Literatur: John Gardner, Legal Positivism: 51/2 Myths, The American Journal of Jurisprudence 46, 2001, 199-227; Kenneth Einar Himma, Inclusive Legal Positivism, Oxford Handbook of Jurisprudence and Legal Philosophy, 2002 = SSRN 928098; Hans Kelsen, Was ist juristischer Positivismus?, JZ 1965, 465-469; Niklas Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, JbRSoz 1, 1970, 175-202; Walter Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus, 2016; Fabian von Rabenau, Das Naturrecht der Gegenwart und die Unverfügbarkeit des Rechts, 2022.
I. Positives Recht
Der Ausdruck leitet sich vom lateinischen legem ponere her, was soviel bedeutet wie Gesetze erlassen. Als positiv bezeichnet man aber nicht nur die lex scripta, also das Gesetz im technischen Sinne. Positiv ist alles Recht, das empirisch vorhanden ist in dem Sinne, dass seine Geltung von bestimmten Menschen behauptet wird oder dass Menschen danach handeln. Positives Recht sind daher nicht nur Gesetze, Verordnungen und Satzungen, sondern auch Richterrecht und Gewohnheitsrecht.
In der englisch-amerikanischen Rechtsphilosophie spricht man von der Social Fact Thesis, die besagt, Recht sei ein soziales Artefakt oder Konstrukt (Himma). Dazu Mathieu Carpentier, Against »Legal Facts«, SSRN 2024, 4790880; Mark Greenberg, How Facts Make Law, Legal Theory 2004, 157-198 = SSRN 797125; ders., Hartian Positivism and Normative Facts: How Facts Make Law II, in: Scott Hershovitz (Hg.), Exploring Law’s Empire, 2012, 265–290 = SSRN 887418.
Dagegen benutzt Luhmann für die Rechtssoziologie einen engeren Begriff des positiven Rechts, der darauf abstellt, dass Gesetzgeber oder Richter eine bewusste Entscheidung getroffen haben: »Als positiv wird Recht bezeichnet, das gesetzt worden ist und kraft Entscheidung gilt« (1970, 182). Er will damit die »historisch neue und riskante« Möglichkeit von Rechtsänderungen durch Gesetzgeber und Gerichte herausstellen. Tatsächlich ist das moderne Recht dadurch gekennzeichnet, dass es nicht mehr als aus Sitten und Gebräuchen erwachsen verstanden wird, so dass es von Juristen und Gerichten bloß beschrieben zu werden bräuchte, sondern von Parlamenten und sonst zur Rechtssetzung berufenen Stellen durch bewusste Auswahl aus mehreren Entscheidungsmöglichkeiten geschaffen wird.
II. Naturrecht
III. Rechtspositivismus
IV. Die Trennungsthese
Literatur: H. L. A. Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals, Harvard Law Review 71, 1958, 593-629, deutsch unter dem Titel »Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral« in: Hart, Recht und Moral, Drei Aufsätze, 1971, 14ff; Ingeborg Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, RTh 20, 1989, 191-210; Joseph Raz, The Authority of Law, 1979.
Heute bezieht man sich zur Begründung der rechtstheoretischen Position, die auf einer begrifflichen Trennung von Recht und Moral besteht, vor allem auf den englischen Rechtsphilosophen H. L. A. Hart (1907–1982). Hart stellt darauf ab, dass es sich letztlich um eine Definitionsfrage handelt, ob man die Rechtseigenschaft einer Norm von deren moralischer Qualität abhängig macht. Die Besinnung auf moralische Qualitäten könne jedoch besser lebendig erhalten werden, wenn man zu denken gewohnt sei, dass es auch unmoralisches Recht geben könne.
Die Trennungsthese des Rechtspositivismus wird manchmal nur als Leugnung vorpositiven Naturrechts verstanden. Dann wäre sie eigentlich überflüssig, denn wenn es Naturrecht im Sinne eines erkenntnismäßig festzustellenden Regelbestandes gäbe, so wäre solches Naturrecht ohne weiteres auch moralisch. Umgekehrt müsste gelten: Wenn es eine als Wahrheit erkennbare Moral gäbe, so würden deren rechtsrelevante Regeln ohne weiteres auch als (Natur-)Recht gelten. Eigenständige Bedeutung erhält die Trennungsthese erst dadurch, dass der Positivismus die Trennung des Rechts auch von einer bloß relativistischen oder pluralistischen Moral verlangt. Die Rechtsqualität von Normen soll in keiner Weise von dem moralischen Status dieser Normen abhängen, wie auch immer der moralische Status begründet wird. Rechtspositivismus leugnet deshalb aber nicht die Möglichkeit und den Sinn moralischer Reflexion.
Hans Kelsen hat formuliert, was die Trennungsthese in letzter Konsequenz bedeutet (RR S. 42):
»Nach dem Recht totalitärer Staaten ist die Regierung ermächtigt, Personen unerwünschter Gesinnung, Religion oder Rasse in Konzentrationslager zu sperren und zu beliebigen Arbeiten zu zwingen, ja zu töten. Solche Maßnahmen mag man moralisch aufs schärfste verurteilen; aber man kann sie nicht als außerhalb der Rechtsordnung dieses Staates stehend ansehen.«
Die Trennungsthese klingt härter als sie wirkt, weil das positive Recht seinerseits an verschiedenen Stellen auf außerrechtliche Moral verweist, vor allem aber, weil die Trennung sich nur für die Frage nach der Geltung des (vorhandenen) Rechts strikt durchhalten lässt. Wenn und soweit man nach Aufgabe des Lückenlosigkeitsdogmas (o. § 8 II) akzeptiert, dass bei der Anwendung geltenden Rechts Spielräume bleiben, die auch durch die Methodenlehre nicht positivistisch geschlossen werden können, finden auch ohne Gestattung außerrechtliche Moral, Normzumutungen und Rechtsbehauptungen in den Entscheidungen Raum.
Die Trennungsthese besagt, dass es kein notwendiges moralisches Kriterium für die Geltung des Rechts gibt. Sie lässt aber offen, ob ein solches Kriterium möglich ist. Für ein positives Rechtssystem, in das moralische Kriterien eingebaut sind, spricht man in der englisch-amerikanischen Rechtsphilosophie von soft positivism, inclusive positivism oder incorporationism. Josef Raz vertritt einen exklusiven Positivismus, indem er ähnlich wie Luhmann betont, über alles Recht werde letztlich entschieden und eben deshalb sei es positiv. Für einen inklusiven Positivismus steht H. L. A. Hart, der konzediert, dass die Anerkennungsregel moralische Prinzipien oder Werte einschließen könne. Für unser Rechtssystem nimmt das Grundgesetz die Stelle der Anerkennungsregel ein und inkludiert mit der Menschenwürde in Art. 1 GG letztlich ein moralisches Element (u. § 48).
Aus der Sicht der Allgemeinen Rechtslehre gibt es hinsichtlich der Trennungsthese kein richtig oder falsch. Diese These dient nur als Schablone oder Testinstrument, um zu verorten, wo und wie Recht und Moral dennoch zusammenhängen. Der Zusammenhang wird in der Rechtstheorie als Problem der Rechtsgeltung erörtert (u. § 51). Die Geltungstheorien konzentrieren sich jedoch auf Rechtfertigung einer Rechtsordnung als Ganzer. Die Frage, ob ein einzelnes »formell« geltendes Gesetz als geltend anzuwenden ist, wenn es seinem Inhalt nach als »unmoralisch« angesehen wird, findet eine Antwort teils unter dem Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit (u. § 45 VII), teils unter dem Extremfallaspekt von Unrechtsgesetzen und Unrechtsjustiz (u. § 46).
Die Unterscheidung und Entgegensetzung von positivem Recht auf der einen und Gerechtigkeit, Moral und Naturrecht auf der anderen Seite ist in der Rechtsphilosophie unendlich differenziert ausgearbeitet worden. Eine analytische Rechtstheorie nimmt am Ende Zuflucht zu unbegründbaren Axiomen. Wer sich dagegen von Vernunft Einsicht in das Gute und Richtige verspricht, steht im Detail immer wieder vor der Notwendigkeit »dezisionistischer« Entscheidungen. Letztlich geht es um das Rekursivitätsproblem aller Fundamentalphilosophie. Die Allgemeine Rechtslehre kann nur zeigen, an welchen Stellen die vollständige theoretische Begründung fehlt und durch ein Werturteil ersetzt wird.