§ 2 Recht als Kommunikation

I.   Der Begriff des Rechts als Definitionsproblem

»Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe vom Recht.« So schrieb Immanuel Kant im Jahre 1781 beiläufig in einer Fußnote zur »Kritik der reinen Vernunft«. Eine wissenschaftliche Lehrdarstellung beginnt gewöhnlich mit einer Definition ihres Gegenstandes. Aber Kants viel zitierte Fußnote mahnt zur Vorsicht. Wer fragt, »Was ist Recht?«, oder den »Begriff des Rechts« zu bestimmen versucht, ohne sich zuvor über die Aufgabe einer Definition zu verständigen, läuft Gefahr, sich in einem Knäuel von Problemen zu verlieren. Es fällt nicht schwer, ein Dutzend oder mehr unterschiedliche Rechtsdefinitionen zusammenzustellen. Aber sie können in eine Fußnote[1] verbannt werden. Niemand muss sie lesen, um dem Gang der Darstellung folgen zu können. Jeder meint zu wissen, was gemeint ist, wenn von Recht die Rede ist. So gehört das Recht – mit der Wissenschaft oder der Kunst – zu den Phänomenen, die sich zwar gut beschreiben, aber nicht abschließend definieren lassen.

Die Diskussion um den Rechtsbegriff ist verwirrt und verwirrend, weil die Beteiligten ihre unterschiedlichen philosophischen Grundeinstellungen als Definitionsproblem austragen. Man redet viel aneinander vorbei, versteht sich nicht oder will sich nicht verstehen. Wir können uns nur verständigen, wenn wir die gleiche Sprache sprechen. Auf den ersten Blick ist das nicht schwierig. Auf den zweiten Blick bemerken wir aber, wie Sprachverwirrung aufkommt, wenn von Recht und Gerechtigkeit die Rede ist. Der gesamte politische Tageskampf erscheint als eine endlose Diskussion über Recht und Gerechtigkeit. Kann es Recht sein, dass Fehlurteile nach Eintritt der Rechtskraft Bestand haben? Wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn es Menschen gibt, die von weniger als 500 € im Monat leben müssen, während andere mehr als 10.000 € zu ihrer Verfügung haben? Kann es richtig sein, eine Frau von Rechts wegen zur Austragung ihres Kindes anzuhalten? War es Recht, die Vermögenssteuer abzuschaffen oder Funktionäre der alten DDR zu bestrafen? War es Recht, den Irak Saddams Husseins mit Krieg zu überziehen?

Nicht nur über Recht und Gerechtigkeit gehen die Meinungen auseinander. Viele Begriffe, auf die Juristen so stolz sind, sind nicht eindeutig definiert. Ja, es ist nicht einmal klar, was eigentlich unter einer Definition zu verstehen ist. Ludwig Wittgenstein, der Pionier der Sprachphilosophie, lenkt in seinen »Philosophischen Untersuchungen« (Teil 1, Nr. 195) mit einer Anekdote auf das Problem:

»Jemand sagte mir, er habe sich als Kind darüber gewundert, daß der Schneider ›ein Kleid nähen könne‹ – er dachte, dies heiße, es werde durch bloßes Nähen ein Kleid erzeugt, indem man Faden an Faden näht.«

Sprache ist die Bedingung vernünftigen Redens und Denkens. Die großen Probleme der Metaphysik, so Wittgensteins Kritik an der traditionellen Philosophie, seien oft nur die Resultate schlichter Sprachverwirrung. Der Allgemeinen Rechtslehre geht es nicht um Metaphysik, sondern um die Niederungen des positiven Rechts. Aber Wittgensteins Vermutung könnte auch hier zutreffen: Viele juristische Streitfragen beruhen vielleicht nur auf Verständigungsproblemen. Daher ist es sinnvoll, sich zunächst mit der Sprache selbst zu beschäftigen. Das gilt umso mehr, als die aus dem englischen Sprachraum kommende analytische Sprachphilosophie zur Grundlage der modernen Rechtstheorie geworden ist. Unser Ziel ist zunächst eine Verständigung über die Aufgabe und die Möglichkeiten einer Definition des Rechts. Auf dem Weg dahin wird uns eine Reihe von Begriffen begegnen, die auch in anderem Zusammenhang nützlich sind.

II.  Recht und Medien

Literatur: Michael Clanchy, From Memory to Written Record: England 1066–1307, 2. Aufl. 1993; Jack Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, 1990; ders./Jan Watt/Kathleen Gough (Hg.), Entstehung und Folgen der Schriftkultur, 1986; Eric A. Havelock, Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, 1990 [1982]; Harold A. Innis, The Bias of Communication, 1951 (mehrfach neu aufgelegt); ders., Empire and Commu­nication, 1950, Textauswahl in Übersetzung in Karlheinz Barck (Hg.), Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation, 1997; M. Ethan Katsh, The Electronic Media and the Transformation of Law, 1989; Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis, 1968 [The Gutenberg Galaxy, 1962]; ders., Die magischen Kanäle, 1968 [Understanding Media, 1964]; W. J. Ong, Orality and Literacy 1982; Richard J. Ross, Communications Revolutions and Legal Culture: An Elusive Relationship, Law & Social Inquiry 27, 2002, 637-684.

Bevor wir den sprachanalytischen Ansatz der Rechtstheorie behandeln, ist es notwendig, ihn sogleich wieder zu relativieren. Das Recht als soziale Erscheinung lässt sich als ein Kommunikationssystem beschreiben, nämlich als ein System, in dem Informationen produziert, gespeichert, verarbeitet und ausgetauscht werden. Die Übermittlung von Informationen erfolgt durch Zeichen. Diese wiederum können nur mit Hilfe eines physikalischen Mediums übermittelt werden. Das beherrschende Zeichensystem des Rechts ist die Sprache, und als Medien dienen das gesprochene Wort, die Handschrift, der Buchdruck und inzwischen der Bildschirm. Die Annahme liegt nahe, dass der Übergang zu einem anderen Zeichensystem oder ein Wandel der Verbreitungsmedien alsbald auf das Recht durchschlägt.

Die Medientheorie hat ihren Ursprung in der sog. Toronto-Schule (Innis, McLuhan, Havelock, Goody, Ong, Watt). Von Harold Innis stammt die These, dem jeweils dominierenden Kommunikationsmedium sei ein Bias, eine Voreinstellung zugunsten bestimmter gesellschaftlicher Interessen und Organisationsformen inhärent. Innis stellte dabei auf das materielle Substrat der Kommunikation – Stein oder Tontafeln, Pergament, Papyrus und Papier und schließlich Elektrizität – ab. Maßgebliche Eigenschaften von Stein und Tontafeln sind räumliche Bindung und Dauerhaftigkeit, die die Zeitdimension und damit Tradition und Hierarchie begünstigen sollen. Das leicht transportable Papier dagegen ermöglicht die Ausdehnung der Herrschaft in den Raum, der Druck durch preiswerte Vervielfältigung eine soziale Breitenwirkung und die Elektrizität schließlich durch ihre Geschwindigkeit den sozialen Wandel. Marshall McLuhan hat diese These ausgebaut und das Ende des Buchzeitalters, der Gutenberg-Galaxis, angekündigt. Von McLuhan (1964) stammt auch die einprägsame Formel »The medium is the message«. Medien wirken nicht nur durch ihre Inhalte. Sie verändern die Inhalte, die kommuniziert werden. Und sie prägen die Menschen, die sich ihrer bedienen, in ihrem Wahrnehmen, Denken und Fühlen.

Von McLuhan gibt es auch ein Buch mit dem Titel »The Medium is the Message«. Das Zitat stammt jedoch aus der »Gutenberg-Galaxis«.

Der Satz soll ausdrücken, dass das Medium die Inhalte nicht unberührt lässt. So verändert sich auch das Recht mit dem Übergang von der Oralität zur Literalität, vom Manuskript zum Buchdruck, vom Schreiben zur Textverarbeitung und von der Bibliothek zur Datenbank und zum Internet.

Von Anfang an hat Innis die soziale Bedeutung des Medienwandels an Veränderungen der Herrschafts- und damit der Rechtsstruktur demonstriert. Es zeigt sich jetzt, dass man die Entwicklung des Rechts in der Antike von Hammurabbi bis zu Justinian auch als Folge der fortschreitenden Verschriftlichung interpretieren kann. Im Mittelalter hat sich die Ablösung der Oralität durch Literalität noch einmal wiederholt, und erneut hat dieser Wandel im Recht seine Spuren hinterlassen. Der Buchdruck ist schließlich zur Grundlage dessen geworden, was noch immer als modernes Recht angesehen wird.

An die Vorstellung vom Medienwandel als Auslöser sozialer Veränderungen knüpfen auch Eric A. Havelock, Jack Goody und Walter J. Ong an. Aber sie stellen nicht auf die materiell-technischen Qualitäten des Mediums ab, sondern auf dessen Code-Struktur. Unter diesem Aspekt haben sie sich mit dem Übergang von der Oralität zur Literalität befasst und die These populär gemacht, dass die Schrift mit ihren spezifischen semiotischen Qualitäten geeignet sei, kognitive Prozesse im Allgemeinen und speziell logisches Denken zu fördern, und damit kulturprägende Wirkungen entfaltet habe (u. III).

In jüngerer Zeit haben sich besonders Thomas Vesting und seine Schüler (Cornelia Vismann, Fabian Steinhauer) mit der Bedeutung des Medienwandels für das Recht befasst. Bereits in seiner »Rechtstheorie« von 2007 hatte Vesting auf zwölf Seiten (144-157) differenziert und mit vielen Belegen seine Thesen zur Bedeutung der Verbreitungsmedien für die Rechtsevolution und seine Konsequenzen für eine adäquate Rechtstheorie vorgestellt (2. Aufl. 2015, 149-181). Dieses Kapitel war und bleibt mit seiner Informationsfülle und Prägnanz ein Meisterstück. In der Folgezeit ist eine Reihe wichtiger Bücher entstanden, die diese Gedanken weiter ausführen: Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Schrift, 2011, Sprache, 2011; Buchdruck, 2013 (Rezension von Andreas Thier, Der Staat 56, 2017, 277-291); ders., Medialität des Rechts, in: Ino Augsberg/Sophie-Charlotte Lenski (Hg.), Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Rechts 2012, 147-171; Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, 2011 (Rezension von K. F. Röhl, ZfRSoz 32, 2011, 255-273).

III.   Das kognitive Dispositiv der Schrift

Die Verschriftung der Sprache führte zu einer spezifischen Rationalität des Denkens, wie sie die Jurisprudenz auszeichnet. Sie reinigte die Sprache von Emotionen und Synästhesien. Der besondere Schrifttyp des Alphabets verlieh der Sprache einen quasi digitalen Zuschnitt, der in Verbindung mit Orthografie und Grammatik eine eindeutige Reproduktion erlaubte. Die Dauerhaftigkeit der Schrift in Verbindung mit der Formalisierung der Sprache ermöglichte eine Überprüfung von Texten auf ihre logische, syntaktische und semantische Konsistenz. Erst die so durchgebildete Sprache brachte die Fähigkeit zur Abstraktion, zu formallogischen Schlüssen und zu kausalem Denken hervor.

Die Kunst des Schreibens bestand und besteht darin, die Fülle der Gedanken, wiewohl sie vielfach kreuz und quer verknüpft sind, sequentiell zu ordnen. Satz folgt auf Satz. Wir sprechen bildlich von einem Faden, an dem die Gedanken aufgereiht sind. Die Linearität der Schriftsprache korrespondiert – und das ist sicher kein Zufall – mit den Ordnungsvorstellungen, die das Denken seit der Antike beherrschen. Wir ordnen die Welt mit der Hilfe linearer Konzepte. Linear ist die Vorstellung der Zeit. Linear ist die Kausalitätsvorstellung, die Ursache und Wirkung verknüpft, und linear ist schließlich auch unsere Vorstellung vom Raum jedenfalls insoweit, als sich zwei beliebige Punkte stets durch eine Gerade verbinden lassen.

Die Schrift befreite das Gedächtnis und machte so eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten möglich. Schrift gestattete, die aufgeschriebenen Gedanken wie etwas Fremdes zu behandeln. Diese Objektivierung der Information führte zur Frage nach dem Subjekt und damit zu den Anfängen eines reflektierten Selbstbewusstseins. Erst danach konnten die Philosophen beginnen, Wahrheiten und Meinungen zu trennen. Erst mit Hilfe der Schrift entwickelten sie Taxonomien zur Ordnung des Wissensstoffes. Was Goody und Watt strukturelle Amnesie genannt haben, nämlich die ständige Transformation des erinnerten Wissens in Abhängigkeit von den Notwendigkeiten und Zufälligkeiten der Praxis, wurde mit Hilfe der Schrift durch ein Wissensmanagement ersetzt.

621 v. Chr. erhielt in Athen der Archon Drakon den Auftrag, das Recht auf Gesetzestafeln aufzuzeichnen, um die Willkür der adeligen Richter zu unterbinden. Die Schrift wurde zum Instrument demokratischer Kontrolle gegen »strukturelle Amnesie«. Solon, der Archon Eponymos für das Jahr 594/593, machte die Erziehung zur Staatsaufgabe. Die Kinder aller Bürger wurden im Lesen und Schreiben unterrichtet. Schrift blieb nicht länger ein Werkzeug von geheimer und magischer Kraft, Literalität nicht länger ein Elitestatus. Als Sokrates 399 angeklagt war, er leugne, dass Sonne und Mond Götter seien, und behaupte, die Sonne sei aus Stein und der Mond aus Erde, konnte er sich verteidigen, die Richter seien doch belesen genug, um zu wissen, dass diese Behauptung von Anaxagoras stamme, dessen Bücher für weniger als eine Drachme auf dem Orchestraplatz zu kaufen seien.

Bereits die schriftkundigen Vorsokratiker hatten epistemologische Fragen aufgeworfen. Xenophanes (546-470) meinte: »Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird auch keiner erkennen.« Für Sophisten wie Protagoras (481-411) waren erkenntnistheoretischer Skeptizismus und normativer Relativismus beinahe selbstverständlich. Sie kannten die Unterscheidung von Natur und Konvention ebenso wie die von Recht und Gesetz. Als Ursache dieser Emanzipation hatte Platon die Schrift ausgemacht, und er stemmte sich der »Trennung des Wissenden vom Wissen« entgegen. Die Geringschätzung der Schrift hinderte Platon aber nicht, in diesem Medium eine logische Propädeutik des wahren Redens zu entwickeln.

Platons Schriftkritik adressiert insbesondere den Unterschied zwischen konzeptionell mündlicher und konzeptionell schriftlicher Sprache. Der konzeptionell schriftliche Text berücksichtigt die räumliche und zeitliche Distanz von Schreiber und Leser und treibt daher einen größeren sprachlichen Aufwand, um das Gelingen der Kommunikation im Sinne kongruenten Verstehens zu sichern. Er macht seine Gedanken explizit, entwickelt seine Argumente linear und verknüpft sie logisch und konsistent. Bloße Rede kann sich viel stärker auf den außersprachlichen Kontext verlassen. In einer Formulierung von David Olson: Bei der schriftlichen Kommunikation gilt, »the meaning is in the text«, für die mündliche, »the meaning is in the context«. In der Konsequenz ist der konzeptionell schriftliche Text relativ kontextunabhängig (autonom).

Aristoteles hatte die Vorbehalte seines Lehrers gegenüber der Schrift überwunden. Er nutzte die Schrift zur Entwicklung von Logik und Epistemologie. Die von der Schrift erzwungene lineare Anordnung diskreter Einheiten wurde zum Maßstab der Rationalität. Seither ist (Geistes-)Wissenschaft anscheinend unauflöslich mit Schrift verbunden. In der Zeit nach Aristoteles hat sich das Begriffsinventar von Logik, Rechtsphilosophie und politischer Theorie nicht mehr grundlegend verändert. Es ist durchdrungen von jener spezifischen Rationalität eines schriftgeprägten Denkens in abstrakten Kategorien, zergliedernden Definitionen und logischen Schlussfolgerungen.

In den letzten Jahrzehnten wird die schriftgeprägte Rationalität aus verschiedenen Richtungen angegriffen. Weil Schrift anscheinend statisch ist, sind fluide, dynamische oder Prozessmodelle angesagt. Gegen die Linearität der Schrift wird Vernetzung ins Spiel gebracht. Indessen verfügt auch die Kritik über kein besseres Mitteilungsmedium als die kritisierte Schriftsprache.

Das Universum juristischer Texte ist bunt. Es lässt sich nach Autoren und Adressaten, nach Publikationsformaten und Publikationsorganen sortieren (Andreas Funke, Formate der Rechtswissenschaft – eine Nachlese, in: Formate der Rechtswissenschaft, 2016, hg. von Andreas Funke/Konrad Lachmayer, 2016, 275-287).

IV.      Vom Linguistic Turn zum Pictorial Turn

Literatur: Neal Feigenson, The Visual in Law: Some Problems for Legal Theory, Law, Culture and the Humanities 10, 2014, 13-23; Siegfried Frey, Die Macht des Bildes. Der Einfluss der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik, 2. Aufl. 2005; M. Ethan Katsh, Law in a Digital World, 1995; Stefan Machura/Stefan Ulbrich (Hg.), Recht im Film, 2002; Wolfgang Mitsch, Videoaufzeichnung als Vernehmungssurrogat in der Hauptverhandlung, JuS 2005, 102; Klaus F. Röhl, Das Recht nach der visuellen Zeitenwende, JZ 2003, 339; ders., Bilder in gedruckten Rechtsbüchern, in: Kent Lerch (Hg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 3, 2005, 266; ders./Stefan Ulbrich, Recht anschaulich. Visualisierung in der Juristenausbildung, 2007; Richard K. Sherwin, When the Law Goes Pop: The Vanishing Line between Law and Popular Culture, 2002; ders. (Hg.), Popular Culture and Law, 2006 (ein sog. Reader); Cornelia Vismann, Image and Law – a Troubled Relationship, Parallax 14, 2008, 1-9.

Für das Recht ist die Sprache das Kommunikationsmittel der Wahl. Daran hat auch die Digitalisierung der Kommunikation grundsätzlich nichts geändert. Aber die Sprache ist nicht ohne Konkurrenz. In historischer Zeit spielten Rechtsgesten eine gewisse Rolle. Noch immer verlangen § 64 IV StPO und § 481 IV ZPO, dass der Zeuge bei der Beeidigung die Rechte als Schwurhand hebt. Die illustrierten Handschriften des Sachsenspiegels sind so berühmt, dass die Bedeutung von Bildern für das mittelalterliche Recht eher überschätzt wird. Längst haben elektronische Medien die Speicherung und Wiedergabe von Texten übernommen. Inzwischen beherrschen sie auch den Umgang mit Bildern. Sie produzieren eine Bilderflut, die das kommunikative Verhalten verändert. Immer mehr Menschen entnehmen Bildern ihre Vorstellungen von dem, was sie für wichtig und richtig halten.

Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Wittgenstein eingeleitete »sprachphilosophische Wende« wird auch linguistic turn genannt (nach dem Titel einer 1967 von Richard Rorty herausgegebenen Anthologie). Inzwischen spricht man von der »visuellen Zeitenwende« oder dem pictorial turn (nach W. J. T. Mitchell, Art Forum International März 1992, 89). Die Begriffe sind aber nicht vergleichbar. Linguistic turn meint einen neuen Ansatz der Philosophie; pictorial turn dagegen bezieht sich empirisch darauf, dass die elektronischen Medien neben Zahlen und Text überall auch Bilder verfügbar machen.

Wenn es um die Bedeutung von Bildern für das Recht geht, so ist es zweckmäßig, verschiedene Systemreferenzen zu unterscheiden. Bilder im Recht sind solche, die innerhalb des Rechtssystems, also in der rechtsinternen Kommunikation, Verwendung finden. Bilder vom Recht dagegen dienen der Kommunikation über das Recht, wie sie außerhalb des Rechtssystems im engeren Sinne, also vor allem in den Massenmedien, aber auch in der Kunst, in Literatur oder im Alltag stattfindet.

Bilder im Recht sind selten, Bilder vom Recht dagegen gibt es viele. Schon immer war Recht auch Thema der bildenden Kunst. Wie selbstverständlich zeigen heute die Medien Bilder vom Recht. Sie zeigen Polizeifilme, Kriminalfilme, Anwalts- und Gerichtsfilme. Sie berichten, natürlich mit Bildern, über Gesetze und Urteile. In den USA hat das Fernsehen auch den Gerichtssaal erobert. In Deutschland wird es vor Beginn der Verhandlung ausgesperrt (§ 169 I 2 GVG, BVerfGE 103, 44). Das Courtroom-Drama erfüllt alle Anforderungen für eine medienwirksame Story. Die Gerichtsszene fungiert als Rahmenhandlung, in der das Leben Revue passiert. Dafür eignet sich besonders das adversarische Verfahren amerikanischen Musters, das in Film und Fernsehen in aller Welt dominiert.

Der forensische Gebrauch visueller Kommunikationsmittel (also ihre Verwendung im Gerichtsverfahren) ist mehr oder weniger selbstverständlich, freilich auf einem technisch niedrigen Niveau, denn er erschöpft sich weitgehend im Gebrauch konventioneller Fotografien für Beweiszwecke. Relativ neu ist immer noch die Zeugenvernehmung aus der Distanz mit Hilfe der Videokamera. Erhebliche Anstrengungen gelten dem Ersatz der Präsenzverhandlung vor Gericht durch Online-Videokonferenzen.

Der Kernbereich der juristischen Fachkommunikation hat die Bilder bisher weitgehend ausgesperrt. In den amtlichen Entscheidungssammlungen, in gelehrten Büchern und in praxisorientierten Kommentaren sind Bilder die berühmte Ausnahme, die nur die Regel bestätigt. Doch der erste Eindruck täuscht. Zum Visuellen gehört mehr als nur realistische Bilder. Fast unmerklich macht die elektronische Textverarbeitung aus dem Fließtext ein Schriftbild. Es ist noch nicht lange her, da waren Fettdruck und Unterstreichungen und auch der Wechsel von Schriftart und Größe selten. Aus ihrer gehäuften Verwendung hätte man auf mangelnde Ausdrucksfähigkeit geschlossen. Inzwischen wird die ganze Palette der Gestaltungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Bücher und Zeitschriften geben sich ein modernes Layout. Lange Zeit ahmten elektronische Publikationen das Erscheinungsbild der Printmedien nach. Inzwischen gehen sie mit der Auflösung des uniformen Fließtextes voran. Überschriften und Textteile werden geblockt, unterlegt oder gerahmt und bekommen Farbe. Logische Bilder in der Gestalt von Begriffsbäumen und Flussdiagrammen halten Einzug. Man findet Kästchen, »Buttons« und andere Symbole, wie sie vom Computerbildschirm geläufig sind. Die Verbildlichung der Schrift ist in vollem Gange. Ganz gleich, ob das Recht die Bilder braucht oder nicht, sie werden ihm aufgedrängt, denn alle Welt kommuniziert mit Bildern, und auch die nächste Juristengeneration wird es so gelernt haben. Bilder sind noch interpretationsbedürftiger als Texte.

[»Recht und Medienwandel« und hier insbesondere die »Visuelle Rechtskommunikation« war ab 1995 Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit am Lehrstuhl für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie der Ruhr Universität. Darüber gibt noch immer die alte Internetseite des Lehrstuhls Auskunft. Das im Anschluss an das Projekt entstandene Buch

»Rechts anschaulich. Visualisierung in der Juristenausbildung«

kann heruntergeladen werden]

V.   Körper, Symbole und Artefakte im Recht

Literatur: Cornelia Vismann, Akten, Medientechnik und Recht, 2000; dies., Medien der Rechtsprechung, 2011; Bruno Latour, La fabrique du droit, Une ethnologie du Conseil d‘Etat, 2002; (Rezension von Fabian Steinhauer, Der Staat 56, 2017, 293–304); James E. K. Parker, Acoustic Jurisprudence. Listening to the Trial of Simon Bikindi, 2015; Klaus F. Röhl, Die Macht der Symbole, in: Michelle Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 267-299; Thomas Scheffer, [REC] Latours rechts-/soziologische Variante, in: Henning Laux (Hg.), Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen« 2016, 95-122; Sylvanus N. Spencer, The Use of Pop Songs by Sierra Leonean Youths in Enjoying the Space Created for Freedom of Expression after the Civil War, Africa Today 59, 2012, 71-86.

Die Foren der Rechtsprechung, insbesondere die Gerichtsgebäude und ihre Symbole, haben schon immer viel Aufmerksamkeit gefunden. Relativ neu ist die Aufmerksamkeit für die Körperlichkeit des Rechtserlebens jenseits von Körperstrafen.  Dazu

Klaus F. Röhl, Zur Rede vom multisensorischen Recht, ZfRSoz 33, 2012/2013, 51-75:

Roehl_Zur_Rede_vom_multisensorischen_Recht_2012

[1]         »Recht im juristischen Sinne ist m allgemeinen alles, was Menschen, die in irgend welcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen.« (Ernst Rudolf Bierling, Prinzipienlehre Bd. 1, 1894, 19).

          »Recht bedeutet demnach die Normen einer gewöhnlich befolgten, umfassenden und beständigen höchsten Macht.« (Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1917, 105).

                »Wir schlagen hiermit vor, ›Recht‹ eine Gesamtheit von ›sozialen Regeln‹ zu nennen, die äußeres Verhalten vorschreiben und als gerichtsfähig angesehen werden.« (Herrmann Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, 1957, 90; Original englisch 1939).

          »Wir wollen vielmehr überall da von ›Rechtsordnung‹ sprechen, wo die Anwendung irgendwelcher physischer oder psychischer Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Beruf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zwecke des ›Rechtszwanges‹ existiert.« (Max Weber, Rechtssoziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, 2. Aufl. 1967, 76; Original in: Wirtschaft und Gesellschaft, 1920).

          »Das Recht regelt das menschliche Zusammenleben durch Gebote (einschließlich der Verbote) und Gewährungen … (z. B. die Gewährung des Eigentums oder eines anderen Rechts).« (Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl. 1959, Bd. I, 196).

          (A) »law may be defined as an assemblage of signs declarative of a volition conceived or adopted by the sovereign in a state, concerning the conduct to be observed in a certain case by a certain person or class of persons, who in the case in question are or are supposed to be subject to his power.« (Jeremy Bentham, Of Laws in General, etwa 1780, 1).

          »Recht: System der vom Staat festgesetzten Normen des menschlichen Verhaltens, in dem die bestehenden Eigentumsverhältnisse und die Interessen der ökonomisch und politisch herrschenden Klasse verbindlich fixiert werden.« (Kleines politisches Wörterbuch, Berlin, 1967).

          »Recht ist die Gesamtheit der Normen, die zur Verfassung eines staatlich organisierten oder zwischenstaatlichen Normensystems gehören, sofern dieses im Großen und Ganzen sozial wirksam ist und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweist, und der Normen, die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, sofern sie, für sich genommen, ein Minimum an sozialer Wirksamkeit oder Wirksamkeitschance und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder ethischer Rechtfertigungsfähigkeit aufweisen.« (Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, NJW 1986, 896).

          »Recht kann definiert werden als eine stufenförmig strukturierte Normenordnung, die in einer Gesellschaft Verbindlichkeit besitzt, Ausübung von physischem Zwang vorsieht und sich anderen derartigen Normenordnungen gegenüber im Konfliktsfall durchsetzt.« (Norbert Hoerster, Die rechtsphilosophische Lehre vom Rechtsbegriff, JuS 1987, 188).

          »Bezeichnung für ein System sozialer Regelungen unterschiedlicher Verbindlichkeit und Vollständigkeit, dessen Ausgestaltung von der konkreten Konfliktlösung zwischen den Beteiligten über nicht situationsgebundene Vorstellungen von dem, was gut, richtig und damit verbindlich ist, bis zu dem im modernen Staat entwickelten Rechtssystem mit idR. formal definierten Entstehungs- und Geltungsvoraussetzungen reicht; Anschauungen vom Wesen des Rechts werden durch Belege deutlich, in denen es um Ursprung, Qualität, zeitlichen, personalen und räumlichen Geltungsbereich geht.« (Deutsches Rechtswörterbuch =DRW online).

          »Notwendige Mittel menschlichen Rechts sind also neben der Nutzung von Denken, Sprache und Normen seine Kategorialität, seine Externalität, seine Formalität und – zumindest wenn Religion und Recht begrifflich getrennt sind: seine Immanenz.« (Dietmar von der Pfordten, Begriff des Rechts, EzRPh, 2011.