§ 18 Paradoxien und Rekursivität im Recht

Literatur: Walter L. Bühl, Luhmanns Flucht in die Paradoxie, in: Peter-Ulrich Merz-Benz (Hg.), Die Logik der Systeme, 2000, 225-256; Jochen Bung, Das Bett des Karneades. Zur Metakritik der Paradoxologie, in: Winfried Brugger u. a. (Hg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, 72-89; Chih-Chiang Lai, Die Paradoxie des Rechts, 2014; Andreas Fischer-Lescano/Ralph Christensen, Auctoritas Interpositio. Die Dekonstruktion des Dezisionismus durch die Systemtheorie, Der Staat 44, 2005, 213-242; George P. Fletcher, Paradoxes in Legal Thought, Columbia Law Review 25, 1985, 1263-1293; Klaus Günther, Kopf oder Füße? Das Rechtsprojekt der Moderne und seine vermeintlichen Paradoxien, in: Rainer Maria Kiesow u. a. (Hg.), Summa, 2005, 255-274; Roman Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie, 2019; Douglas R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, 6. Aufl. 1985; Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, RTh 36, 2005, 143-184; Niklas Luhmann, Reflexive Mechanismen, Soziale Welt 17, 1966, 1-23; ders., The Third Question: The Creative Use of Paradoxes in Law and Legal History, Journal of Law and Society 15, 1988, 153-165; ders., Organisation und Entscheidung, 2000 (S. 41 ff); ders., Die Rückgabe des zwöften Kamels, ZfRSoz 21, 2000, 3-60; Paradoxien des Rechts: Eine Debatte zu Niklas Luhmanns Rechtssoziologie, ZfRSoz 21, 2000, Heft 1; Günter Schulte, Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, 1993; Gunther Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: Christian Joerges/Gunther Teubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht, 2003, 25-46.

I. Die Vorliebe postmoderner Rechtstheorie für Paradoxien

Paradoxien bilden ein Grundthema »postmoderner« oder »nachpositivistischer« Philosophie. Sie dienen der postmodernen Verkleidung Hegelscher Dialektik.

»Die Letztfundierung in einem Paradox gilt als eines der zentralen Merkmale postmodernen Denkens. Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit.« (Luhmann, GdG, S. 1144)

Zur Einstimmung erzählt (Luh)man(n) Anekdoten. Ein Rabbi wird von seinen Schülern gebeten, ihren Streit über eine bestimmte Frage zu entscheiden. Der erste Schüler erläutert und begründet seinen Standpunkt. Nach einigem Nachdenken erklärt der Rabbi: »Du hast recht.« Sein Gegner widerspricht und begründet seinerseits die abweichende Antwort. Nach längerem Nachdenken erklärt der Rabbi dazu: »Du hast auch recht.« Daraufhin meldet sich ein dritter Schüler zu Wort und erklärt, es könne doch nicht angehen, dass die beiden unterschiedlichen Ansichten gleichermaßen zutreffen. Der Rabbi denkt noch einmal lange nach und sagt schließlich: »Du hast auch recht«. (Nach Luhmann, 1988 S. 153). Die Vorliebe für Paradoxien bleibt nicht auf Anekdoten beschränkt. Sie reicht bis zu der expliziten Forderung, mit Theorien zu arbeiten, die selbstreferentielle – also paradoxe oder tautologische – Sätze zulassen (Michael Hutter, Die Produktion von Recht, 1989; S. 34).

Luhmann sagt uns, dass wir Paradoxien Tautologien nicht nur gar nicht vermeiden könnten, sondern dass sie das Geheimnis und den Schlüssel zum Verständnis des Rechts bildeten.

»Die Grundlage des Rechts ist nicht eine als Prinzip fungierende Idee, sondern eine Paradoxie.« (RdG, S. 235)

[Wir halten die verbreitete Paradoxitis für verfehlt. as als Paradox ausgegeben wird, erklärt sich in aller Regel als Rekursivität oder als verkappter Widerspruch.]

Röhl Ist das Recht paradox

II. Paradoxien im Recht?

Postmoderne Rechtstheorie hat, wie gesagt, eine Vorliebe für Paradoxien entwickelt. Paradoxien werden mystifiziert und entdeckt, gemanagt, entfaltet, externalisiert, temporalisiert, abgespannt oder invisibilisiert. Aus der Perspektive der Fremdbeobachtung des Rechts mag manches widersprüchlich oder tautologisch erscheinen. In der Rechtstheorie als Selbstbeobachtung des Rechts haben Paradoxien und Tautologien jedoch keinen Platz. Und in der Tat lösen sich alle angeblichen Paradoxien bei näherer Betrachtung auf.

Der Katalog der Erscheinungen, die als Beispiele für Paradoxien des Rechts angeführt werden, ist lang; hier nur eine kleine Auswahl. Paradox erscheint:

  • die Ungerechtigkeit des Rechts z. B. als gesetzliches Unrecht,
  • die Begründung des Rechts als Friedensordnung durch Revolution und Gewalt,
  • die Begründung der Rechtsgeltung in rechtlichen Verfahren,
  • die Außerkraftsetzung des Rechts durch ein Widerstandsrecht,
  • die Abschaffung der Demokratie sich durch die Wahl eines Diktators,
  • die Sicherung der Freiheit durch Freiheitsbeschränkungen,
  • die Toleranz gegenüber der Intoleranz,
  • Relativismus und Pluralismus, die vor sich selbst halt machen,
  • die Qualität des Staates, ohne den es kein Recht gibt, als juristische Person,
  • die Kompetenz-Kompetenz der Gerichte,
  • die Regelung der Regelanwendung,
  • die gerichtliche Anerkennung von Gewohnheitsrecht,
  • die Freiwilligkeit der Bindung durch Vertrag,
  • die Aufhebung der Vertragsfreiheit durch Verträge,
  • die formlose Änderung rechtsgeschäftlich vereinbarter Formen (§ 127 BGB),
  • die Begründung offensichtlicher Unbegründetheit (§ 313 Abs. 2 StPO),
  • die Bestrafung der Bigamie als Verbrechen trotz Unwirksamkeit der Zweitehe,
  • die Rechtswidrigkeit des »Dienstes nach Vorschrift«,
  • der Rechtsmissbrauch, d. H. die Wahl einer rechtlich möglichen Gestaltung, die in einer mit Treu und Glauben unvereinbaren Weise dazu verwendet, sich zum Nachteil eines anderen Vorteile zu verschaffen, die nach dem Zweck der Norm und des Rechtsinstituts nicht vorgesehen sind,
  • die Entschuldigung durch Rechtsirrtum, bringt sie doch die falsche Vorstellung des Täters vom Recht zur Geltung,
  • die Ankündigung von Änderungen einer bislang praktizierten Rechtsprechung (prospective overruling), wenn die nunmehr für gültig gehaltene Regel auf den entschiedenen Fall noch keine Anwendung finden soll.

In diesen und anderen Fällen scheint Selbstreferenz vorzuliegen; und wäre es so, dann stünden wir tatsächlich vor Paradoxien oder Tautologien. Davon kann indessen keine Rede sein, denn was auf den ersten Blick als Selbstreferenz erscheint, erweist sich bei näherer Untersuchung als Äquivokation oder als Rekursivität. Es geht immer nur um Paradoxien im ursprünglichen Wortsinne, nämlich um den Anschein eines Widerspruchs.

III. Selbstbezügliche Vorschriften im Verfassungsrecht

Literatur: Eugenio Bulygin, Das Paradoxon der Verfassungsreform, in: Werner Krawietz/Ota Weinberger, Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, 1988, 307-314; Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009; Timothy Endicott, Authentic Interpretation, Ratio Juris 2020, 6–23; H. L. A. Hart, Self Referring Laws [1964] , in: ders., Essays in Jurisprudence and Philosophy, 1983, 170-178; Norbert Hoerster, On Alf Ross‘ Alleged Puzzle in Constitutional Law, Mind 81, 1972, 422-426; Douglas R. Hofstadter, Nomic: ein Spiel, das die Rückbezüglichkeit im Rechtswesen auslotet, Spektrum der Wissenschaft, August 1982, 8-13, mit Ergänzungen wieder abgedruckt in: Hofstadter, Metamagicum, 1991, 75; Hans Huber, Die Gesamtrevision der Verfassung, FS Scheuner, 1973, 183; J. Raz, Professor A. Ross And Some Legal Puzzles, Mind 81 (1972), 415; Alf Ross, On Self-Reference as a Puzzle in Constitutional Law, Mind 78, 1969, 1-24; Peter Suber, The Paradox of Self-Amendment, 1990; Rolf Wank, Objektsprache und Metasprache, RTh 13, 1982, 465-495.

Verfassungen enthalten regelmäßig Bestimmungen, nach denen die Verfassung nur in einem besonderen Verfahren geändert werden kann. Das Grundgesetz fordert in Art. 79 I zur Verfassungsänderung die ausdrückliche Änderung des Verfassungstextes, in Art. 79 II qualifizierte Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat und enthält darüber hinaus in Art. 79 III eine »Ewigkeitsklausel«:

»Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig«.

Solche Vorschriften werfen die Frage auf, ob sie auf sich selbst anwendbar sind mit der Folge, dass das Verfahren der Verfassungsänderung seinerseits geändert werden könnte.

IV. Exkurs: Normen als Tabu?

Literatur: Carsten Bäcker, Begrenzte Abwägung. Das Menschenwürdeprinzip und die Unantastbarkeit, Der Staat 55, 2016, 433-460; Wolfgang van den Daele, Moderne Tabus? – Zum Verbot des Klonens von Menschen, in: Hans-Peter Schreiber/Werner Arber (Hg.), Biomedizin und Ethik, 2004, 77-83; Bijan Fateh-Moghadam, Zur Renaissance der Rechts- und Moralsoziologie Emile Durkheims, in: Hermann-Josef Große Kracht (Hg.), Der moderne Glaube an die Menschenwürde, 2014, 129-149; ders. u. a., Säkulare Tabus. Die Begründung von Unverfügbarkeit, 2015; Mathias Hong, Abwägungsfeste Rechte, 2019; ders., Todesstrafenverbot und Folterverbot, 2019; Friedhelm Hufen, Erosion der Menschenwürde, JZ 2004, 313-318; Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011; Niklas Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993; Ralf Poscher, »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«, JZ 2004, 756-762; Stephan Rixen, Deformierte Menschenwürde? – Neuere philosophische Beobachtungen zur utilitaristischen Versuchung des Rechts, JZ 2016, 585-594.

Die Bemühungen, jedenfalls Art. 1 GG und die darauf gestützten konkreten Normen unabänderlich zu stellen, nehmen kein Ende. Lange gab es einen stillen Konsens dahin, dass die Menschenwürde keiner Abwägung und nicht einmal Notstandseingriffen zugänglich sei. Der Konsens wurde aufgebrochen durch die im Februar 2003 erschienene Neubearbeitung der Erläuterungen von Herdegen zu Art. 1 im Grundgesetzkommentar von Maunz/Dürig. In der FAZ titelte Böckenförde »Die Menschenwürde war unantastbar.« Hier öffnet sich (scheinbar) erneut ein Paradox: Die Menschenwürde richtet sich gegen den Menschen selbst, wenn sie als Blockade gegen Forschung und Medizin eingesetzt oder gegen die Selbstbestimmung des Menschen ausgespielt wird (Hufen).

Eine Tendenz zur Verabsolutierung von Normen, insbesondere von solchen, für die man sich auf die Garantie der Menschenwürde berufen kann, geht dahin, diese Normen zu einem Tabu hochzustilisieren mit der Folge, dass sie als quasi magisch-religiöse Gebote oder Verbote eine Geltung beanspruchen, die gegenüber allen Relativierungsversuchen immun ist.

V. Auslegungs- und Kommentierungsverbote

Literatur: Hermann Conrad, Richter und Gesetz im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, 1971; Eberhard Klingenberg, Justinians Verbot der Digestenkommentierung, in: Jan Assmann/Burkhard Gladigow (Hg.), Text und Kommentar, Bd. 4, 1995, 407-422; Matthias Miersch, Das sogenannte référé législatif, 2000; H. J. Scheltema, Das Kommentarverbot Justinians, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 45, 1977, 308-331.

Aus der Rechtsgeschichte sind verschiedene Fälle bekannt, in denen der Gesetzgeber einem Gesetz eine Bestimmung beifügte, die es untersagte, das Gesetz auszulegen und zu kommentieren. Im Falle des Zweifels sollten die Richter beim Gesetzgeber Rückfrage halten. Solche Bestimmungen sind doppelt rekursiv, denn man muss ein Gesetz immer schon auslegen, um zu wissen, ob es auslegungsbedürftig ist, und auch die Auslegungsregeln selbst sind wieder auslegungsfähig und ausle­gungsbedürftig.

 

VI. Vorlagepflichten als Auslegungsverbote

Klaus F. Röhl, Vorlagepflichten als Auslegungsverbote, in: Ulrich Karpen u. a. (Hg.), Rechtsforschung, Rechtspolitik und Unternehmertum, Gedächtsnisschrift für Prof. Edgar Michael Wenz, Berlin, Duncker & Humblot, 1999, S. 445-456.

Roehl - Vorlagepflichten als Auslegungsverbote