I. Das Hitler-Problem
II. Transitional Justice
III. Das Provenienz-Problem
IV. Der normative Rückschaufehler
Literatur: Egon Flaig, Wie hält es die Historie mit der historischen Wahrheit?, FAZ vom 14. 11. 2022, S. 13; Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, 1973; Christoph Henning, Freiheit, Gleichheit, Entfaltung. Die politische Philosophie des Perfektionismus, 2015; Matthias Leanza/Axel T. Paul, Wie der Kolonialismus sich (nicht) denken lässt, Soziologie 51, 2022, 379-396; Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus. Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft, 2020 (Kap. II: Ethnologie und Methode); Quentin Skinner, Meaning and Understanding, History and Theory 8, 1969, 3-53.
Etwa seit der Jahrtausendwende hat Rassismus als gesellschaftliche Problemlage die Diskriminierung abgelöst. Umfangreiche Aktivitäten zur Rassismusforschung nehmen auf der Suche nach rassistischen Tiefenstrukturen rückwärts gewandt historische Persönlichkeiten und klassische Autoren in den Blick. So wird breit diskutiert, ob Kant ein Rassist war, vor dem man warnen muss. Keine Frage, dass man im Werk Kants Stellen findet, die, würden sie heute veröffentlicht, als rassistisch einzuordnen wären. Aber als normatives Urteil über das Werk oder gar die Person Kants wäre diese Einordnung eine anmaßende Idiosynkrasie.
Soziologen, die sich auf vormoderne Gesellschaften beziehen, haben mit Historikern und Ethnologen ein Problem gemeinsam. Sie stehen vor der Frage, mit welchen Methoden sie beobachten und mit welchen Wertungen sie ihre Beobachtungen interpretieren sollen. Wenn sie ihre aktuellen Methoden und Wertungen verwenden, so laufen sie Gefahr, einen Rückschaufehler zu machen. Als Rückschaufehler ist die Verzerrung geläufig, die bei der retrospektiven Beurteilung komplexer Kausalverläufe einritt (o. 28 III 2). Solche Urteile sind typisch dahin verzerrt, dass der tatsächliche Verlauf bekannt ist und diese Kenntnis in die Vergangenheit projiziert wird. Analoge Verzerrungen entstehen, wenn jüngere Sichtweisen auf ältere Gesellschaftszustände treffen. Dann können methodische und normative Rückschaufehler unterlaufen. Wertvorstellungen wandeln sich über die Zeit. Heute ist die Ablehnung von Sklaverei, Folter und Körperstrafen eindeutig. Das war nicht immer so. Heute besteht auch über die Verurteilung von Rassismus, Kolonialismus und Sexismus Konsens. Der Konsens war schwerer zu erlangen, unter anderem, weil die inkriminierten Phänomene tatbestandsmäßig nicht so leicht greifbar sind wie die zuerst genannten.
Was hier Rückschaufehler genannt wird, hat Quentin Skinner als mythology of doctrines kritisiert, als eine Methode, die Lehren der Gegenwart in die Geschichte zurückprojiziert und damit Anachronismen erzeugt. Diese Methode arbeite mit der Forderung, dass der Text selbst das für sich ausreichende Objekt der Untersuchung und des Verstehens bilde. Wer so vorgehe, setze voraus, dass man den interpretierten Texten zeitlose Wahrheiten entnehmen könne (S. 4). Wenn man Texte jedoch aus ihrem Kontext heraus zu verstehen versuche, verzichte man darauf, in ihnen universelle Konzepte zu vermuten. Andernfalls finde man eigentlich nur, was man schon suche. So komme es zur mythology of doctrines, der Vorannahme, dass die Klassiker-Texte Antworten auf mitgebrachte Fragen bereithielten. Dann würden aus verstreuten und zufälligen Fundstücken Theorien zusammengebastelt, dem Autor würden anachronistische Sichtweisen unterstellt oder in seine Texte würden Theorien hineininterpretiert, die vielleicht dazu passten, die der Autor aber selbst nie habe ausdrücken wollen. Häufig geschehe es, dass der Interpret sich den Idealtyp einer Idee (Freiheit, Gewaltenteilung, Gesellschaftsvertrag usw.) zurechtlege und nach Spuren der Bestätigung suche. Dabei gewinne dieser Idealtyp dann ein Eigenleben, das er historisch nie gehabt habe. Skinner besteht dagegen auf Historisierung und Kontextualisierung. Was Skinner und die ihm folgernde Cambridge-Schule für die intellectual history forderten, sollte auch für die Sozialgeschichte gelten, damit es nicht zu Rückschaufehlern kommt, die historische Auffassungen über die Ausgewogenheit sozialer Beziehungen durch moderne ersetzen.
Den normativen Rückschaufehler vermeidet wohl am ehesten der so genannte Historismus, wenn man darunter eine Betrachtungsweise versteht, die die jeweilige historische Situation um ihrer selbst willen betrachtet. Diese Vorstellung hat Leopold von Ranke klassisch formuliert:
»Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst … .« (Uber die Epochen der neueren Geschichte, Nachdruck 1954, 7)
Solcher Historismus verzichtet auf einen übergreifenden Wertmaßstab für gestern und heute und erweist sich damit als ein relativer Relativismus, relativ insofern, als nur die Nähe zur Gegenwart ein übergreifendes historisches Urteil erlaubt oder gar fordert. So ist es keine Frage, dass das Geschehen der Nazizeit historisches Unrecht war, weil die dafür maßgeblichen Wertungen nicht erst ex post entstanden sind.
Eine Entsprechung zum Historismus findet sich in dem methodischen Grundsatz der Ethnologie, der besagt, dass der Ethnologe seine Beobachtungen innerhalb des kulturellen Codes der beobachteten Gesellschaft zu interpretieren habe. Der Ethnologe Richard Thurnwald hat das Problem so formuliert:
»Institutionen, die uns heute unsympathisch oder fremdartig erscheinen, haben ihre Wurzel nicht in der ›Niederträchtigkeit ihrer Urheber‹, sondern darin, daß sie zur Zeit ihrer Entstehung den Ausdruck eines ›gerechten‹ Ausgleichs von Leistung und Gegenleistung auf Grund der sozialen Wertungen einer Zeit und Kultur darstellten.« (Gegenseitigkeit im Aufbau und Funktionieren der Gesellungen und deren Funktionen, Bd. 2, 1957 [1936], S. 92f.
Zuletzt hat die Problematik des Rückschaufehlers (ohne dass dieser Begriff gefallen wäre) eine Rolle in der Diskussion über den so genannten Postkolonialismus geführt. Die Grundthese des Postkolonialismus besagt, dass, was sich seit der Zeit der Aufklärung als moderne Wissenschaft versteht, durch die Perspektive europäisch westlichen Kolonialismus unheilbar verzerrt ist. Diese These wird als ihrerseits als perspektivisch kritisiert, weil sie große Teile der Weltgeschichte ausblendet. Die Kritik wurde (fur uns) überzeugend durch den Historiker Egon Flaig und von den Soziologen Matthias Leanza und Axel T. Paul formuliert.
Der Kolonialismus liegt vielleicht noch nicht lange genug zurück. Daher lohnt es sich, an die Rezeption der Philosophie des Aristoteles zu denken. Bei dem historischen Aristoteles finden sich fraglos »zeitverhaftete und problematische« Vorstellungen, »etwa in der Ableitung eines Sklavenstatus aus der Natur oder in der Exklusion von Frauen, Handwerkern und Fremden aus der Bürgerschaft«. Dennoch hat er nicht nur über mehr als zwei Jahrtausende Philosophie und Theologie geprägt, sondern er ist bis heute unentbehrlicher Anreger und Gesprächspartner (Henning S. 22ff).