Texte: Robert Alexy, Die Idee einer prozeduralen Theorie der juristischen Argumentation, RTh, Beih. 2, 1981, 177-188; ders., Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991; Karl-Otto Apel, Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaft, Neue Hefte für Philosophie 2/3, 1972, 1-40; ders., Hermeneutik und Ideologiekritik, 1971; Jürgen Habermas, Wahrheitstheorien, in: FS Walter Schulz, 1973, 211-265; ders., Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, KritJ 20, 1987, 1-16; ders., Faktizität und Geltung, 1992 (FuG); ders., Erläuterungen zur Diskursethik, 1992; ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996; ders., Richtigkeit vs. Wahrheit, DeutscheZfPhilosophie 46, 1998, 179-208; Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen, Logische Propädeutik, 1967.
Literatur: Johann Braun, Offener und eingehegter Diskurs. Zur Struktur des juristischen Denkens, 2022; Hauke Brunkhorst u. a. (Hg.), Habermas-Hb, 2009; Armin Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? Zur Kritik der Diskurstheorie des Rechts, 2002; Peter Gril, Alexys Version einer transzendentalpragmatischen Begründung der Diskursregeln im Unterschied zu Habermas, ARSP 83, 1997, 206-216; Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988; Tobias Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, 2007; Ulfrid Neumann, Juristische Argumentationstheorie, 2022 (§ 5 = S. 116-147: Juristische Argumentation im Modell des praktischen Diskurses); Walter Reese-Schäfer, Jürgen Habermas, 3. Aufl. 2001; Uwe Volkmann, Einführung in die Diskurstheorie, JuS 1997, 976-981.
I. Die Konsensustheorie der Wahrheit
Heute ist es üblich, die Möglichkeiten einer wertbewussten Wissenschaft (o. § 25 VII) mit anderem Vokabular und mit anderen Akzenten als Diskurstheorie zu formulieren. Ausgangspunkt ist eine Konsensustheorie der Wahrheit (o. § 13 V), wie sie von der sogenannten Erlanger Schule des Konstruktivismus (Kamlah, Lorenzen, Schwemmer) vorgeschlagen wird. Diese Schule – die nicht so radikal ist wie die in §16 III erwähnte Version des Konstruktivismus – arbeitet mit einer gedanklichen Rekonstruktion der natürlichen Sprache. Andeutungsweise haben wir darauf schon in unserem ersten sprachtheoretischen Exkurs (o. § 4) Bezug genommen.
»Wahr« und »falsch« sind Prädikatoren der Umgangssprache. Wie andere Prädikatoren auch können sie nicht durch Definition, sondern nur durch Beispiel und Gegenbeispiel eingeführt werden. Wenn man eine Reihe von einfachen Sätzen bildet (Heute regnet es. Gestern schien die Sonne. Dort stehen viele Menschen. Dieser Raum ist leer.), kann man sich in aller Regel schnell darüber einigen, ob diese Sätze den Prädikator »wahr« oder »falsch« verdienen. Nachdem ein Prädikator aber einmal derart eingeführt worden ist, oder genauer, nachdem er durch implizite oder explizite Vereinbarung zum Element einer Sprache wurde, sind die Sprecher nicht länger frei, diesen Prädikator einem Gegenstand einmal zuzusprechen und denselben Gegenstand ein anderes Mal anders zu bezeichnen. Konsistenz in der Verwendung von Prädikatoren ist eine Grundregel vernünftigen Redens.
Da bei der Beurteilung der Wahrheit von Sätzen auf das Urteil anderer Bezug genommen wird, die mit uns dieselbe Sprache sprechen, nennen Kamlah/Lorenzen dieses Verfahren interpersonale Verifizierung. Um wahre von falschen Sätzen zu unterscheiden, nimmt diese Theorie also Bezug auf die Beurteilung anderer, und zwar auf das Urteil aller anderen, mit denen der Sprecher je ein Gespräch aufnehmen könnte. Bedingung für die Wahrheit ist deren potenzielle Zustimmung. Wichtig ist die Reihenfolge: Wahrheit ist nicht etwas Vorfindliches, das jeder anerkennen müsste, sondern erst die Anerkennung ist das Kriterium der Wahrheit.
Man wird einwenden: Ist nicht für empirische Aussagen der ganze Aufwand überflüssig? Kann man nicht einen Konsens über die Wahrheit oder Falschheit von solchen Aussagen geradezu erzwingen? In der Tat wäre es vielfach töricht oder naiv, empirische Aussagen zu bestreiten. Oft kann man sich sogar auf einen einzigen Beobachter verlassen. Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass überall dort, wo die fünf Sinne bei der Bestätigung einer Aussage mitwirken, die Chance für einen Konsens unvergleichlich viel größer ist als bei nichtempirischen Sätzen. Und doch, es gibt ihn, den Konsens über normative Sätze. Es besteht Konsens darüber, dass Mord und Vergewaltigung bestraft werden müssen. Ganz allgemein ist die Ansicht verbreitet, dass niemand als Richter in eigener Sache tätig werden darf. Tagtäglich sind sich Millionen Menschen einig, dass Fahrpreise, Kaufpreise, Mieten usw. zu zahlen sind. Konsens herrscht auch darüber, dass Voraussetzung für ein »gerechtes« Werturteil die richtige Erfassung des Sachverhalts ist, dass also Tatsachenwahrheit Voraussetzung der Gerechtigkeit ist. Dass man in der Praxis Tatsachenwahrheit oft nicht erreichen kann und sich daher mit weniger zufrieden geben muss, ändert nichts an dieser prinzipiellen Annahme, dass ein Urteil, das auf Tatsachenwahrheit beruht, besser ist als ein solches, das von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgeht. Wenn man berücksichtigt, dass heute auch die Naturwissenschaft zu Sachverhalten von solcher Komplexität vordringt, dass das prinzipiell für möglich gehaltene Wahrheitsurteil oft nur noch in grober Annäherung erreicht wird, dann wird man sagen können, dass die interpersonale Verifizierbarkeit von empirischen Aussagen und normativen Sätzen letztlich nur graduell verschieden ist.
Wenn man sich schon für empirische Aussagen mit einer relativen, letztlich auf Konsens beruhenden Wahrheit zufriedengeben muss, so liegt es nahe, Konsens auch als Geltungsgrund für normative Sätze zu akzeptieren. Diesen Gedanken von Karl-Otto Apel hat Jürgen Habermas zu einer Diskurstheorie der Normbegründung ausgebaut und im Anschluss daran hat Robert Alexy eine viel beachtete Theorie der juristischen Argumentation entworfen. Freilich ist es nicht der Konsens als solcher, sondern ein begründeter Konsens, der die Wahrheit – oder besser nur die Gültigkeit – normativer Positionen begründet.