Literatur: Wolfgang Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, 1992; Rudolf von Ihering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 1877; Philipp Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912; ders., Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932; Karl-Heinz Ladeur, Abwägung — ein neues Rechtsparadigma? Von der Einheit der Rechtsordnung zur Pluralität der Rechtsdiskurse, ARSP 69 , 1983, 463-483; Weyma Lübbe/Thomas Grosse-Wilde (Hg.), Abwägung, Voraussetzungen und Grenzen einer Metapher für rationales Entscheiden, 2022; Kai Möller, Abwägungsverbote im Verfassungsrecht, Der Staat, 2007, 109-128; Joachim Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder: Normenstrenge und Abwägung im Funktionswandel, JZ, 2011, 913-923; Lawrence B. Solum, LTL 024: Balancing Tests.
I. Das Grundmodell der Abwägung
Über die Abwägung wird am meisten im Zusammenhang mit der Verfassungsinterpretation geredet, nicht nur, weil sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen so prominenten Platz einnimmt, sondern auch, weil Alexy mit seiner Prinzipientheorie eine Schule gebildet hat, die umfangeich publiziert (und kaum weniger umfangreiche Kritik auf sich zieht). Darüber gerät ins Hintertreffen, dass Abwägung nicht nur bei der Auslegung der Verfassung praktiziert wird, sondern dass es sich um ein allgemeineres Phänomen handelt. Überall wird vor Entscheidungen »abgewogen«, im Privatleben und in der Wirtschaft, in der Politik und bei der Gesetzgebung, in der Verwaltung und bei den Gerichten. Stets geht es darum, zwischen Alternativen zu wählen, die nicht kommensurabel sind, das heißt, die nicht einfach gegeneinander aufgerechnet werden können. Deshalb muss letztlich eine Wertung getroffen werden. So war und ist der Begriff der Abwägung Ausgangspunkt für große Anstrengungen, um den »dezisionistischen Rest« (o. § 25 IX) zu minimieren. Beseitigen lässt er sich nicht. Nur der ungeliebte Begriff des Werturteils wird vermieden.
Das Grundmodell der Abwägung hat § 34 StGB für den rechtfertigenden Notstand vorgegeben. Drei Elemente sind dafür kennzeichnend:
- Die Rechtmäßigkeit einer Handlung nach § 34 StGB wird ex post beurteilt. Das Urteil antwortet auf eine (künstliche) Dichotomie. Die Handlung war entweder rechtmäßig oder rechtswidrig.
- Es stehen sich zwei Seiten gegenüber (der Handelnde/der Geschädigte).
- Die Entscheidung trifft das Gericht am Maßstab des Rechts durch eine Abwägung von Werten oder Rechtsgütern.
Das Modell des § 34 StGB trübt den Blick auf Abwägungsentscheidungen, bei denen sich die Grundelemente anders darstellen:
- Wenn über die Verhältnismäßigkeit im Polizeirecht oder bei einem Grundrechtseingriff zu urteilen ist, gerät aus dem Blick, dass der handelnden Instanz eine Mehrzahl von Optionen zu Gebote gestanden hätte.
- Die Abwägung mit der Assoziation einer Waage ist auf das Grundmodell eines zweiseitigen Konflikts zugeschnitten. Viele rechtlich relevante Konflikte zeichnen sich aber – nicht nur im öffentlichen Recht – durch eine Mehrzahl von beteiligten Interessen aus. Das gilt schon für polizeiliches Handeln, das bei einer Entscheidung nicht nur das zu erreichende Ziel der Maßnahme auf der einen und die Belastung des Adressaten auf der anderen Seite in das Kalkül einzubeziehen hat. Vielmehr kommt es auch auf die Frage an, ob durch die Maßnahme Drittinteressen betroffen sein können (§ 57 Abs. 2 PolG BW: »Der Schusswaffengebrauch ist unzulässig, wenn erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden.«). Das gilt erst recht für den Gesetzgeber, der eine Vielzahl von Interessen zu berücksichtigen hat. In der Gerichtssituation werden diese Drittinteressen typischerweise ausgeblendet. Musterbeispiel für eine solche Interessenpluralität ist hingegen 1 VI BauGB, der in 14 Ziffern Belange aufzählt, die bei der Abwägung im Bauplanungsrecht zu berücksichtigen sind.
- 34 StGB mündet in eine Streitentscheidung, bei der das Gericht am Maßstab des Rechts einen Streit über einen abgeschlossenen Sachverhalt entscheidet. Die Abwägung im Bauplanungsrecht stellt hingegen eine in die Zukunft gerichtete Gestaltungsentscheidung dar, die sich im Rahmen des Rechts halten, aber anhand anderer Maßstäbe entschieden werden muss. Das gleiche gilt für den Gesetzgeber, der im Rahmen der Verfassung eine politische Entscheidung über
Bei der Abwägung nach § 34 StGB werden in einem ersten Schritt die betroffenen Rechte und Interessen bestimmten Rechtsgütern zugeordnet. Zwischen den beteiligten Rechtsgütern besteht regelmäßig schon ein allgemeines Rangverhältnis. Diese Rangfolge ergibt sich aus der Reihenfolge der Aufzählung in § 34 StGB (»Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut«) und deutlicher noch aus unterschiedlichen Strafrahmen. Die normativ vorgegebene Rangordnung ist zwar längst nicht für alle Rechtsgüter so klar. Es können auch dritte Rechtsgüter mitspielen und die Reihenfolge verschieben. Insgesamt gibt das allgemeine Rangverhältnis der Rechtsgüter aber doch einen ersten Anhaltspunkt. Auf der zweiten Stufe wird die quantitativ unterschiedliche Beeinträchtigung der betroffenen Rechte und Interessen berücksichtigt. Das kann zur Folge haben, dass das ranghöhere Rechtsgut, das nur oberflächlich tangiert wird, im konkreten Fall hinter das massiv betroffene, an sich niedrigere Rechtsgut zurücktreten muss. Dem Leben als Rechtsgut kommt insofern eine Sonderrolle zu, als eine quantitative Abwägung zum Schutz der Menschenwürde für ausgeschlossen gehalten wird.
Es gibt viele Beispiele, in denen die Abwägung zu einem überzeugenden Ergebnis findet. Doch oft liegen die Dinge schwieriger als in den Notstandsfällen oder dort, wo die vergleichsweise Abgrenzung und Bewertung der Interessen durch den Gesetzgeber deutlich zu erkennen ist. Die betroffenen Rechtsgüter lassen sich nicht eindeutig reihen oder das Ausmaß ihrer Beeinträchtigung ist nicht zu vergleichen.
II. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
III. Erscheinungsformen der Abwägung
IV. Theorie der Abwägung
V. Das Trolley-Problem als moralisches Dilemma für künstliche Intelligenz
Literatur: Susanne Beck, Autonomes Fahren: Herausforderung für das bestehende Rechtssystem, Informatik aktuell, 20. 8. 2018, online; Weyma Lübbe, Veralltäglichung der Triage?, Ethik in der Medizin 13, 2001, 148–160; Tatjana Hörnle/Stefan Huster/Ralf Poscher (Hg.), Triage in der Pandemie, 2021; Fabian Pütz u. a., Reasonable, Adequate and Efficient Allocation of Liability Costs for Automated Vehicles, European Journal of Risk Regulation, 2018, 1-16; Volker H. Schmidt, Veralltäglichung der Triage, ZfSoziologie 25, 1996, 419-437.
BVerfG, B. vom 16. 12. 2021 – 1 BvR 1541/20 – (Triage); Bericht der Ethikommission, Automatisiertes und Vernetztes Fahren, 2017.
Jeder Student wird in der ersten Strafrechtsvorlesung mit dem Notstandsproblem konfrontiert, das heute international als Trolley-Problem geläufig ist: Ein Waggon rollt führerlos auf eine Weiche zu und wird mit einem entgegenkommenden Personenzug zusammenstoßen und viele Menschen töten, wenn nicht der Beobachter im Stellwerk die Weiche stellt. Dann wird der Waggon jedoch auf dem anderen Gleis einen Arbeiter überrollen. Der Handelnde hat also die Wahl, ob er durch sein Eingreifen einen Menschen tötet, um mehrere Menschen zu retten. Wie auch immer er sich entscheidet; er handelt falsch, denn das Menschenleben als Rechtsgut ist nicht abwägungsfähig. Entscheidet er sich, die Weiche zu stellen, so wird ihm ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand zugebilligt. Bleibt er untätig, so handelt er trotzdem im Sinne einer Unterlassung. Offen ist die Frage, ob er handeln muss, um das größere Unheil zu verhindern. Dazu müsste man ihm eine Garantenstellung zumuten. Die verträgt sich aber nicht mit dem Abwägungsverbot. Die Entscheidung bleibt schwierig. Eben deshalb handelt es sich um ein Dilemma.
Dieses Problem stellt sich heute – so jedenfalls scheint es – bei der Programmierung autonomer Fahrzeuge. Sollen bei einer drohenden Kollision eher die Insassen oder die Passagiere anderer Fahrzeuge oder Fußgänger gerettet werden, eher Frauen als Männer, eher Junge als Alte, eher Gesunde als Kranke, eher Menschen als Tiere? Juristisch gibt es eine klare Antwort nur für die Alternative Mensch oder Tier.
Es liegt nahe, in dieser Situation nach Volkes Meinung zu fragen. Das haben Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology getan (Edmond Awad u. a., The Moral Machine Experiment, Nature 563, 2018, 59-64). Sie haben ins Internet gestellt, was sie eine Moral Machine nennen. Dort konnten Internetnutzer aus aller Welt für 13 Szenarien ihre Präferenzen angeben. Es soll 40 Millionen Teilnehmer gegeben haben. Dabei zeigten sich weltweit drei Präferenzen: Menschen vor Tieren, Mehrzahl vor Einzahl und jung vor alt. Die Präferenzen unterschieden sich etwas nach der Herkunftsregion. So war im Fernen Osten die Präferenz für das Alter höher, während in Süd- und Mittelamerika Jugend, Frauen und Tiere höher geschätzt wurden. Wenn man die Moralmaschine ans Steuer lässt, fährt sie also einen Schlingerkurs.
Das Problem scheint eine gewisse Ähnlichkeit mit der Verteilungssituation zu haben, die als Triage bekannt ist. Der Begriff stammt aus der Militär- und Katastrophenmedizin. Wenn kurzfristig ein großer Andrang von Verwundeten oder Kranken entsteht, die mit den vorhandenen Mitteln nicht versorgt werden können, so erfolgt eine »Sichtung« und Einteilung in drei Gruppen (daher der Name). Die Schwerstverletzten mit geringen Überlebenschancen werden abgesondert und erhalten allenfalls noch Schmerzlinderung und Trost. Leichtverletzte, die auch später noch behandelt werden können, müssen warten. Die Behandlung konzentriert sich auf diejenigen, deren Versorgung besonders dringlich und zugleich erfolgversprechend ist.
Die Situation der Triage ist in der medizinischen Versorgung längst zum Alltagsproblem geworden. Für Dialyse, Organtransplantation oder Intensivmedizin ergeben sich ständig Knappheitssituationen, in denen die Behandlung mehr oder weniger verdeckt nach dem social worth der Betroffenen zugeteilt wird. Bei der Triage verfährt man utilitaristisch, das heißt, die juristischen Abwägungsverbote gelten hier nicht. Der soziale Wert der Betroffenen wird quantitativ beurteilt. Das heißt, einer muss vor mehreren zurückstehen; gesund geht vor krank und jung vor alt. Das BVerfG hat deshalb dem Gesetzgeber aufgegeben, dafür zu sorgen, dass Behinderte nicht wegen ihrer Behinderung zurückgestellt werden.
In der Corona-Krise ist hat Problem der Triage noch einen neuen Aspekt erhalten. Bisher ging es bei der Triage regelmäßig nur um eine Beurteilung ex ante. Nunmehr wurde die Frage aufgeworfen, ob die bereits begonnene Behandlung eines Patienten abgebrochen werden darf, wenn sie relativ zu einem neu zur Behandlung anstehenden Patienten als weniger erfolgreich erscheint. Es post stellt sich die Situation insofern anders dar, als die Trennung des Patienten von der lebensrettenden Beatmungsmaschine nicht bloß eine Unterlassung, sondern positives Tun darstellt, das zum Tode führt. Dafür gibt es aber keine Rechtfertigung.
Zu programmieren ist eine Abwägung unter Unsicherheit. Unsicher sind zunächst die empirischen Prämissen. Wer oder was kann mit welcher Wahrscheinlichkeit gerettet werden? Unsicher sind aber auch die normativen Prämissen. Juristen haben für die Abwägung Formeln entwickelt. Programmierer werden darüber wohl eher in Gelächter ausbrechen. Es spricht einiges für die Einschätzung der Ethikkommission des Bundes. In ihrem Bericht »Automatisiertes und Vernetztes Fahren« (2017) bezweifelt sie, dass die ethischen Dilemmata, um die es hier geht, überhaupt normierbar und programmierbar seien, und kommt zu dem Schluss (S. 11):
»Bei unausweichlichen Unfallsituationen ist jede Qualifizierung nach persönlichen Merkmalen (Alter, Geschlecht, körperliche oder geistige Konstitution) strikt untersagt. Eine Aufrechnung von Opfern ist untersagt. Eine allgemeine Programmierung auf eine Minderung der Zahl von Personenschäden kann vertretbar sein. Die an der Erzeugung von Mobilitätsrisiken Beteiligten dürfen Unbeteiligte nicht opfern.«
Weder Trolley-Problem noch Triage passen genau auf den fahrenden Automaten. Hier treffen nämlich Gefährder, Gefährdeter und zur Handlung Aufgerufener zusammen. Sieht man Fahrzeug und Insassen als Einheit, so wäre an einen Notstand zur Selbstrettung nach § 35 StGB zu denken. Dann kommt es darauf an, ob der Handelnde die Gefahr »selbst verursacht« hat. Nackte Kausalität genügt hier zum Ausschluss der Entschuldigung nicht, volles Verschulden, wie früher nach § 54 a.F., ist aber auch nicht erforderlich. Ziemlich sicher wird die Programmierung automatisierter Fahrzeuge darauf hinauslaufen, zuerst die Insassen des Fahrzeugs zu retten, weil das vermutlich die technisch einfachste Lösung ist und jedenfalls einen Hauch von Legitimation für sich hat.
Gibt es eine Alternative zur Abwägung bei offenen Tatbeständen? Rückert verweist auf den Fallvergleich. Das war die traditionelle Methode für die Konkretisierung von Generalklauseln wie § 242 BGB oder § 3 (früher § 1) UWG, des übergesetzlichen Notstands oder der Verkehrssicherungspflichten. Der Fallvergleich, der an gesetzlich geregelte oder judiziell entschiedene Fälle anknüpft, führt zur Suche nach Gründen für Abweichungen oder Fortschreibung. Das Beispiel des außergesetzlichen Notstands zeigt allerdings, dass es wohl doch, sozusagen als Initialzündung, in Ausnahmefällen einer freien Abwägung bedarf. Für den übergesetzlichen Notstand gab es, jedenfalls im positiven Recht, kein Vorbild, als das Reichsgericht 1927 die Abtreibung zur Rettung des mütterlichen Lebens für rechtmäßig erklärte.