Texte: Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892; Ernst Rudolf Bierling, Juristische Prinzipienlehre Bd. 1, 1894, Bd, V 1917; Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 1911; ders., Was ist die Allgemeine Rechtslehre?, FS Giacometti 1963, hier zitiert aus Hans R. Klecatsky u. a. (Hg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd. 1 1968, 611-629; Adolf Merkel, Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur »positiven« Rechtswissenschaft und zum allgemeinen Teil derselben, Zf das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, 1, 1874, 1-10 u. 402-481, zitiert nach dem Abdruck in: Merkel, Hinterlassene Fragmente und Gesammelte Abhandlungen, Teil 2, Hälfte 1: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts, 1899 [Reprint 2019], S. 290-323; Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1917; Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 2 Aufl. 1923 [1. Aufl. 1911].
Literatur: Andreas Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004; Jannis Lennartz, Dogmatik als Methode, 2020; Julius Ofner, Der Grundgedanke des Weltrechts, Wien 1889; Peter Sandrini, Der transkulturelle Vergleich von Rechtsbegriffen, in Susan Šarčević, Legal Language in Action, 2009, 151–165; Adolf F. Schnitzer, Vergleichende Rechtslehre, 2 Aufl. 1961 (krit. Rezension von Konrad Zweigert zur 1. Auflage, Zf ausländisches und internationales Privatrecht, 15, 1949/50, 354-358); Stefan Vogenauer, Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung um 1900, RabelsZ 76, 2012, 1122-1154.
I. Grundbegriffe als Rechtsformbegriffe
Die Allgemeine Rechtslehre, wie sie sich seit Adolf Merkels grundlegendem Aufsatz von 1874 über die nächsten fünf Jahrzehnte entwickelte, suchte nach festen Grundbegriffen, die zwar induktiv aus dem positiven Recht gewonnen werden, dann aber unabhängig von den unbeständigen Gesetzen die Basis für den wissenschaftlichen Umgang mit altem und neuem, eigenem und fremdem Recht bilden sollten. So wollte Merkel (S. 299f) Begriffe, die
»eine allgemeine juridische Bedeutung haben; in welchen sozusagen Elemente der Rechtsnormen überhaupt gegeben sind, wie der Begriff der Rechtsverletzung, der Begriff der rechtlich verantwortlich machenden Handlung u. s. w., an der Hand der gesamten Materialien der Jurisprudenz … entwickeln. Ebenso werden wir uns auf diesem höheren Standpunkte veranlaßt sehen, von dem Begriff der Strafe, … zu dem für alle Rechtsteile bedeutsamen Begriff der ›Rechtsfolgen des Unrechts‹ aufzusteigen.«.
In diesem Sinne sprachen bald darauf Bergbohm und Bierling, Somló und Stammler und schließlich auch Kelsen von den Grundbegriffen des Rechts. Bergbohm beklagte zwar (S. 36) das Fehlen einer juristischen Terminologie und konstatierte,
man »streitet ohne Ende um die Grundbegriffe der Jurisprudenz und verfällt doch nur selten darauf, die Vorfragen: aus welchen Einzelerscheinungen und in welcher Richtung diese Begriffe denn zu abstrahieren seien, gründlichst klarzustellen«,
sah aber doch (S. 155)
»in einem eisernen Inventar der Jurisprudenz an unverlierbaren Begriffen … die verbindende Kraft, die ihre Reihe trotz aller Verwirrungen der Sprache und Verirrungen der Gedanken zusammenhält«.
Bierling fand in den Grundbegriffen
»eine feste Grundlage für eine wahrhaft wissenschaftliche Behandlung des Rechts« (Bd. V S. 258).
Für Somló bildeten die juristischen Grundbegriffe »eine der Voraussetzungen jeder möglichen Rechtswissenschaft« (S. 21). Stammler reflektierte ausführlich über die »Möglichkeit der Grundbegriffe des Rechts« (S. 110ff), hatte keinen Zweifel, dass diese »allein geeignet sind, die Jurisprudenz als Wissenschaft begreiflich zu machen«, und nahm für sich in Anspruch, sie in »restloser Vollständigkeit« feststellen zu können (S. 113). Der frühe Kelsen schließlich schrieb in der Einleitung seiner »Hauptprobleme« (S. XI):
»Jedenfalls halte ich an dem Postulate einer einzigen allgemeinen Rechtslehre und einheitlicher juristischer Grundbegriffe fest, die allen Rechtsgebieten geneinsam sind und für alle Gebiete nach denselben methodologischen Prinzipien zu konstruieren sind … . Denn nur in stetem Kontakte mit dem ganzen Komplex juristischer Konstruktion läßt sich jenes logisch geschlossene System einheitlicher, dem methodologischen Gesamtcharakter der Disziplin entsprechender Grundbegriffe von allgemeiner Gültigkeit gewinnen, das die notwendige Legitimation für eine Wissenschaft der Jurisprudenz bietet.«
Die Liste der juristischen Grundbegriffe ist lang und variiert. An erster Stelle steht stets der Rechtsbegriff. Es folgen Rechtsquellen und Rechtsgeltung, Rechtssubjekte und Rechtsobjekte, subjektive Rechte und Rechtsverhältnisse, Verhalten oder Handlung, Tun und Unterlassen, Vertrag und Delikt, Rechtswidrigkeit und Schuld, Zurechnung und Kausalität, Freiheit und Eigentum, öffentlich und privat und andere mehr, darunter nicht zuletzt der Staat und seine Souveränität.
Die Grundbegriffe, welche die Struktur des Rechts ausmachen sollen, werden als universal gedacht. Ihre Universalität endet aber schnell, wenn sie bei der Lösung konkreter Rechtsfragen helfen sollen. Dann fühlen sich die einschlägigen Sach- und Fachgebiete berufen, sie für ihren eigenen Bedarf auszuformen. Man denke nur an die unterschiedlichen Kausalitätstheorien in Strafrecht, Zivilrecht, Sozialrecht und Polizeirecht. Das ist kein Wunder, denn die Grundbegriffe sind Abstraktionen aus konkreten Rechtsfiguren. Es führt kein Weg vom Allgemeinen zum Besonderen, sondern nur umgekehrt vom Besonderen zum Allgemeinen. Man kann wohl von konkreten zu allgemeinen Begriffen »aufsteigen«, wie es Merkel formulierte, jedoch nicht umgekehrt aus den allgemeinen die konkreten ableiten, ohne in die verpönte Begriffsjurisprudenz zu verfallen. Die Klassiker der Allgemeinen Rechtslehre wählten deshalb einen anderen Weg.
Bierling sagte von den Grundbegriffen gleich auf der ersten Seite seiner Juristischen Prinzipienlehre, sie seien »rein formaler Natur«. Somlós »Grundlehren der Rechtswissenschaft« wollten das Recht allein als Form ohne Rücksicht auf irgendwelche Inhalte betrachten. Somló unterschied deshalb zwischen Rechtsform- und Rechtsinhaltsbegriffen. Rechtsformbegriffe nannte er solche, die für jede denkbare Rechtsordnung ohne Rücksicht auf ihren konkreten Inhalt Bedeutung haben sollten, während Rechtsinhaltsbegriffe ihre Bedeutung aus Bestimmungen eines positiven Rechts gewinnen. Die Reduzierung der Begriffe auf eine bloße Form war für Bierling und Somló Voraussetzung, damit sie als unveränderliche Eigenschaften dienen können, die für jedes Recht konstitutiv sind. Ähnlich schrieb Kelsen (1968, S. 627):
»Als allgemeine Rechtslehre aber unterscheidet die Reine Rechtslehre an den Phänomenen des positiven Rechts Form und Inhalt, scheidet sie die Rechtsformbegriffe, die sich schlechthin an jeder Rechtsordnung bewähren, von den Rechtsinhaltsbegriffen, die durch eine vergleichende Betrachtung der historischen Rechtsordnungen gewonnen werden und eine Typisierung der Rechtsinhalte darstellen.«
Kelsen wollte durch eine
»logische Analyse [der Rechtsformbegriffe] die Voraussetzungen fest[stellen], unter denen Aussagen über Rechtspflichten, Berechtigungen, Rechtshaftung, Rechtssubjekte … Rechtsorgane, Rechtskompetenzen und dgl. überhaupt möglich sind« (S. 612).
Bierling, Somló und Kelsen suchten also nach Gemeinsamkeiten für alle Rechte auf der Ebene der Rechtsformbegriffe. Aus den Gemeinsamkeiten soll sich die Struktur ergeben. Aber die Begriffe fügen sich nicht von selbst zu einer Struktur, und die »logische Analyse« (Kelsen) hilft nicht weiter. Eine Struktur entsteht erst in Verbindung mit einer ordnenden Theorie. Eine solche Theorie bietet die Reine Rechtslehre Kelsens in ihrer Kombination mit der Stufenbaulehre Adolf Merkls (o. § xxx).Wählt man als Elemente der Struktur Rechtsformbegriffe, so bleibt auch die Struktur auf dieser Ebene. Eine Struktur aus Rechtsformbegriffen wird zur Form der Form. So bleibt auch Kelsens Reine Rechtslehre als Strukturtheorie formal. Kelsen baut diese Theorie letztlich auf der Grundnorm und damit auf einem Axiom. Weitere zentrale Elemente sind die Rechtsnorm, der Stufenbau und die Zurechnung als hypothetisches Urteil. Im Ergebnis wird daraus eine Metatheorie der Rechtsgeltung, Metatheorie insofern, als die Grundnorm erst mit einer konkreten Verfassung ausgefüllt werden muss. Auch wenn die Reine Rechtslehre als Geltungstheorie ihrerseits formal bleibt, ist sie doch nicht mehr universal, sondern konkurriert mit anderen Theorien.
Wir haben uns in Anlehnung an Kelsen für einen etatistischen, gerichtszentrierten Rechtsbegriff entschieden und mit der Stufenbautheorie ein hierarchisches Rechtsmodell gewählt. Die Grundbegriffe, die mit dieser Theorie zur Struktur des Rechtssystems zusammengefügt werden, werden damit zu Strukturbegriffen. Die wichtigsten in diesem Modell sind Recht, Staat und Verfassung, Rechtsgeltung und Rechtsquellen, Gerichte und Kompetenzen. Allerdings verlangen diese und andere als Rechtsformbegriffe nach inhaltlicher Ausfüllung. Wir erkennen eine Verfassung ziemlich unabhängig von ihrem konkreten Inhalt eben als Verfassung. Insofern haben wir ein »Konzept« von Verfassungen. Damit eine Verfassung Inhalt gewinnt, brauchen wir darüber hinaus eine »Konzeption« der Verfassung, z. B. als freiheitlich demokratische Grundordnung.
II. Grundbegriffe als offene Konzepte
Grundbegriffe, ganz gleich ob als Form- oder Inhaltsbegriffe, zeichnen sich durch die aus ihrer Abstraktionshöhe folgende Vieldeutigkeit aus. Das macht sie nicht wertlos, im Gegenteil. Die meisten haben sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte gehalten, und wir können nicht auf sie verzichten, auch wenn sie sich weder in ihrem sachlichen Gehalt klar definieren lassen noch sich als stabil erweisen. Gerade in ihrer Allgemeinheit und Unbestimmtheit dienen sie als Wegweiser und als Anknüpfungspunkte für große und kleinere Debatten. Linguisten könnten sagen, sie öffnen semantische Felder. Was man als juristisches Denken bezeichnet, führt über solche Begriffe. Sie verhelfen ausgebildeten Juristen zu einer generalistischen Kompetenz. Sie ragen aber auch in das Rechtbewusstsein des Publikums hinein.
Im Alltag hantieren wir mit Begriffen wie Politik und Demokratie, Technik und Kunst, Natur und Kultur. Über die Grenzen lässt sich unendlich debattieren. Trotzdem bleiben diese Begriffe für eine Orientierung unentbehrlich. Ähnlich liegt es mit den Grundbegriffen des Rechts und damit der Allgemeinen Rechtslehre. Viele juristische Begriffe sind alt. Sie haben verschiedene Rechtszustände überdauert. Sie erscheinen uns heute als solche selbstverständlich, wiewohl ihre Tiefe oft übersehen wird. Die Juristengenerationen vor uns haben diese Begriffe so intensiv behandelt und durchdacht, dass wir gar nicht mehr bemerken, wie mühsam sie einmal erarbeitet worden sind. Wir verwenden sie immer wieder jedenfalls vorläufig, ohne damit eine spezifische Theorie zu verbinden. Diese Selbstverständlichkeit wird gerade durch die Offenheit der Begriffe ermöglicht. Sie können weder abschließend definiert noch entbehrt werden.
Wie lässt sich mit so unpräzisen Allgemeinbegriffen arbeiten, wie können sie ein wesentliches Element juristischen Denkens liefern? Von vagen Begriffen war bereits in § 4 die Rede. Als Typenbegriffe stehen sie im Gegensatz zu Klassenbegriffen. An dieser Stelle soll ihre Besonderheit noch einmal durch einen Hinweis auf das Phänomen der Mustererkennung verdeutlicht werden, das auch bei unperfekten Mustern funktioniert. Grundbegriffe haben Konzeptqualität im psychologischen Sinne, das heißt, sie benennen Muster, die der Jurist in der eigenen und auch in vielen anderen Rechtsordnungen wiedererkennt, ohne dass damit ihr Inhalt genau festgelegt wäre. Ähnlich funktioniert künstliche Intelligenz ohne klare Definitionen allein durch Lernen anhand von Beispielen. Neuronale Netzwerke werden mit Hunderten oder Tausenden von Beispielen gefüttert und können am Ende einigermaßen zuverlässig unperfekte Muster identifizieren. So geschieht es auch, wenn uns die Grundbegriffe in verschiedenen Rechtsordnungen und in den Teilgebieten des Rechts immer wieder begegnen. Diese Begriffe erfüllen eine Orientierungsfunktion, die keine verbindliche Definition im Sinne einer Terminologie erfordert. Hilfreich ist dabei, dass die Grundbegriffe regelmäßig mit Gegenbegriffen kontrastiert werden: Recht und Moral, Tun und Unterlassen, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Strafe und Schadensersatz. Wir sprechen daher von den Grundbegriffen als offenen Konzepten. Ihre Bedeutung wechselt, wenn sie in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet werden. Dennoch sind sie nicht überflüssig, sondern im Gegenteil gerade in ihrer Vagheit produktiv.
Seit 1962 erscheint bei Duncker & Humblot die Zeitschrift »Der Staat«, die sich zu einer bedeutenden Plattform des Staats- und Verfassungsrechts entwickelt hat. Als Beiheft 21 erschien 2013 ein Sammelband, hg. von Andreas Voßkuhle u. a., mit dem Titel »Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates im Spannungsfeld der Disziplinen«. Darin fragt Oliver Lepsius, ob ein zugleich assoziativ-komplexer und unscharfer Begriff wie »Staat« überhaupt zu einem substanziellen Erkenntnisgewinn beizutragen vermag. Das hindert 33 prominente Autoren nicht, sich auf 388 Seiten über den Staat auszubreiten.
Unter diesem Aspekt wird u. in Kap. 13 eine Auswahl von »Grundbegriffen« angesprochen, um zu zeigen, wie solche Begriffe den Diskursrahmen für unterschiedliche Themenfelder bilden.