§ 43 Rechtsgut und Wert

I. Kollektive Güter als Rechtsgut

II. Werte

III. Vom bonum commune zum Gemeinwohl

IV. Die Abwägung von Zwecken mit Hilfe von Werten

V. Interessenkonflikt und Wertkonflikt

Literatur: Vilhelm Aubert, Competition and Dissensus: Two Types of Conflict and of Conflict Resolution,  Journal of Conflict Resolution 7, 1963, 26-42 (deutsch als: Interessenkonflikt und Wertkonflikt. Zwei Typen des Konflikts und der Konfliktlösung, in: Walter L. Bühl, Konflikt und Konfliktstrategie, 2. Aufl. 1973, 178-205); Alexander Bogner, Die Ethisierung von Technikkonflikten, 2011 (dort S. 47-82); Hauke-Hendrik Kutscher, Politisierung oder Verrechtlichung? Der Streit um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland (1921-1958), 2016; Thomas Meyer, Was ist Politik?, 2. Aufl. 2003; Chantal Mouffe, On the Political, 2005; Carl Schmitt, Begriff des Politischen, Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 58, 1932, 1-33; Ulrich Willems, Wertkonflikte als Herausforderung der Demokratie, 2016.

Was in den vorhergehenden Abschnitten über den Umgang mit Werten und das Verhältnis von Werten und Interessen gesagt wurde, gilt nur, wenn Philosophen oder Juristen die Werte aus der Vogelperspektive ordnen. Auf dem Boden der Tatsachen stehen sich jedoch meistens Beteiligte nicht nur mit konfligierenden Interessen, sondern auch mit unterschiedlichen Wertvorstellungen gegenüber. Ihre Konflikte entfalten eine unterschiedliche Dynamik je nachdem, ob die Beteiligten ihren Streit als Interessenkonflikt oder als Wertkonflikt wahrnehmen und thematisieren. Das hat 1963 der norwegische Soziologe Vilhelm Aubert aufgezeigt.

Als Interessenkonflikt (competition) bezeichnet Aubert den Streit, der der Knappheit des begehrten Objekts entspringt. Der Konflikt nimmt seinen Ausgang paradoxerweise von einem Konsens, nämlich von der gemeinsamen Wertschätzung sozialer Objekte, um die man streitet. Es kann sich um Geld handeln oder um Ware, aber ebenso um einen Sexualpartner oder um soziale Positionen, die Macht und Ansehen verleihen. Man streitet also um die Verteilung knapper Güter.

Nicht alle Konflikte lassen sich als Verteilungskonflikte beschreiben. Oft steht eine Meinungsverschiedenheit über Tatsachen, Normen oder Werte im Vordergrund. So streitet man z. B. darüber, ob eine Schwangerschaftsunterbrechung als Mord des ungeborenen Kindes oder als Selbstbestimmung der Frau anzusehen ist, ob eine Unterschrift gefälscht ist oder ob ein Rechtssatz bestimmten Inhalts Geltung beanspruchen kann. Alle drei Konflikte werden von Aubert einheitlich als dissensus behandelt. Die drei Fälle haben gemeinsam, dass die konfligierenden Lösungen mit einem im Prinzip absoluten Richtigkeitsanspruch vertreten werden. Wissenskonflikte und Rechtskonflikte liegen allerdings insofern anders als Wertkonflikte im engeren Sinne, als hier spezifische Verfahren zur Entscheidung des Dissenses zur Verfügung stehen, nämlich bei Wissenskonflikten wissenschaftlich gestützte empirische Methoden und für den Rechtsstreit die richterliche Entscheidung. Wertkonflikte werden in der Demokratie grundsätzlich durch Mehrheitsentscheidungen gelöst. Wenn allerdings diese Verfahren versagen, kommt der Dissenscharakter wieder zum Vorschein.

Die Beziehung zwischen Interessenkonflikten und Wertkonflikten ist vielschichtig. Jeder wird zugeben, dass Meinungen von Interessen beeinflusst werden können. Umgekehrt werden Meinungen vorgebracht, um damit Interessen durchzusetzen oder zurückzuweisen. So geschieht es auch im Rechtsstreit. Es ist ein Problem, ob es überhaupt reine Wertkonflikte geben kann oder ob letztlich jeder Wertkonflikt auf einen Interessenkonflikt zurückgeht, wie es manche behaupten. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass jedenfalls im Bewusstsein der Menschen die Vorstellungen von Werten nicht immer unmittelbar mit Interessen verknüpft sind.

Die Bedingungen für die Lösung von Interessenkonflikten und Wertkonflikten sind verschieden. Viele Interessenkonflikte lassen sich als Gewinnspiel beschreiben. Die Logik der Situation ermöglicht den Parteien eine Einigung. Das gilt besonders für Interessenkonflikte in wirtschaftlichen Beziehungen. Sie werden gewöhnlich durch den Ausgleich von Angebot und Nachfrage reibungslos eliminiert. Jeder versucht, einen Verlust zu vermeiden und geht deshalb Kompromisse ein, z. B. weil es vorteilhafter ist, Ware zu bezahlen als gar keine zu erhalten und umgekehrt. Die typische Lösung erfolgt daher durch eine Verhandlung und endet oft in der juristischen Form des Vertrages oder spezieller des Vergleichs. Soweit der Markt funktioniert, braucht der Kompromiss nicht einmal ausgehandelt zu werden.

Es gibt allerdings Situationen, in denen ein Kompromiss scheitert, weil eine Partei den Konflikt einseitig für sich entscheiden kann. Der Stärkere kann sich mit Gewalt nehmen, was der Schwächere ihm verweigert. Weniger krass liegt es, wenn die zum Kompromiss führende Verhandlung durch eine Ungleichheit der Parteien so beeinflusst wird, dass ein Teil die Bedingungen des Austausches für ungerecht hält. Für beide Fälle versucht das Recht im Verein mit anderen sozialen Normen mehr oder weniger erfolgreich eine einseitige Lösung des Konflikts zu verhindern. Diese Konstellationen bleiben hier außer Betracht, um die typische Dynamik von Interessenkonflikten herauszustellen.

Schwierig wird die Lösung eines Interessenkonflikts, wenn er den Charakter eines Nullsummenspiels annimmt. Konflikte von dieser Art ergeben sich häufig dann, wenn im Zuge der Abwicklung von Tauschgeschäften eine Seite enttäuscht wird, wenn z. B. das gekaufte Auto vor der Übergabe gestohlen wird oder bald danach zusammenbricht. Dann erscheint der Streit um den Schaden, jedenfalls auf den ersten Blick, als Nullsummenspiel. Es gibt keinen Verhandlungsspielraum und keine konsensfähige Lösung. Eine Veränderung des status quo ist nur mit Hilfe situationsfremder Nötigung zu erreichen, die die Gestalt internalisierter oder durch Drohung mobilisierter Normen annehmen kann.

Man darf allerdings bei Problemen dieser Art die Situation nicht voreilig als Nullsummenspiel interpretieren. Es hat eine Reihe von Untersuchungen gegeben, die mit sichtlicher Überraschung feststellen, dass jedenfalls innerhalb der Wirtschaft die große Mehrzahl auch ernsthafter Leistungsstörungen ohne Rechts- und Gerichtshilfe bereinigt wird. Diese Beobachtung ist damit zu erklären, dass sich die Situation, spieltheoretisch betrachtet, nicht auf einen punktuellen Austausch beschränkt, sondern in eine Geschäftsverbindung eingebunden ist, die, ähnlich einem Arbeits- oder Mietverhältnis, als solche einen Wert darstellt und die Beteiligten zu einer langfristigen Kalkulation des Kooperationsgewinns veranlasst. Viele Konflikte, die als komplex eingeordnet werden, weil es zwischen den Parteien eine Vielzahl von Beziehungen gibt, lassen sich spieltheoretisch in ähnlicher Weise als Verhandlungsspiel deuten.

Wertkonflikte müssen nicht unbedingt zum Streit führen, denn als bloße Vorstellungen in den Köpfen von Menschen können unterschiedliche Meinungen nebeneinander bestehen. Wo der Gegensatz zur Sprache kommt, kann man sich aus dem Wege gehen. Häufig zeigen sich Wertkonflikte als Kulturkonflikte zwischen Gruppen mit unterschiedlichen moralischen oder religiösen Orientierungen. Auch daraus müssen nicht zwangsläufig schwerwiegende Probleme erwachsen. Soweit man nicht auf Distanz bleiben kann, helfen Normen der Liberalität oder Toleranz, einen Streit zu vermeiden. Tatsächlich versagen sie jedoch nicht selten. Dann führt die »Tyrannei der Werte« zu besonders aggressivem Konfliktverhalten. Ein Grund dafür liegt wohl darin, dass die Parteien sich als Vertreter überindividueller Ansprüche verstehen, die von den Normen persönlicher Zurückhaltung befreit sind.

Auch ein Wertkonflikt kann grundsätzlich friedlich beigelegt werden. Es kommt vor, dass einer den anderen überzeugt. Kompromisse sind nicht ausgeschlossen. Besonders alltagsnahe Normen und Wertvorstellungen sind sehr flexibel. Das gilt auch für unterschiedliche Rechtsmeinungen. Aber meistens sind die Bedingungen für eine Kompromisslösung ungünstiger als beim Interessenkonflikt. Für einen Sonderfall des Wertkonflikts, nämlich für den Streit um die Wahrheit von Tatsachen, liegt der Grund dafür auf der Hand. Die Wahrheit ist ungeteilt und duldet keinen Kompromiss. Aber auch Normen und Werte werden oft mit einem wahrheitsähnlichen Absolutheitsanspruch vertreten. Darüber, ob man an Gott glauben soll, ob die Todesstrafe gerechtfertigt ist oder ob ein sozialistisches System der Marktwirtschaft vorzuziehen ist, kann man sich kaum einigen. Deshalb haftet Wertkompromissen ebenso wie Kompromissen über Tatsachen der Geruch des Unerlaubten an. Auch die Tauschbedingungen sind unsicher, denn es fehlt an einem Maßstab für die vergleichende Bewertung gegenseitigen Nachgebens.

Ein Beobachter erkennt in vielen Konflikten sowohl Züge eines Interessenkonflikts als auch eines Wertkonflikts. Für den Konfliktverlauf kommt es jedoch auf die Sicht der Parteien an, die den Streit in der einen oder anderen Weise wahrnehmen und thematisieren. Ein Konflikt kann in verschiedenen Phasen als Interessenkonflikt, als Wertkonflikt oder als gemischter Konflikt ausgetragen werden. Das zeigt sich in der Politik. Mit Thomas Meyer (S. 41) kann man zunächst zwei Züge der Politik hervorheben. Politisches Handeln hat das Ziel, für alle bindende Entscheidungen zu treffen. Aber die Entscheidungen sind zunächst inhaltsoffen, soweit die Akteure sich nicht selbst festgelegt haben. Die politischen Akteure verstehen sich als Repräsentanten sowohl von Interessen als auch von Werten. Sie tragen ihre Konflikte in erster Linie indirekt als Kampf um Anhänger und Ressourcen aus. Dabei werden alle Modi der Thematisierung verwendet.

Moderne Technikkonflikte haben einen ökonomischen oder Interessenaspekt, einen wissenschaftlichen oder Risikoaspekt und einen ethischen oder Wertaspekt. Das gilt – um nur die prominentesten Konfliktfelder zu nennen – für Atomtechnik, Gentechnik, den Umgang mit Embryonen oder für die Klimafolgen. Opportunistisch werden die Konflikte abwechselnd und gleichzeitig als Interessenkonflikte, als Wissenskonflikte oder als ethische thematisiert (Bogner). Die Rahmung eines Streits als Wertkonflikt führt zur Moralisierung mit der Folge, dass der jeweils Andersdenkende zum unmoralischen Feind werden kann, zu dessen Bekämpfung auch rechtlich sonst unzulässige Mittel eingesetzt werden. Solche Remoralisierung ist zu beobachten etwa Tierschützern, die in Ställe eindringen, oder bei Schülern, die während der Unterrichtszeit für den Klimaschutz protestieren.

Die aus der Zunahme kultureller Diversität folgenden Konflikte sind von vornherein stärker auf den Wertaspekt fokussiert, obwohl mit ihnen regelmäßig auch unterschiedliche Interessen einhergehen. Es gibt durchaus Bemühungen, auch solchen Konflikten durch wechselseitiges Kennenlernen einen Wissensaspekt abzugewinnen. Dennoch bleibt es dabei, dass Konflikte zwischen Gruppen mit unterschiedlichen moralischen oder religiösen Orientierungen leicht die typische Gestalt von Wertkonflikten annehmen. Der Dissenscharakter des Konflikts setzt Gefühle und Leidenschaften frei, die den Konflikt verschärfen. Aus Gegnern werden Feinde.

Die Kompromissfeindlichkeit von Wertkonflikten lässt sich auch als Inkommensurabilitätsproblem thematisieren. Schon bei der intersubjektiven Nutzenmessung gibt es ein Inkommensurabilitätsproblem (o. § 43 IIxxx). Der Nutzen ein und desselben Gutes kann für zwei Subjekte sehr verschieden sein. Auch beim Vergleich verschiedener Güter (Wasser oder Wein?) gibt es unterschiedliche Präferenzen. Immerhin gibt es zwischen den verschiedenen Gütern in der Regel keine direkte Rivalität. Präferenzen stellen sich als ein mehr oder weniger dar. Konflikte erweisen sich als Interessenkonflikte. Unterschiedliche Nutzenbewertungen ermöglichen Tauschgeschäfte. Das ist bei [abstrakten] Werten insofern anders, als Werte oft völlig unvergleichbar zu sein scheinen. Schon Individuen können ihre Werte intrasubjektiv Werte kaum in eine transitive Ordnung bringen können. Überindividuell erscheinen Werte oft schlechthin unvergleichbar. Daraus folgt die so genannte Inkommensurabilitätsproblem. Literatur: Ruth Chang, Incommensurability (and Incomparability), in: The International Enyclopedia of Ethics, 2013, 2591-2604; Ruth Chang, Value Incomparability and Incommensurability, The Oxford Handbook of Value Theory, 2015; 205,  Thomas Gutmann, Zur philosophischen Kritik des Rechtspaternalismus, in: Ulrich Schroth (Hg.), Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, 2006, 189-277, S. 229ff; Nien-hê Hsieh, Incommensurable Values, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2016; Geert-Lueke Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens, 1992; Joseph Raz, The Morality of Freedom, 1986; ders., Incommensurability and Agency, in: Ruth Chang (Hg.), Inconmensurability, Incomparability and Practical Reason, 1997, 110-128; Wikipedia, Artikel »Inkommensurabilität (Wissenschaftstheorie)«.

Im Alltag bleibt die Rahmung einer Auseinandersetzung als Wertkonflikt meistens unbewusst und wird jedenfalls kaum explizit gemacht. Dagegen nutzen politische Akteure, soziale Bewegungen und auch die Medien die Rahmung eines Themas strategisch. Politik verbindet verschiedene Modi der Konfliktaustragung und hat als solche keine Hemmungen, auch Wertkonflikte durch Kompromisse zu beenden, die in der Regel diskursiv vorbereitet und durch Mehrheitsentscheidung befestigt werden.

Das bedeutet nicht, dass Politik grundsätzlich rational und konsensorientiert wäre, wie es in der Debatte um eine deliberative Demokratie behauptet oder gefordert wird. Die Politik kann den Charakter eines Wertkonflikts nicht völlig abstreifen. Terrorismus und politischer Radikalismus tragen alle Züge eines Wertkonflikts. Kollektive Identitäten wie Nation und Religion stehen sich hier unversöhnlich als Werte gegenüber. Zwar wirkt offener Kampf bis hin zu Krieg und Revolution nur als ultima ratio im Hintergrund. Dennoch bleibt Politik auf Aushandlung angelegt. Als Akteure sind in erster Linie politische Parteien, Parlamente und Regierungen involviert. Sie sind stets auf der Suche nach gesellschaftlicher Unterstützung, und nicht selten werden sie auch aus der Mitte der Gesellschaft angetrieben. Politisierung bedeutet also, dass der Ausgang des Konflikts zunächst offen ist, dass sich Konfliktparteien bilden, die für unterschiedliche Lösungen kämpfen und dafür um Anhänger werben und dass am Ende in der Regel eine von der Mehrheit beschlossene Entscheidung steht, die von der Minderheit mehr der weniger hingenommen wird.

Von Verrechtlichung ist die Rede, wenn die Lösung von Konflikten der Justiz als dritter Kraft übertragen ist. Verrechtlichung gibt es im Kleinen und im Großen. Im Kleinen findet Verrechtlichung statt, wenn ein Streit nicht durch Verhandlungen, sondern vor Gericht ausgetragen wird. Im Großen werden politische Fragen zu rechtlichen, indem die Antwort in der Verfassung gesucht wird. (Verrechtlichung hat noch eine weitere Bedeutung als Kritik der Überformung der Lebenswelt durch Recht; u. § 84 IV).