I. Realakte, Rechtsakte und Rechtsgeschäfte
II. Einwilligung und Einverständnis
III. Beschlüsse
IV. Wirksamkeitsvermutung für Rechtsakte (Favor Decisionis)
Literatur: Stefan Grundmann, Favor Testamenti: Zu Formfreiheit und Formzwang bei privatschriftlichen Testamenten AcP 187, 1987, 429-476; Kyriakos N. Kotsoglou, Das Fehlurteil gibt es nicht. Zur Aufgabe des Tatrichters, JZ 2017, 123-132; Adolf Merkl, Justizirrtum und Rechtswahrheit, ZStW 1925, 452-465; Nina Schrott, Fehlleistungen im Recht?! — Zugleich eine Erwiderung auf Kotsoglou, JZ 2017, 123 sowie eine(teilweise) Reaktivierung der Merklschen Lehre vom Fehlerkalkül, in: Kristina Peters/Nina Schrott, Eine Theorie von der Wissenschaft des Rechts, 2023, 157–187.
Man redet vom favor legis, vom favor conventions, vom favor contractus oder vom favor testamenti. Dahinter steht ein allgemeines Rechtsprinzip, dass als favor decisionis, presumption of validity oder Wirksamkeitsvermutung für Rechtsakte einen Namen erhält. Gemeint ist der Grundsatz, dass ein förmlich einwandfreier Rechtsakt zu respektieren ist, weil er eine Vermutung der Wirksamkeit mit sich führt und nur aus einem spezifischen Grunde aufgehoben oder als unbeachtlich behandelt werden darf.
Das materielle Privatrecht kennt durchschlagende Nichtigkeitsgründe wie Minderjährigkeit, fehlende Vertretungsmacht, den Verstoß gegen gesetzlich vorgeschriebene Formen sowie die Gesetzes- und die Sittenwidrigkeit nach §§ 134, 138 BGB. Weitere Nichtigkeitsgründe müssen durch Anfechtung geltend gemacht werden (Irrtumsanfechtung, Testamentsanfechtung). Manche Nichtigkeitsgründe können nur mit Gerichtshilfe geltend gemacht werden, so bei der Ehe, bei Organbeschlüssen juristischer Personen oder bei zu Unrecht angemeldeten Patenten. Keine Wirksamkeitsvermutung gibt es für Rechtsakte, die ihrerseits die Wirksamkeit eines Rechtsakts gegenüber anderen zerstören sollen wie Anfechtung, Kündigung oder Widerruf. Besonderheiten gelten im Mietrecht und im Arbeitsrecht. Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses muss grundsätzlich innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG mit einer Klage angefochten werden. Danach gilt die Wirksamkeitsvermutung des § 7 KSchG. Die Kündigung eines Wohnungsmietvertrages muss notfalls durch eine Räumungsklage durchgesetzt werden.
Eine Steigerung der Wirksamkeitsvermutung bildet die Bestandskraft von Verwaltungsakten (§ 42 II VwVfG), eine weitere Steigerung die Rechtskraft von Gerichtsurteilen. Die Bestandskraft hat zur Folge, dass die Unwirksamkeit des Rechtsakts in einem besonderen Verfahren festgestellt oder gar erst gestaltend hergestellt werden muss. Bestandskraft und Rechtskraft verhindern, dass Rechtsfehler direkt durchschlagen. Umstritten ist, ob das auch für verfassungswidrige Gesetze gilt. Hier steht der Ipso-jure-Grundsatz gegen die Vernichtbarkeitstheorie (o. § 79 II).
Für das englische Verwaltungsrecht verteidigen Mark Elliott und Philip Murray die Ansicht, dass rechtswidrige Verwaltungsakte von vornherein unwirksam seien und nicht erst angefochten werden müssten (In Defence of Classical Administrative Law, University of Cambridge Faculty of Law Research Paper No. 17/2025, SSRN 5471089).
Rechtskraft, wie sie nach der Erschöpfung des Rechtswegs eintritt, bedeutet die endgültige Wirksamkeit. Bis dahin sind Fehlurteile, ganz gleich, ob der Fehler die Tatfrage oder die Rechtsfrage betrifft, mindestens vorläufig wirksam. Wirksam sind Urteile auch dann noch, wenn Gründe für eine Nichtigkeitsklage nach §§ 578, 579 ZPO vorliegen. Adolf (Julius) Merkl hat dazu vor 100 Jahren sein berühmtes Fehlerkalkül entwickelt:
»Als Fehlerkalkül bezeichne ich eine solche positivrechtliche Anordnung, die es juristisch ermöglicht, dem Staate Akte zuzurechnen, die nicht die Summe der positivrechtlich aufgestellten Voraussetzungen ihrer Entstehung und damit ihrer Geltung erfüllen, die es erlaubt, solche Akte, trotz jenes Mangels als Recht zu erkennen.« (ZStW 1925, 452-465, S. 458)
Die positivrechtliche Antwort fand Merkl in Vorschriften, die eine Fehlerkorrektur vorsehen, also in erster Linie in den Rechtsmitteln der Prozessordnungen. Auch wenn dieses Fehlerkalkül greift, wird dennoch immer wieder die Frage gestellt, ob überhaupt und ggfs. unter welchen Umständen eine Entscheidung von vornherein als nichtig behandelt werden kann und muss. Die Frage kann nicht schlechthin verneint werden, denn es gibt – jedenfalls auf dem Papier – krasse Beispiele, etwa ein Betriebsrat, der durch ein »Urteil« eine Kündigung für unwirksam erklärt, oder ein Schwurgericht, das den Angeklagten zum Tode verurteilt. Bei Schrott (S. 158) lautet die Frage, »was geschieht, wenn Grundprinzipen juristischer Methodik missachtet, tragende dogmatische Prämissen negiert, materielle Wahrheiten nicht gefunden werden«. Mit einiger Sicherheit lautet die Antwort, dass das »Fehlerkalkül« nur dann versagt, wenn es sich um »äußerliche« Fehler handelt, also wenn die Entscheidung von einem schlechthin unzuständigen Gremium getroffen, durch handfeste Drohung erzwungen oder durch Bestechung verfälscht wurde.