könnte, ohne auf die Zwischenstufe abstrakter Regeln angewiesen zu sein. Ein Schritt in diese Richtung wäre individualisiertes Nudging. Das Prinzip der Allgemeinheit des Gesetzes könnte unterlaufen werden, weil die Digitalisierung einen personalisierten Zugriff auf die einzelnen Bürger gestattet. Bisher erleben wir im Gegenteil eine Expansion des Rechts, die nicht zuletzt auf den Wunsch zur Zähmung der durch Digitalisierung und KI entfalteten Kräfte zurückgeht.